VG Köln, Urteil vom 12.10.2015 - 23 K 1035/14.A
Fundstelle
openJur 2015, 20293
  • Rkr:
Tenor

Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 5. Februar 2014 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist nach eigenen Angaben pakistanischer Staatsangehöriger, verheiratet, Vater zweier Kinder, Angehöriger der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya und stammt aus Rabwah.

Am 24. März 2012 reiste er mit dem Flugzeug von Lahore nach Frankfurt am Main, wo er am 25. März 2012 ankam. Am 26. März 2012 beantragte der Kläger bei der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) in Gießen seine Anerkennung als Asylberechtigter. Ausweispapiere konnte der Kläger nicht vorliegen.

Im Rahmen des Asylverfahrens legte der Kläger gegenüber dem Bundesamt eine Bescheinigung der Ahmadiyya Muslim Jamaat e.V. vom 8. Mai 2012 über seine Mitgliedschaft sowie ein als "Testament" bezeichnetes Schriftstück vor, mit dem er seine Gemeinde als Erbe einsetzte.

Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt am 24. April 2012 gab er unter anderem an, der Großteil seiner Familie, insbesondere seine Frau und seine Kinder, lebten noch in Rabwah. Er sei bis zur zehnten Klasse in die Schule gegangen, habe aber keinen Schulabschluss erworben. Wie sein Vater sei auch er im Baugewerbe als Maurer tätig; seit einigen Jahren sei er selbstständig. Seit fünf oder sechs Jahren sei er Zaim ihrer Gemeinde in Rabwah und damit zuständig für die 15-40 -jährigen Männer. Nachdem er eine Zeit in Faisalabad gearbeitet habe, sei er nach den Vorfällen vom 28. Mai 2010 in Lahore nach Rabwah zurückgekehrt. Der Präsident ihrer Gemeinde habe ihn gebeten, den Sicherheitsdienst ihrer Gemeinde zu leiten. Zu ihrer Gemeinde gehörten 200 Häuser und die Siedlung habe unmittelbar an die Muslim Colony angegrenzt, in der vorwiegend Leute der Khatame-Nabuwat gewohnt hätten. Er habe selber auch mit der Waffe in der Hand vor ihrer Moschee Wache gestanden. Die Leute aus der Muslim Colony hätten ihn dort gesehen und beschimpft. Für seine Tätigkeit als Maurer habe er die notwendigen Materialien meist in Chiniot gekauft. Auf dem Weg dorthin und auf dem Rückweg habe er immer durch den Stadtteil Muslim Colony fahren müssen. An einem Abend im Januar 2012 auf dem Rückweg sei er an einer Kreuzung in diesem Stadtteil, an der man sehr langsam fahren müsse, weil man nach dem links abbiegen eine Brücke überqueren müsse, von 5-6 Jugendlichen vom Motorrad gezogen worden. Diese hätten ihn dann schwer geschlagen. Zum Glück seien dort jedoch noch andere Passanten gewesen, die dazwischen gegangen seien. Seit diesem Vorfall habe er jedoch Rückenschmerzen, wenn er tief Luft hole. Danach habe seine Familie ihm geraten, das Haus nicht mehr zu verlassen. Dies sei ihm sehr schwer gefallen, weil er ein Mensch sei, der immer viel mit Anderen Kontakt habe und immer unterwegs sei. Für kurze Zeit sei er auch zum Bruder seiner Frau gezogen; dies sei in ihrer Kultur allerdings unüblich. Danach habe ihn der Präsident der Gemeinde besucht und ihn aufgefordert, wieder den Sicherheitsdienst zu leiten. Dadurch, dass er jetzt nur noch zuhause sei, seien auch die anderen Sicherheitsleute demotiviert. Am 7. März 2012 sei der Cousin seiner Frau in Nawabshah umgebracht worden. Dieser habe dort Medikamente verkauft und wohl schon öfter Drohanrufe bekommen. Diese Anrufe habe er aber wohl nicht ernst genommen. Er selber bekomme auch Drohanrufe; das sei ja schon fast normal. Der Cousin, der umgebracht worden sei, sei in Rabwah beerdigt worden. Auf der Beerdigung sei auch sein Neffe gewesen, mit dem er gemeinsam ausgereist sei. Dieser Neffe habe sein Handy nicht mit zur Beerdigung genommen, weil der Akku leer gewesen sei. Das Handy sei im Haus seiner Familie in Rabwah geblieben. Während der Beerdigung habe irgend ein Moslem auf dem Handy angerufen. Seine Schwester habe den Anruf entgegengenommen und gehört, wie der Anrufer gesagt habe, sie hätten einen von ihnen umgebracht und jetzt seien er - damit sei der Neffe gemeint gewesen - und der Onkel - damit sei er selber gemeint gewesen - dran. Nach der Beerdigung habe er auf seinem eigenen Handy einen Anruf bekommen, bei dem der Anrufer ihm gesagt habe, er solle nicht weiter für die Gemeinde arbeiten, sonst würde er umgebracht werden. Auf Rat des Präsidenten ihrer Gemeinde sei er zur Polizei gegangen, um dies zur Anzeige zu bringen; die Polizisten hätten die Anzeige aber nicht aufgenommen. Daraufhin habe seine Familie beschlossen, dass sein Neffe und er das Land verlassen müssten. Er habe auch nicht an einen anderen Ort in Pakistan gehen können. Eigentlich sei Rabwah der Ort, in dem die meisten Mitglieder seiner Religionsgemeinschaft leben und wo es für sie einigermaßen sicher sei. In anderen Orten lebten nur wenige Ahmadiyya. Wenn Sie einen einmal im Visier hätten, würden Sie einen überall suchen und auch finden.

