LAG Hamm, Urteil vom 07.08.2015 - 13 Sa 166/15
Fundstelle
openJur 2015, 19925
  • Rkr:
Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Teilurteil des Arbeitsgerichts Hagen vom 15.01.2015 – 4 Ca 1219/14 – wird zurückgewiesen.

Der hilfsweise gestellte Antrag des Beklagten, gerichtet auf die Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer angemessenen Abfindung, wird abgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten zweitinstanzlich um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung. Der Kläger begehrt seine Weiterbeschäftigung, hilfsweise die Verschaffung eines anderen Arbeitsverhältnisses, während der Beklagte hilfsweise die Auflösung des Arbeitsverhältnisses verlangt.

Der am 14.11.1947 geborene, verheiratete Kläger trat mit Wirkung ab 02.01.1981 in ein Arbeitsverhältnis zum Beklagten bzw. seines Rechtsvorgängers, und zwar als juristischer Mitarbeiter zu einem monatlichen Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von zuletzt 8.542,50 € auf der Basis eines schriftlichen Arbeitsvertrages vom 29.06.2012, auf dessen Inhalt als Anlage zum Sitzungsprotokoll vom 07.08.2015 Bezug genommen wird (Bl. 1035 ff. d. A.). Im Jahre 1993 wurde ihm vom damaligen Vorstand die Bezeichnung "stellvertretender Geschäftsführer der Abteilung Arbeitsrecht des Verbandes" verliehen, wobei es sich nach Mitteilung des Arbeitgebers gemäß Schreiben vom 31.03.2008 um keine "Funktionsbeschreibung als Arbeitnehmer" gehandelt hat, sondern um eine "rein vereinsrechtliche Bezeichnung" ohne Rechtsanspruch.

Der Kläger kam beim beklagten A, in dessen zwei Geschäftsstellen insgesamt ca. 25 Arbeitnehmer tätig sind, durchgehend in der Geschäftsstelle H zum Einsatz - neben dem weiteren juristischen Mitarbeiter D, während die anderen vier juristischen Mitarbeiter A, C, W und F in I tätig sind.

Für die neben dem Kläger insgesamt fünf juristischen Mitarbeiter der juristischen Abteilung ergeben sich folgende Sozialdaten:

- A, geb. am 20.02.1974, tätig seit 01.02.2001, verheiratet, ein Kind;

- C, geb. am 30.09.1957, tätig seit 12.09.1990, verheiratet, zwei Kinder;

- W, geb. am 16.02.1968, tätig seit 01.04.1998, verheiratet, zwei Kinder;

- D, geb. am 24.05.1965, tätig seit 01.05.1999, verheiratet, zwei Kinder;

- F, geb. am 21.07.1979, tätig seit 01.09.2007, verheiratet, ein Kind.

Nach ergebnislos gebliebenen Gesprächen der Parteien über eine einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses sprach der Beklagte dem Kläger während dessen Urlaubsabwesenheit mit Schreiben vom 23.05.2014, zugegangen am 23.05.2014, die streitbefangene betriebsbedingte Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.12.2014 aus (Bl. 10 d. A.).

Zwischenzeitlich wurde mit Schreiben vom 30.04.2015 "höchst vorsorglich" eine zweite auf dringende betriebliche Erfordernisse gestützte Kündigung zum 31.12.2015 ausgesprochen, gegen deren Wirksamkeit sich der Kläger vor dem Arbeitsgericht Hagen (Az.: 4 Ca 968/15) wendet.

Der Kläger hat behauptet, anlässlich der letzten Vertragsmodifikation im Jahre 2012 sei mit dem Geschäftsführer des Beklagten, T, auch der Zeitpunkt des Rentenbezugs diskutiert worden; dabei sei eine mündliche Abrede dergestalt getroffen worden, dass er, der Kläger, solange arbeiten könne, wie er möchte. Schon deshalb sei eine ordentliche Kündigung seines Arbeitsverhältnisses gar nicht möglich.

Abgesehen davon sei das Beschäftigungsbedürfnis für ihn nicht entfallen. So hätten sich beispielsweise ab Oktober 2013 Firmenanfragen verdoppelt, so dass sich die Tätigkeiten, die nicht in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren enden würden, dramatisch erhöht hätten.

