VG Bayreuth, Urteil vom 23.07.2015 - B 5 K 15.50181
Fundstelle
openJur 2015, 18590
  • Rkr:
Tenor

1. Der Bescheid der Beklagten vom ... 2014 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand

Die am ... geborene Klägerin zu 1) und ihre am ... geborene Tochter, die Klägerin zu 2), beide russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit, reisten eigenen Angaben zufolge am ... 2014 per Lkw in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie stellten am ... 2014 Asylanträge. Die Überprüfung der Kläger ergab einen EURODAC-Treffer der Kategorie 1 für Polen, sodass Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin-III-VO) vorlagen.

Die deutschen Behörden richteten unter dem ... 2014 ein Übernahmeersuchen gemäß der Dublin-III-VO an Polen. Dort erklärte man mit Schreiben vom ... 2014 die eigene Zuständigkeit für die Bearbeitung der Asylanträge nach Art. 18 Abs. 1 lit. c Dublin-III-VO.

Mit Bescheid der Beklagten vom ... 2014 wurden die Anträge als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1) und die Abschiebung der Kläger nach Polen angeordnet (Ziffer 2). Zur Begründung wurde ausgeführt, die Asylanträge seien gem. § 27a AsylVfG unzulässig, da Polen auf Grund der dort gestellten Anträge gem. Art. 18 Abs. 1 lit. c Dublin-III-VO zuständig sei. Eine Veranlassung zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO werde nicht gesehen. Daher würden die Asylanträge nicht materiell geprüft. Die Bundesrepublik Deutschland sei verpflichtet, die Überstellung nach Polen als zuständigem Mitgliedsstaat innerhalb der Frist des Art. 29 Abs. 1 bzw. Abs. 2 Dublin-III-VO durchzuführen. Der Bescheid wurde den Klägern unter dem ... 2014 zugestellt.

Als Datum des Zuständigkeitsübergangs ist in der Behördenakte des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der ... 2014 und als Ende der Überstellungsfrist der ... 2014 vermerkt.

Mit Telefax vom ... 2014 erhob die Bevollmächtigte der Kläger Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth und beantragte:

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ...2014 wird aufgehoben

Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom ... 2014,

die Klage abzuweisen.

Unter dem ... 2014 brachte die Beklagte ein Schreiben der Bevollmächtigten der Kläger zur Vorlage, aus dem hervorgeht, dass die Klägerin zu 1) nicht reisefähig sei und sich in psychologischer Behandlung befinde. Eine Überstellung der Kläger erfolgt nicht.

Mit Schriftsatz vom ... 2014 trug die Beklagte weiter vor. Sie führte aus, eine isolierte Anfechtungsklage sei im vorliegenden Fall nicht statthaft. Die Regelungen der Dublin-III-VO hinsichtlich Zuständigkeitsbestimmung und Fristvorgaben vermittelten den Betroffenen keine subjektiven Rechte. Im Übrigen könne die vorliegende mit der Unzulässigkeit i.S.d. § 27a AsylVfG begründete Ablehnung in eine Ablehnung nach Maßgabe der Zweitantragsregelung umgedeutet und so aufrecht erhalten werden.

Mit Beschluss vom 8. April 2015 hat die Kammer den Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Mit Schreiben vom ... 2015 hob die Beklagte den streitgegenständlichen Bescheid in Ziffer 2 (Abschiebungsanordnung) auf und stimmte einer insoweit zu erwartenden Erledigungserklärung vorab zu. Die Klägerbevollmächtigte erklärte die Klage hinsichtlich Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids mit Schriftsatz vom ... 2015 in der Hauptsache für erledigt. Das Verfahren (B 5 K 14.50034) wurde durch das Gericht abgetrennt und mit Beschluss vom 22. Juli 2015 eingestellt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakten Bezug genommen (§ 117 Absatz 3 Satz 2 VwGO).

Gründe

Die zulässigen Klagen, soweit sie noch Gegenstand des Verfahrens sind, haben in der Sache Erfolg.