Mit Bescheid vom 5. Februar 2014 - zur Post gegeben am 11. Februar 2014 - erkannte die Beklagte die Flüchtlingseigenschaft nicht zu, lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab, erkannte den subsidiären Schutzes nicht zu, stellte fest, das Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen, forderte den Kläger zur Ausreise aus der Bundesrepublik auf und drohte ihm die Abschiebung nach Pakistan an. Zur Begründung führte die Beklagte unter anderem aus, der Kläger habe sich in seinem Vortrag auf unsubstantiierte, allgemeine Darlegungen beschränkt. Konkrete Einzelheiten seines individuellen Verfolgungsschicksals habe er nicht vorgetragen. Vielmehr sei sein Vortrag gänzlich stereotyp und so wenig anschaulich, dass er nicht den Schluss zulasse, der Kläger habe von tatsächlich Erlebtem berichtet.

Am 21. Februar 2014 hat der Kläger Klage erhoben. Er nimmt Bezug auf seine Angaben aus der Anhörung durch das Bundesamt und trägt ergänzend vor, schon als Mitglied der Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya drohe ihm für den Fall der Rückkehr nach Pakistan eine asyl- und flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung. Ferner sei zu berücksichtigen, dass es sich bei ihm um eine religiös geprägte Persönlichkeit handele. Bereits in Pakistan habe er guten Kontakt zur Gemeinde gepflegt und sei Leiter der örtlichen Jugendorganisation gewesen. Auch in Deutschland besuchte regelmäßig die Moschee zum Gebet und nehme an den örtlichen sowie den zentralen Gemeindeveranstaltungen regelmäßig Teil. Insbesondere sei zu berücksichtigen, dass er ein Moosi sei. Damit gehöre er einer Sondergruppe innerhalb der Ahmadiyya-Gemeinde an, die sich durch eine entsprechende Bindungserklärung zu einer ganz besonders strengen, regelkonformen Lebensführung in religiöser und persönlicher Hinsicht verpflichtet habe. Zudem zahlten die Mitglieder dieser Sondergruppe einen doppelt so hohen Mitgliedsbeitrag und hätten einen Teil ihres Vermögens für den Todesfall testamentarisch der Ahmadiyya Gemeinschaft vermacht. Innerhalb dieser Gruppe sei er inzwischen Amtsinhaber und zwar sei er Sekretär für die Sondergruppe X. in seiner lokalen Gemeinde. Zudem sei er Leiter für die religiöse Bildung und Erziehung in der örtlichen Jugendorganisation. Darüber hinaus legt der Kläger eine Reihe von Unterlagen zum Beleg seiner religiösen Aktivitäten vor. Zum Beleg seiner Identität legt der Kläger eine beglaubigte Ausfertigung einer Geburtsurkunde und die Ablichtung eines "Family Registration Certificate" (jeweils in Kopie) vor.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 5. Februar 2014 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ihm den subsidiären Schutz zu zuerkennen und festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie nimmt Bezug auf den angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.

Gründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagte in der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, weil in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass auch in diesem Fall verhandelt und entschieden werden wird (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 Abs. 4 AsylVfG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Die - vorliegend relevante - Religionsausübung umfasst dabei nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG die Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen sowie alle sonstigen religiösen Betätigungen, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Verfolgungshandlungen sind insbesondere die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt sowie gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 und 2 AsylVfG). Als Akteure, von denen eine Verfolgung ausgeht, kommen der Staat, Parteien und Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen oder auch nichtstaatliche Akteure in Betrachte, sofern der Staat oder die zuvor beschriebenen Parteien und Organisationen - einschließlich internationaler Organisationen - erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.

Der hier allein in Betracht kommende Verfolgungsgrund der Religion bezeichnet Überzeugungen, die der Einzelne von der Stellung des Menschen in der Welt, seiner Herkunft, seinem Ziel, seinem Sinn und seiner Identität sowie von seinen Beziehungen zu höheren Mächten und tieferen Seinsschichten hat. Diese Überzeugungen können positiver oder negativer Natur sein; von den offiziellen Lehren religiöser Vereinigungen können sie abweichen.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. April 1972 - 2 BvR 75/71 -; BVerwG, Urteil vom 27. März 1992 - 7 C 21/90 -, juris, Rz. 23; BayVGH, Beschluss vom 29. Oktober 2002 - 8 CE 02.2663 -, juris, Rz. 17 jeweils zu Art. 4 GG; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl., Art. 4, Rz. 11; Hofmann, in: Schmidt/Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl., Art. 4, Rz. 4.

Zu den Handlungen, die eine schwerwiegende Verletzung der Religion darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit, seinen Glauben im privaten Kreis zu praktizieren, sondern auch solche in die Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben.

Vgl. EuGH, Urteil vom 5. September.2012 - verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 -, juris, Rz. 49 ff.; BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -; OVG NRW, Urteile vom 7. November 2012 - 13 A 1999/07.A - und vom 14. Dezember 2010 - 19 A 2999/06.A -; OVG Saarland, Urteil vom 26. Juni 2007 - 1 A 222/07 -; BayVGH, Urteil vom 23.10.2007 - 14 B 06.30315 -; OVG Thüringen, Urteil vom 3. April 2008 - A 2 B 36/06 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20. Mai 2008 - A 10 S 72/08 -.

Gleichwohl stellt nicht jeder Eingriff in die so verstandene Religionsfreiheit bereits eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylVfG dar. Maßgeblich sind die Art der Repressionen, denen der Betroffene ausgesetzt ist, und deren Folgen. Das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, kann eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylVfG darstellen, wenn der Betroffene in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Bei der Prüfung einer solchen Gefahr sind objektive und subjektive Umstände zu berücksichtigen. Dazu gehört auch der subjektive Umstand, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität persönlich besonders wichtig ist, selbst wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis keinen zentralen Bestandteil für die betreffende Glaubensgemeinschaft darstellt.

Vgl. EuGH, Urteil vom 5. September 2012 - verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 -, juris, Rz. 58 ff.; OVG NRW, Urteil vom 7. November 2012 - 13 A 1999/07.A -, juris, Rz. 31.