Auch die vorgenommene Sozialauswahl sei unwirksam, weil er bei bestehender Vergleichbarkeit mit allen anderen fünf juristischen Mitarbeitern besonders schutzbedürftig sei.

Schließlich würde er durch die Kündigung unmittelbar auch wegen seines Alters benachteiligt.

Soweit hier von Interesse, hat der Kläger beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 23.05.2014, zugegangen am 23.05.2014, zum 31.12.2014 beendet worden ist,

2. den Beklagten zu verurteilen, den Kläger zu unveränderten Arbeitsbedingungen als juristischen Mitarbeiter weiter zu beschäftigen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat eingewandt, dringende betriebliche Erfordernisse rechtfertigten die Kündigung des Klägers. Das Arbeitsvolumen sei signifikant zurückgegangen. So seien im Jahr 2013 im Verhältnis zum Jahr 2009 bei den Verfahren weniger als die Hälfte zu bearbeiten gewesen. In ähnlichem Umfang seien auch telefonische und schriftliche Anfragen zurückgegangen. Weil es bis zum 30.04.2014 lediglich 154 "Neueingänge" gegeben habe, der Negativtrend sich also bestätigt habe, sei man zu dem Ergebnis gelangt, dass mindestens ein Arbeitsplatz überflüssig sei.

Die Sozialauswahl sei zu Recht zu Lasten des Klägers vorgenommen worden. Dieser sei nämlich als einziger durch seinen Altersrentenbezug abgesichert, würde nicht arbeitslos und sei nicht in dem Maße unterhaltspflichtig wie die anderen fünf juristischen Mitarbeiter. Im Übrigen würden die Arbeitnehmer C, D, W und A Sonderaufgaben wahrnehmen, die der Kläger nicht erfüllen könne. Im Verhältnis zur Arbeitnehmerin F müsse auch berücksichtigt werden, dass diese monatlich rund 44 % weniger verdiene als der Kläger.

Das Arbeitsgericht hat mit Teilurteil vom 15.01.2014 dem Kündigungsschutz- und Weiterbeschäftigungsantrag stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Beklagte habe nicht in ausreichendem Maß den dauerhaften Rückgang des Arbeitsvolumens dargelegt. Deshalb sei er auch verpflichtet, den Kläger

weiterzubeschäftigten.

Dagegen wendet sich der Beklagte mit seiner Berufung.

Unter Anknüpfung an seinen erstinstanzlichen Vortrag behauptet er, dass sich das Beschäftigungsvolumen im Zusammenhang mit dem Führen von Arbeitsgerichtsprozessen praktisch halbiert habe. Auf die außergerichtliche Beratungstätigkeit entfalle nur ein Drittel der Gesamtarbeitszeit, so dass insgesamt zumindest der Bedarf für einen Arbeitsplatz entfallen sei. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird insoweit verwiesen auf die Ausführungen im Berufungsbegründungsschriftsatz vom 07.05.2015 nebst dem damit in Bezug genommenen erstinstanzlichen Vorbringen (Bl. 683 ff. d. A.).

Hinsichtlich seines zweitinstanzlich erstmals hilfsweise gestellten Auflösungsantrages führt der Beklagte aus, dass es ihm wegen persönlicher Angriffe des Klägers gegen seinen Arbeitgeber und seine Kollegen unzumutbar sei, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen. So habe der Kläger im Verfahren von einer "ungehörigen" Kündigung gesprochen und vortragen lassen, er solle mit ihrem Ausspruch "gefügig" gemacht werden. Solche ungerechtfertigten und ehrenrührigen Behauptungen machten eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar.

Insbesondere gelte dies auch für den Sachverhalt, der Geschäftsführer T habe seinerzeit seine Schwerbehinderung zu dem einzigen Zweck herbeigeführt, um gegen eine Kündigung geschützt zu sein.

Daneben habe der Kläger auch über seine Kollegen "hergezogen". So habe er letztlich behauptet, eine Teiltätigkeit des Mitarbeiters A für die Organisation "G" erschöpfe sich in Freizeitaktivitäten. Mit dieser unqualifizierten Herabsetzung der Arbeit des Kollegen A habe er nicht nur diesen, sondern auch die anderen juristischen Mitarbeiter angegriffen. Diese würden - mit Ausnahme des Arbeitnehmers D - jegliche weitere Zusammenarbeit mit dem Kläger ablehnen.

