VG Bayreuth, Urteil vom 21.07.2015 - B 3 K 14.30400
Fundstelle
openJur 2015, 13439
  • Rkr:
Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. Oktober 2014 wird in Ziffer 2 insoweit aufgehoben, als die Anträge auf Abänderung des Bescheides vom 25. August 2010 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 7 AufenthG abgelehnt wurden.

Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei beiden Klägern die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Von den Kosten des Verfahrens haben die Kläger ¾, die Beklagte ¼ zu tragen.

3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die Kläger, afghanische Staatsangehörige, Volkszugehörige der Qizilbash und schiitischen Glaubens, haben bereits am ... 2010 Asylanträge in der Bundesrepublik Deutschland gestellt. Diese Anträge lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 25. August 2010 ab.

Die hiergegen gerichtete Klage hat das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth mit Urteil vom 31. August 2011 mit der Begründung abgewiesen, dass der Sachvortrag des Klägers zu 1) wegen Widersprüchlichkeiten als nicht glaubhaft erachtet werde. Auf diese Entscheidung und auf die Sitzungsniederschrift des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 18. August 2011 wird Bezug genommen.

Mit Schreiben vom 26. April 2012 legte der Kläger zu 1) dem Bundesamt ein Dokument seiner Schwester ... vom ... 2012 vor. Darin teilt diese mit, dass der Bruder des Klägers zu 1) für die „Hezb-e-Wahdat-e Islami Afghanistan“ [Partei der Islamischen Einheit Afghanistans] gegen die Taliban gearbeitet habe. Als die Taliban die Provinz Bamian erobert hätten, sei der Bruder des Klägers zu 1) mit seiner Familie nach ... geflüchtet, um sein Leben zu retten. Auch der Kläger zu 1) sei von der Taliban verfolgt worden, weshalb dieser mit seiner Familie am ... 2010 seine Heimat verlassen habe. Dieser Bericht wurde durch den Leiter des „Rates für soziale Gerechtigkeit in ...“, Herrn ..., bestätigt.

Am 15. Mai 2012 stellten die Kläger persönlich bei der Außenstelle des Bundesamtes in Zirndorf Anträge auf Durchführung weiterer Asylverfahren (Folgeanträge). Mit Bescheid vom 21. Oktober 2014, der am 27. Oktober 2014 als Einschreiben zur Post gegeben worden ist, wurden sowohl die Anträge auf Durchführung weiterer Asylverfahren (Ziffer 1) als auch die Anträge auf Abänderung des Bescheides vom 25. August 2010 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG (Ziffer 2) abgelehnt.

Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Voraussetzungen nach § 71 Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 51 VwVfG für die Durchführung weiterer Asylverfahren nicht vorlägen. Das vorgelegte Dokument stelle kein geeignetes Beweismittel nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG dar. Das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth habe den Klägern in ihrem Erstverfahren keinen Glauben geschenkt. Die bloße Vorlage eines Dokumentes, das die angeblichen Geschehnisse nunmehr bestätigen solle, sei nicht als geeignetes Beweismittel, sondern als Gefälligkeitsschreiben anzusehen. Ein Wiederaufgreifen der Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG sei im vorliegenden Fall ebenfalls nicht möglich. Auch insoweit seien die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht gegeben. Gründe nach § 51 Abs. 5 VwVfG i. V. m. §§ 48 oder 49 VwVfG für ein Wiederaufgreifen im weiteren Sinne bestünden ebenfalls nicht. Diesbezüglich sei von den Klägern nichts vorgetragen worden und sei auch sonst nichts ersichtlich, sodass ein Bescheid gleichen Inhalts wieder ergehen müsste.

Gegen diesen Bescheid erhoben die Kläger mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 11. November 2014, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am selben Tag, Klage. Sie beantragen,

1. den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. Oktober 2014 – zugestellt am 28. Oktober 2014 – aufzuheben und die Beklagte zu verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft (§ 31 Abs. 2 AsylVfG i. V. m. § 3 AsylVfG) zuzuerkennen,

2. hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Kläger subsidiäre Schutzberechtigte gemäß § 4 Abs. 1 AsylVfG sind,

3. höchsthilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.

Zur Begründung der Klage wurde zunächst auf das Vorbringen der Kläger in der schriftlichen Begründung ihres Folgeantrags nebst der im Behördenverfahren überreichten Schriftstücke und Dokumente Bezug genommen.

Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 20. November 2014,

die Klage abzuweisen.