Die Flüchtlingsanerkennung setzt schließlich voraus, dass eine Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und dem Verfolgungsgrund der Religion besteht § 3a Abs. 3 AsylVfG). Das ist der Fall, wenn die die Religionsausübung einschränkenden Maßnahmen wegen der Religion des Schutzsuchenden erfolgen.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 14. Dezember 2010 - 19 A 2999/06.A -, juris, Rz. 49.

Für die Frage der Verfolgungswahrscheinlichkeit im Falle der Rückkehr in den Heimatstaat ist in den Fällen, in denen der um Flüchtlingsschutz Nachsuchende vorverfolgt aus seinem Heimatland ausgereist ist - wie auch bei der Frage des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylVfG -, der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Erforderlich ist eine Gefährdung, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Betroffene für seine Person ohne Weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt rechnen muss. Bei einer Vorverfolgung greift insoweit die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 QualfRL: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 7. September 2010 - 10 C 11.09 -, juris, Rz. 14 f. und vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, juris, Rz. 23; OVG NRW, Urteile vom 17. August 2010 - 8 A 4063/06.A -, juris, Rz. 35 ff. und vom 7. November 2012 - 13 A 1999/07.A, juris, Rz. 33.

Aus den in § 15 AsylVfG geregelten Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Schutzsuchenden folgt, dass es seine Sache ist, unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Betroffene zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Bildungsstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. August 2010 - 8 A 4063/06.A -, juris, Rz. 33 ff.

Kann der Betroffene nicht glaubhaft machen, dass er im Heimatland wegen seiner Religion verfolgt oder unmittelbar mit Verfolgung bedroht worden ist, so ist zu beurteilen, ob die festgestellten Umstände eine solche Bedrohung darstellen, dass er in Anbetracht seiner individuellen Lage begründete Furcht haben kann, tatsächlich Verfolgungshandlungen zu erleiden. Diese Beurteilung beruht ausschließlich auf einer konkreten Bewertung der Ereignisse und Umstände dahingehend, ob aufgrund der konkreten Lebensführung des Betroffenen davon auszugehen ist, dass für sein persönliches Verständnis die öffentlich wahrnehmbare Glaubensbetätigung wesentlich ist und dass er deshalb nach Rückkehr in sein Herkunftsland in einer Art und Weise seinen Glauben leben wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen wird. Hinsichtlich der Religionsfreiheit ist dabei zu beachten, dass einem Schutzsuchenden, der von Geburt an einer bestimmten Religionsgemeinschaft angehört und seinen Glauben in der Vergangenheit praktiziert hat, nicht ohne konkrete Anhaltspunkte unterstellt werden kann, dass er seinen Glauben im Heimatstaat nicht praktizieren wird. Dass er die Verfolgungsgefahr durch Verzicht auf bestimmte religiöse Betätigungen und damit auf den Schutz, den ihm die Richtlinie mit der Anerkennung als Flüchtling garantieren soll, vermeiden könnte, ist grundsätzlich irrelevant.

Vgl. EuGH, Urteil vom 5. September 2012 - verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 -, juris, Rz. 70 ff.; OVG NRW, Urteil vom 14. Dezember 2010 - 19 A 2999/06.A -, juris, Rz. 131 und Urteil vom 7. November 2012 - 13 A 1999/07.A -, juris, Rz. 33 ff.