Der Beklagte beantragt,

1. das Teilurteil des Arbeitsgerichts Hagen vom 15.01.2015 - 4 Ca 1219/14 - abzuändern und die Klage abzuweisen,

2. hilfsweise das zwischen den Parteien begründete Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung aufzulösen.

Der Kläger beantragt,

1. die Berufung zurückzuweisen,

2. den hilfsweise gestellten Auflösungsantrag abzuweisen und

3. im Wege der Anschlussberufung hilfsweise, den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger ein Arbeitsverhältnis als Referent für Ausbildung und Strategie in arbeitsrechtlichen Rechtsangelegenheiten (sowohl gerichtlich als auch außergerichtlich) im Übrigen zu den bisherigen Vertragsbedingungen - insbesondere Arbeitszeit und Arbeitsvergütung - gemäß Arbeitsvertrag vom 29.06.2012 mit Arbeitgeber S e.V., L-Straße, 5 H, vertreten durch Herrn T, zu beschaffen.

Ebenfalls unter Bezugnahme auf sein erstinstanzliches Vorbringen ist der Kläger der Auffassung, dass sein Arbeitsplatz weiterhin im bisherigen Umfang vorhanden sei.

Davon abgesehen sei keine ordnungsgemäße Sozialauswahl vorgenommen worden.

Der Auflösungsantrag sei ebenfalls nicht gerechtfertigt; man könne ihm, dem Kläger, keine persönlich verletzenden Angriffe vorwerfen. So handele es sich z.B. bei der Bezeichnung "ungehörige Kündigung" um einen üblichen Rechtsbegriff. Die Ausführungen zum Geschäftsführer T würden überinterpretiert. Was die behauptete Teiltätigkeit des Arbeitnehmers A angehe, habe man nur aus den Internetveröffentlichungen der G zitiert.

Der Beklagte hat beantragt,

die Anschlussberufung zurückzuweisen.

Wegen des weiteren sehr umfangreichen Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen ergänzend Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Berufung des Beklagten ist in vollem Umfang unbegründet.

I. Die streitbefangene ordentliche Kündigung vom 23.05.2014 ist sozial ungerechtfertigt und damit gemäß § 1 Abs. 1 KSchG rechtsunwirksam.

1. In dem Zusammenhang kann unentschieden bleiben, ob auf Seiten des Beklagten dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 3. Fall KSchG vorliegen, die es rechtfertigen, einen der insgesamt sechs Arbeitsplätze im Bereich der juristischen Mitarbeiter wegen eines rückläufigen Arbeitsvolumens abzubauen.

2. In jedem Fall ist nämlich die gegenüber dem Kläger ausgesprochene Kündigung gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 KSchG sozialwidrig, weil der Beklagte bei seiner Auswahlentscheidung die maßgeblichen Sozialkriterien nicht ausreichend berücksichtigt hat.

a) Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (z. B. 05.06.2008 - 2 AZR 907/06 - AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 179) bestimmt sich der Kreis der in die soziale Auswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer in erster Linie nach arbeitsplatzbezogenen Merkmalen, also nach der ausgeübten Tätigkeit. Ausschlaggebend ist, ob hinsichtlich der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeit eine Austauschbarkeit besteht.

b) Davon ist hier, wenn man einmal von den beklagtenseits den anderen vier juristischen Mitarbeitern A, C, W und D zugeschriebenen Sonderaufgaben absieht, zumindest im Verhältnis des Klägers zur Arbeitnehmerin F auszugehen.

aa) Dem steht nicht entgegen, dass dem Kläger im Jahre 1993 die Bezeichnung "stellvertretender Geschäftsführer der Abteilung Arbeitsrecht des Verbandes" verliehen wurde. Denn dabei handelt es sich, wie beklagtenseits bereits in einem Schreiben vom 31.03.2008 klargestellt wurde, um einen rein vereinsrechtlichen Akt, der laut Kläger nur symbolische Bedeutung hatte und gemäß der klarstellenden Erklärung des Beklagten in der mündlichen Verhandlung am 07.08.2015 mit keinerlei Aufgaben im Rahmen des bestehenden Arbeitsverhältnisses verbunden ist.