1. Die Klagen sind insbesondere als isolierte Anfechtungsklagen gem. § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO statthaft. Mit der Aufhebung der als Verwaltungsakt zu qualifizierenden Feststellung der Unzulässigkeit der gestellten Asylanträge geht die Verpflichtung der Beklagten einher, das Asylverfahren in eigener Zuständigkeit fortzuführen, sodass es einer Verpflichtungsklage nicht bedarf. Einer solchen würde im Übrigen auch das erforderliche Rechtsschutzinteresse fehlen (vgl. BayVGH, B.v. 6.3.2015 – 13a ZB 15.50000 – juris Rn. 7; U.v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295; B.v. 23.1.2015 – 13a ZB 14.50071). Auch besteht vorliegend keine Pflicht des Gerichts, in der Sache durchzuentscheiden (BayVGH, B.v. 6.3.2015 – 13a ZB 15.50000 – juris Rn. 8; B.v. 23.1.2015 – 13a ZB 14.50071 – juris Rn. 6). Damit ginge den Klägern eine Tatsacheninstanz verloren, die nach § 24 AsylVfG mit umfassenden Verfahrensgarantien ausgestattet ist (vgl. BayVGH, a.a.O.). Zudem würde das Gericht nicht die Entscheidung einer vorrangig mit sachlichen Prüfung befassten Fachbehörde kontrollieren, sondern sich anstelle der Exekutive erstmalig selbst mit dem Antrag in der Sache befassen.

2. Die Klagen sind darüber hinaus auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom ... 2014 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).

a) Nach § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In dem nach § 77 Abs. 1 Satz AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens der Kläger zuständig. Die polnischen Behörden hatten mit Schreiben vom ... 2014 dem Übernahmeersuchen des BAMF unter Hinweis auf Art. 18 Abs. 1 lit. c Dublin-III-VO zugestimmt. Da die Kläger einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht gestellt hatten, begann die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO damit am ... Mai 2014 zu laufen und endete am ... November 2014. Da eine Überstellung der Kläger innerhalb dieser Frist nicht erfolgte, ging die Zuständigkeit für die Asylverfahren der Kläger mit dem – zwischen den Beteiligten unstreitigen und von der Beklagten in ihrem Schreiben vom ... 2015 selbst angenommenen – Ablauf der Frist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland über. Es ist auch in keiner Weise ersichtlich oder vorgetragen, dass Polen trotz des Zuständigkeitsübergangs weiter zur Aufnahme der Kläger bereit wäre bzw. eine Überstellung nicht nur als entfernt liegende bloße Möglichkeit in Betracht kommt. Damit ist der angegriffene Bescheid in Ziffer 1 rechtswidrig geworden.

Eine Umdeutung des streitgegenständlichen Bescheids in eine Entscheidung nach § 71a AsylVfG kommt nicht in Betracht, da es insoweit an den Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) mangelt. Nach § 47 Abs. 1 VwVfG kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Hier fehlt es bereits an der gleichen Zielrichtung beider Verwaltungsakte, da § 27a AsylVfG die Feststellung der Unzulässigkeit eines Asylantrags aufgrund der Zuständigkeit eines anderen Staates für die Durchführung des Asylverfahrens zum Gegenstand hat, während § 71a AsylVfG die materielle Durchführung eines weiteren Asylverfahrens regelt (vgl. BayVGH, B.v. 2.2.2015 – 13a ZB 14.50068 – juris Rn. 9). Darüber hinaus muss eine Umdeutung auch an § 49 Abs. 2 VwVfG scheitern, wonach eine solche ausscheidet, wenn der umgedeutete Verwaltungsakt der erkennbaren Absicht der erlassenden Behörde widerspräche oder seine Rechtsfolgen für den Betroffenen ungünstiger wären als die des fehlerhaften Verwaltungsaktes. Die Beklagte wollte aufgrund ihrer (damaligen) Unzuständigkeit gerade keine Entscheidung über einen Zweitantrag treffen. Überdies wäre eine Entscheidung i.S.v. § 71a AsylVfG nach Ablauf der Überstellungsfrist regelmäßig mit der für die Kläger ungünstigeren Rechtsfolge einer Abschiebungsandrohung in den Herkunftsstaat statt in den zuständigen Dublin-Staat verknüpft (vgl. VG Augsburg, U.v. 13.5.2015 – Au 7 K 14.50099 – juris Rn. 33).

b) Die Kläger sind durch den rechtswidrigen Bescheid vom ... 2014 auch in ihren Rechten verletzt. Das Gericht verweist insoweit entsprechend § 117 Abs. 5 VwGO auf die Ausführungen des VG Würzburg (U.v. 11.6.2015 – W 1 K 14.30274 – juris Rn. 32 f.):