Ausgehend hiervon ist der Kläger zur Überzeugung des Gerichts nicht vorverfolgt aus Pakistan ausgereist. Dem Kläger können seine Erklärungen zu den Vorfluchtgründen schon deshalb nicht geglaubt werden, weil das Vorbringen klar gesteigert ist. Im Rahmen der Anhörung durch das Bundesamt hatte sich der Kläger im Wesentlichen auf die allgemeinen Schwierigkeiten als Angehöriger der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya in Pakistan und vor allem auf einen Vorfall, bei dem er verprügelt worden sein will, berufen. Hiervon abweichend hat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass es nach dem ersten Vorfall ein zweites Ereignis gegeben habe, bei dem er verprügelt worden sei. Außerdem sei auch die Tötung eines ihm bekannten Lehrers (Abdul Qudus) maßgeblicher Grund für seine Ausreise gewesen. Erst auf weitere Nachfragen nach Abdul Qudus erkannte der Kläger, dass dieser erst nach seiner Ausreise getötet wurde. Hierauf veränderte er sein Vorbringen erneut und erklärte, maßgeblich für seine Entscheidung zur Ausreise seien die beiden Vorfälle, bei denen er verprügelt worden sei, und die Tötung des Cousins seiner Ehefrau gewesen. Auch auf Vorhalt konnte der Kläger nicht überzeugend erklären, weshalb er den zweiten Übergriff gegen ihn beim Bundesamt nicht erwähnt hat. Die Angabe, er sei damals nicht so schlimm wie beim ersten Mal verprügelt worden, deshalb habe er diesem Vorfall beim Bundesamt nicht erwähnt, überzeugt schon deshalb nicht, weil er im Rahmen der mündlichen Verhandlung mehrfach wiederholt hat, auch dieser zweite Übergriff sei maßgeblich für seine Entscheidung gewesen, Pakistan zu verlassen. Angesichts dieser behaupteten Bedeutung des Vorfalls ist in keiner Weise nachvollziehbar, weshalb der Kläger diesen bei der Anhörung durch das Bundesamt nicht erwähnt hat. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Kläger durch ein "Anreichern" seines Vorbringens um einen zweiten Übergriff und die Tötung von Abdul Qudus suggerieren wollte, dass der Ausreisedruck höher war, als das Bundesamt es angenommen hat.

Allerdings muss der Kläger mit Blick auf seine Religionsausübung für den Fall einer Rückkehr nach Pakistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten, dass ihm eine religiös motivierte Verfolgung droht.

Es ist davon auszugehen, dass Mitglieder der "Ahmadiyya Muslim Jamaat", die ihren Glauben öffentlich wahrnehmbar leben, in Pakistan einer aktuellen Gefahr der Verfolgung wegen ihrer Religionsangehörigkeit ausgesetzt sind.

So auch OVG NRW, Urteil vom 14. Dezember 2010 - 19 A 2999/06.A -, juris, Rz. 56; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Juni 2013 - A 11 S 757/13 -.

Der Kläger hat das Gericht nach seinem persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung davon überzeugen können, dass es zu seiner religiösen Identität gehört, seinen Glauben öffentlich bemerkbar zu leben.

Der Kläger, der insgesamt den Eindruck eines gläubigen Menschen vermittelte, hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung überzeugend geschildert, auf welche Art und Weise er als Kind in die Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya hineingewachsen ist. Ferner hat er von sich aus und ohne, dass hiernach ausdrücklich gefragt werden musste, über die verschiedenen Funktionen berichtet, die er vor seiner Ausreise in seiner Heimatgemeinde inne hatte. Die damit bereits im Heimatland erkennbar nach außen betätigte religiöse Überzeugung besteht hier in Deutschland weiter. Auch hier setzt sich der Kläger aktiv in und für seine Religionsgemeinschaft ein. Besonders überzeugend war, dass der Kläger keinen Zweifel daran ließ, dass er für den Fall der Rückkehr nach Pakistan die Arbeit für seine Gemeinde in öffentlich wahrnehmbare Art und Weise fortsetzen würde. Für diesen Fall ging er zwar davon aus, dass er getötet werden würde, dies änderte für ihn jedoch nichts daran, dass er seine Aufgaben in der Religionsgemeinschaft weiter wahrnimmt. Dies zeigt deutlich, dass es dem Kläger ein inneres Anliegen ist, öffentlich bemerkbar und wirksam für seinen Glauben einzustehen. Angesichts der langjährigen und tiefgreifenden Verwurzelung in seinem Glauben ist diese Haltung für das Gericht gut nachvollziehbar.

Vor dem Hintergrund, dass dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, kommt es auf die weiteren Fragen, ob die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes und der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen, nicht mehr an. Die auf § 34 Abs. 1, § 38 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 59 Abs. 1 - 3 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung war aufzuheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 83 b AsylVfG.

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