bb) Auch der Gesichtspunkt, dass die Arbeitnehmerin F 44 % weniger verdient als der Kläger, steht der Vergleichbarkeit nicht entgegen. Denn maßgeblich ist, dass beide Arbeitnehmer vergleichbare Tätigkeiten als juristische Mitarbeiter erbringen und insoweit wechselseitig austauschbar sind. Wenn sie dafür unterschiedliche Vergütungen erhalten, kann dies z. B. arbeitsmarktpolitische Gründe haben bzw. darauf zurückzuführen sein, dass sich das rund 34 Jahre bestehende Arbeitsverhältnis zum Kläger während der weit über drei Jahrzehnte entgeltmäßig anders entwickelt hat als das erst seit sechs Jahren bestehende Arbeitsverhältnis zur Mitarbeiterin F.

c) Bei der danach gebotenen Sozialauswahl sind gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 KSchG gleichrangig die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung "ausreichend" zu berücksichtigen, woraus folgt, dass dem Arbeitgeber ein gewisser Bewertungsspielraum zusteht; seine Auswahlentscheidung muss nur vertretbar sein. Deshalb kann der betroffene Arbeitnehmer die Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl nur mit Erfolg rügen, wenn er deutlich schutzwürdiger ist (vgl. BAG, 29.01.2015 - 2 AZR 164/14 - NZA 2015, 426; 02.06.2005 - 2 AZR 480/04 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 75). Davon ist hier in der Person des Klägers im Verhältnis zur Arbeitnehmerin F auszugehen.

aa) Denn beim Kernkriterium (vgl. Stahlhacke/Preis, 11. Aufl., Rn. 1079), der Dauer der Betriebszugehörigkeit, wodurch namentlich den Gesichtspunkten fachlich bewährter Qualifikation und langjähriger Berufserfahrung Rechnung getragen wird (vgl. BAG, 18.01.1990 - 2 AZR 357/89 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 19), wies der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs fast 35 Beschäftigungsjahre auf - im Verhältnis zu "nur" 6 Beschäftigungsjahren bei der Mitarbeiterin F. Bei 28 Jahren Differenz war er insofern also signifikant schutzwürdiger.

d) Daran ändert sich nichts, wenn man das als "ambivalent" (vgl. BAG, a.a.O.) einzustufende weitere Kriterium des Lebensalters berücksichtigt. Mit ihm sollen typisierend die Arbeitsmarktchancen betroffener Arbeitnehmer in den Wertungsvorgang bei der Sozialauswahl einbezogen werden, ausgehend von dem Erfahrungssatz, dass mit steigendem Lebensalter die Vermittlungschancen generell zu sinken pflegen (BAG, 06.11.2008 - 2 AZR 523/07 - AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 182).

Danach müsste, abgestellt wiederum auf den Kündigungszeitpunkt, zugunsten des Klägers auch dessen Alter von damals 66 Jahren gegenüber den "nur" 34 Jahren bei der Mitarbeiterin F gebührend berücksichtigt werden, weil seine Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt unter Zugrundelegung einschlägiger Erfahrungswerte deutlich geringer ist.

Wenn der Beklagte in dem Zusammenhang darauf verweist, der Kläger beziehe seine Regelaltersrente und sei insgesamt ausreichend versorgt, kann dies nach gegebener Gesetzeslage (vgl. auch § 41 SGB VI) keine Berücksichtigung finden, weil bei der Sozialauswahl allgemeine sozialpolitische Wertungen außer Betracht zu bleiben haben (vgl. LAG Berlin-Brandenburg, 26.07.2007 - 14 Sa 508/07 - juris; LAG Köln, 13.07.2005 - 12 Sa 616/05 - LAGE § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 51; Stahlhacke/Preis, a.a.O., Rn. 1078). Bezeichnenderweise hat der Gesetzgeber selbst dem Erreichen des für den Bezug der Regelaltersrente maßgeblichen Lebensalters im Rahmen des Kündigungsschutzgesetzes auch "lediglich" bei der Bemessung der Abfindung in § 10 Abs. 2 Satz 2 KSchG Bedeutung beigemessen.