„Zwar ist den Zuständigkeitsvorschriften der Dublin-Verordnungen (im engeren und weiteren Sinne) grundsätzlich kein individualschützender Gehalt zu entnehmen. Denn die einschlägigen Regelungen dienen der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und begründen daher staatengerichtete Rechte und Pflichten (VGH BW, B.v. 6.8.2013 – 12 S 675/13 – juris Rn. 13; VG Würzburg, B.v. 30.10.2014 – W 3 E 14.50144 – juris Rn. 13). Aus Art. 18 GR-Charta folgt lediglich das Recht eines Asylbewerbers auf Prüfung seines Asylantrags durch einen Mitgliedstaat des Dublin-Systems, weil aufgrund der gegenseitigen Vermutung, auf die sich das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt, grundsätzlich davon auszugehen ist, dass ein Asylantrag in jedem Mitgliedstaat im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta der Europäischen Union behandelt wird (VGH BW, B.v. 6.8.2013 – 12 S 675/13 – juris Rn. 13). Art. 18 GR-Charta beinhaltet kein eigenständiges Asylgrundrecht (vgl. Rossi in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Art. 18 GR-Charta Rn. 2 f.; Streinz in Streinz, EUV/AEUV, Art. 18 GR-Charta Rn. 5; differenzierend Jarass, GR-Charta Art. 18 Rn. 2), sondern nimmt auf die für die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten verbindliche Genfer Flüchtlingskonvention und auf die entsprechenden Bestimmungen in den Gründungsverträgen (EUV und AEUV) Bezug. Auf europarechtlicher Ebene ist jedoch kein Recht auf Durchführung eines Asylverfahrens in dem vom Asylbewerber bestimmten Mitgliedstaat garantiert (vgl. auch VG Würzburg, B.v. 2.1.2015 – W 1 S 14.50120 – juris Rn. 25, U.v. 26.9.2014 – W 7 K 13.30538 – UA S. 6). Dennoch besteht in einer Situation, in der infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat zurückfällt, ein schutzwürdiges Interesse des Asylbewerbers daran, dass die inhaltliche Prüfung seines Asylantrags nicht durch weitere Zuständigkeitsprüfungen verzögert wird (VGH BW a.a.O.; VG Augsburg, GB.v. 12.11.2014 – Au 7 K 14.50047 – juris Rn. 45; VG Sigmaringen, U.v. 22.10.2014 - 8 K 4481/14.A – UA S. 5 ff.; VG Regensburg, U.v. 21.10.2014 – RO 9 K 14.30217 – UA S. 6; VG Düsseldorf, U.v. 23.9.2014 – 8 K 4481/14.A – juris Rn. 30; tendenziell a.A. VG Würzburg, B.v. 30.10.2014 – W 3 E 14.50144 – juris Rn. 14). Insofern beinhaltet das Grundrecht aus Art. 18 GR-Charta i.V.m. Art. 41 und 47 GR-Charta eine zeitliche Komponente. Diese verlangt, dass die Prüfung des Asylantrags und die darauf ergehende Entscheidung zeitnah erfolgen. Somit würden die Grundrechte des Klägers verletzt, wenn in der vorliegenden Situation trotz des Zuständigkeitsübergangs noch über einen unter Umständen längeren Zeitraum hinweg Ungewissheit darüber bestünde, welcher Mitgliedstaat sein Asylbegehren inhaltlich zu prüfen hat (VG Würzburg, U.v. 31.3.2015 a.a.O.; U.v. 26.9.2014 a.a.O.).“

Dieser Rechtsauffassung schließt sich das Gericht an. Vorliegend ist von der Beklagten nicht dargelegt und im Übrigen auch sonst nicht erkennbar, dass nach dem erfolgten Zuständigkeitsübergang auf die Bundesrepublik Deutschland Polen weiterhin zur Aufnahme der Kläger bereit ist und eine Überstellung in absehbarer Zeit erfolgen wird. Das Schicksal der Asylanträge der Kläger, denen nach den obigen Ausführungen ein subjektives Recht darauf zusteht, dass ihre Anträge (überhaupt) materiell geprüft werden, ist nach derzeitigem Erkenntnisstand ungewiss. Die Kläger sind somit durch den angegriffenen Bescheid in ihrem Recht auf eine ordnungsgemäße materielle Prüfung ihres Asylbegehrens verletzt.

3. Die unterliegende Beklagte hat gem. § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des nach § 83b AsylVfG gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

4. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilproessordnung (ZPO).

Zitate12
Zitiert0
Referenzen0
Schlagworte