Auch das Bundesarbeitsgericht (11.02.2015 - 7 AZR 17/13 - BB 2015, 1786) hat im Zusammenhang mit einer Befristung aktuell darauf hingewiesen, dass ein Arbeitnehmer mit seinem Wunsch auf dauerhafte Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses über die gesetzliche Regelaltersgrenze hinaus legitime wirtschaftliche und ideelle Anliegen verfolgt und auf diesem Wege von der Möglichkeit beruflicher Selbstverwirklichung Gebrauch macht. So gehen nach einer aktuellen Studie des Statistischen Bundesamtes (Die Generation 65+ in Deutschland, 2015) mittlerweile 14 % der 65- bis 69-jährigen Arbeitnehmer (weiterhin) einer Arbeit nach.

e) Selbst wenn man nun zugunsten der Arbeitnehmerin F berücksichtigt, dass bei ihr zwei Unterhaltspflichten gegenüber einer bei dem Kläger bestehen, kann dieser Gesichtspunkt nichts daran ändern, dass die vorgenommene Sozialauswahl insgesamt namentlich wegen des bei der Betriebszugehörigkeitsdauer deutlich schutzwürdigeren Klägers fehlerhaft ist und damit zur Rechtsunwirksamkeit der streitbefangenen Kündigung führt.

II. Der für diesen Fall gestellte Antrag des Beklagten, gestützt auf § 9 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 KSchG, ist unbegründet.

Nach der genannten Bestimmung kann das Arbeitsverhältnis gerichtlicherseits auf Antrag des Arbeitgebers aufgelöst werden, wenn im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz Gründe vorliegen, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit nicht erwarten lassen.

Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (zuletzt z.B. 08.10.2009 - 2 AZR 682/08 - AP KSchG 1969 § 9 Nr. 65) kommt nach der Grundkonzeption des Kündigungsschutzgesetzes bei einer sozialwidrigen Kündigung die Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf Antrag des Arbeitgebers nur ausnahmsweise in Betracht, so dass an die Gründe strenge Anforderungen zu stellen sind. Erforderlich ist ein Sachverhalt, der die Vertrauensgrundlage für eine sinnvolle Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses entfallen lässt.

Als Auflösungsgrund geeignet sind etwa Beleidigungen, sonstige ehrverletzende Äußerungen oder persönliche Angriffe des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber oder seine Arbeitskollegen. In dem Zusammenhang können auch vom Arbeitnehmer veranlasste Erklärungen seines Prozessbevollmächtigten, wenn er sie sich zu eigen gemacht hat, relevant sein; allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass gerade Erklärungen im laufenden Kündigungsschutzverfahren durch ein berechtigtes Interesse gedeckt sein können. Parteien dürfen zur Verteidigung ihrer Rechte schon im Hinblick auf den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) alles vortragen, was als rechts-, einwendungs- oder einredebegründeter Umstand prozesserheblich sein kann. Ein Prozessbeteiligter darf dabei auch starke, eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte benutzen, um seine Rechtsposition zu unterstreichen, selbst wenn er seinen Standpunkt vorsichtiger hätte formulieren können (vgl. BAG, 29.08.2013 - 2 AZR 419/12 - AP KSchG 1969 § 9 Nr. 70).

Gemessen daran, sind hier keine Gründe für die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses ersichtlich.

1. Soweit der Beklagte auf den schriftsätzlichen Hinweis des Verbots einer "ungehörigen Kündigung" abhebt, handelt es sich dabei um die Verwendung eines in der Rechtsprechung und Literatur verbreiteten Begriffs, um die im Verfahren eingenommene Rechtsposition zu unterstreichen, ist also von dem Grundsatz der Wahrnehmung berechtigter Interessen gedeckt.

2. Entsprechendes gilt für die Vorhaltung, er, der Kläger, werde wegen seines Alters diskriminiert.

3. Auch die Ausführungen des Klägers, er solle mit dem Ausspruch der Kündigung "gefügig" gemacht werden, kann nicht die Auflösung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen. Denn in einem laufenden Kündigungsschutzprozess muss es erlaubt sein, dass starke, eindringliche Ausdrücke benutzt werden, um deutlich zu machen, welchen Eindruck der Erhalt einer während des Urlaubs ausgesprochenen Kündigung unter Berücksichtigung der vorangegangenen Gespräche bei dem Kläger hinterlassen hat.

4. Die Äußerungen des Klägers im Zusammenhang mit der Schwerbehinderteneigenschaft des Geschäftsführers T lassen ebenfalls keinen Auflösungsgrund erkennen, zumal aus ihnen keinerlei Schlussfolgerung dergestalt gezogen werden kann, es sei mit unlauteren Mitteln ein Sonderkündigungsschutz erwirkt worden.

5. Was schließlich den Arbeitnehmer A und seine Tätigkeit für die Organisation "G" angeht, hat der Kläger in seinem Schriftsatz vom 12.09.2014 im Rahmen der Vergleichbarkeit bei der Sozialauswahl lediglich Angaben aus dem Internetauftritt der Organisation wiedergegeben, um so seine eigene Rechtsposition zu verteidigen. Wenn er sodann davon spricht, dass "diese geselligen Aktivitäten" einer Vergleichbarkeit entgegenstehen sollen, ist diese überspitzte Äußerung noch von seinem Recht, die Interessen im Prozess wirkungsvoll wahrzunehmen, gedeckt, zumal er im genannten Schriftsatz kurz zuvor mit Nichtwissen bestritten hatte, dass der Mitarbeiter A überhaupt diese Position inne hat.

Wenn dieser sich trotzdem angegriffen und sich, wie viele seiner Kollegen auch, herabgesetzt fühlte und jegliche Zusammenarbeit verweigert, ist diese Haltung sachlich nicht gerechtfertigt und kann deshalb zu keiner Auflösung eines fast 34 Jahre bestehenden Arbeitsverhältnisses führen. Dabei soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass sich gerade der Mitarbeiter D, der in der Vergangenheit mit dem Kläger in der Geschäftsstelle H tätig war, unstreitig nicht gegen eine weitere Zusammenarbeit mit diesem ausgesprochen hat.

III. Der Anspruch des Klägers gegenüber dem Beklagten auf Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses ergibt sich aus den §§ 611 Abs. 1, 613, 242 BGB i.V.m. Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG.

Nach der zutreffenden rechtsfortbildenden Rechtsprechung des Großen Senats des BAG (27.02.1985 - GS 1/84 - AP BGB § 611 Beschäftigungspflicht Nr. 14) kann der gekündigte Arbeitnehmer die arbeitsvertragsgemäße Beschäftigung über den Zeitpunkt des Ablaufs der Kündigungsfrist hinaus verlangen, wenn die Kündigung unwirksam ist und überwiegende schutzwerte Interessen des Arbeitgebers nicht entgegenstehen. Dies folgt als Ausfluss aus dem grundgesetzlich verbürgten allgemeinen Persönlichkeitsrecht, wonach in einem Arbeitsverhältnis der Arbeitnehmer nicht nur gehalten ist, seine Vergütung entgegenzunehmen, sondern auch grundsätzlich verlangen kann, seinen Beruf vertragsgemäß ausüben zu können.

In Fällen wie hier, wo die Kündigung rechtsunwirksam ist und auch kein Auflösungsgrund besteht, überwiegt in aller Regel das Interesse des obsiegenden Arbeitnehmers, seinen Klageanspruch im Wege eines Weiterbeschäftigungsbegehrens auch tatsächlich zu verwirklichen.

Daran ändert sich im konkreten Fall auch nichts dadurch, dass der Beklagte zwischenzeitlich eine weitere ordentliche Kündigung ausgesprochen hat, über deren Wirksamkeit arbeitsgerichtlich noch nicht entschieden worden ist. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (grundlegend: 19.12.1985 - 2 AZR 190/85 - AP BGB § 611 Beschäftigungspflicht Nr. 17) entsteht keine zusätzliche Ungewissheit über den Fortbestand eines Arbeitsverhältnisses und beendet dementsprechend auch nicht die Pflicht des Arbeitgebers zur Weiterbeschäftigung, wenn die Folgekündigung auf dieselben Gründe gestützt wird, die nach gerichtlicher Auffassung schon für die erste Kündigung nicht ausreichend waren.

Die Voraussetzungen liegen hier vor, weil die Folgekündigung vom 30.04.2015, die auch frühestens erst mit Ablauf der Kündigungsfrist zum 31.12.2015 wirken könnte, ebenfalls wegen dringender betrieblicher Erfordernisse erfolgt und dementsprechend auch gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 KSchG sozialwidrig und damit rechtsunwirksam ist (§ 1 Abs. 1 KSchG).

IV. Unter Berücksichtigung der vorangegangenen Ausführungen ist der im Wege der Anschlussberufung durch den Kläger geltend gemachte Hilfsantrag nicht zur Entscheidung angefallen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht gegeben.

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