Mit Schriftsatz vom 28. November 2014 trägt der Klägerbevollmächtigte vor, dass der Bescheid der Beklagten vom 21. Oktober 2014 rechtswidrig sei und die Kläger in ihren Rechten verletze. Die Kläger hätten nunmehr einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 31 Abs. 2 AsylVfG i. V. m. § 3 AsylVfG. Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG seien gegeben. Den Klägern liege nunmehr ein neues Beweismittel vor. Sie hätten dem Bundesamt mit Schreiben vom ... 2012 schriftlich mitgeteilt, dass sie von der Schwester des Klägers zu 1), Frau ..., ein Originaldokument erhalten hätten. Das Dokument, welches auf den ... 2012 datiert sei, sei dem Bundesamt am ... 2012 übergeben worden, sodass die Kläger die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG unzweifelhaft eingehalten hätten. Der Übersetzung des Dokuments sei zu entnehmen, dass der Bruder des Klägers zu 1) früher für die Hezb-e-Wahdat gegen die Taliban gearbeitet habe. Die Kläger seien von den Taliban verfolgt worden. Diese Angaben würden durch den Leiter des „Rates für soziale Gerechtigkeit in ...“, Herrn ..., bestätigt. Soweit das Bundesamt die Ansicht vertrete, dass das vorgelegte Dokument kein geeignetes Beweismittel sei, weil das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth im Erstverfahren den Vortrag der damaligen Kläger teilweise als widersprüchlich angesehen habe, könne dem nicht gefolgt werden. Denn das streitgegenständliche Dokument belege gerade durch die Bestätigung des Leiters des „Rates für soziale Gerechtigkeit in ...“, dass die Kläger von den Taliban verfolgt worden sein und deshalb hätten fliehen müssen. Nach der Auskunftslage sei davon auszugehen, dass Racheansprüche aus einer Blutrache nach der traditionellen afghanischen Denkweise nicht verjähren. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 4. Juni 2013 (Seite 13) gehe die größte Bedrohung für die Bürger Afghanistans von den Taliban und lokalen Machthabern aus, die nicht mit staatlichen Befugnissen, aber mit faktischer Macht ausgestattet seien, die sie häufig missbrauchen würden. Die Zentralregierung habe auf viele dieser Menschenrechtsverletzer kaum Einfluss und könne deren Taten nur begrenzt untersuchen oder verurteilen. Dass der Kläger zu 1) und seine Familie aufgrund der Aktivitäten seines Bruders in der Hezb-e-Wahdat in den Fokus der Taliban geraten seien, werde nunmehr durch das vorgelegte Dokument belegt und könne somit nicht als ungeeignetes Beweismittel angesehen werden. Zudem sei es in Afghanistan üblich, dass Dritte davon ausgingen, dass alle Angehörigen einer Familie in eine bestimmte politische Richtung arbeiten würden, sobald auch nur ein Familienangehöriger eine bestimmte politische Strömung unterstütze. Vor diesem Hintergrund müsse davon ausgegangen werden, dass die Aktivitäten des Bruders des Klägers zu 1) bei der Hezb-e-Wahdat auch den Klägern zugerechnet würden und im Falle der Rückkehr nach Afghanistan Anlass für Verfolgungsmaßnahmen sein könnten. Gegen die Gefahr der Verfolgung spreche auch nicht der Umstand, dass die Kläger in ... gelebt hätten. Insoweit sei den Erkenntnisquellen zu entnehmen, dass die Taliban über ein weit gestreutes und funktionierendes Informationsnetzwerk verfüge, das bis nach ... reiche. Die neuen Auskünfte würden eine hohe Präsenz der Taliban belegen. Den Taliban sei es auch in ... jederzeit möglich Rachemaßnahmen gegen einzelne Personen auszuüben. Aufgrund dessen sei den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Zumindest hätten die Kläger jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG. Nach § 51 Abs. 5 VwVfG blieben die Vorschriften des § 48 Abs. 1 VwVfG und des § 49 Abs. 1 VwVfG unberührt. Im vorliegenden Fall ergebe sich für die Kläger daher zunächst ein Anspruch darauf, das bereits abgeschlossene Verwaltungsverfahren wieder aufzugreifen. Insoweit bestehe ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung. Dieser grundsätzlich auf Neubescheidung gerichtete Anspruch verdichte sich im vorliegenden Fall im Wege einer Ermessensreduzierung auf null auf einen zwingenden Anspruch, das Verfahren wiederaufzugreifen, weil die Aufrechterhaltung der nach altem Recht ergangenen Entscheidung schlechthin unerträglich wäre (BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 1 C 15/08, NVwZ 2010, 656 f.). Der Kläger zu 1) habe eine Bestätigung des Leiters des „Rates für soziale Gerechtigkeit in ...“ vorgelegt, die dem Kläger zu 1) attestiere, dass er aufgrund der Aktivitäten seines Bruders in der Hezb-e-Wahdat Verfolgungsmaßnahmen durch die Taliban erlitten habe. Es sei deshalb davon auszugehen, dass die Kläger im Falle ihrer Abschiebung nach Afghanistan Folter oder erniedrigender und unmenschlicher Behandlung bzw. Bestrafung i. S. d. § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG ausgesetzt wären, weshalb das Festhalten an der ursprünglichen ablehnenden Entscheidung zu einem schlechthin unerträglichen Zustand führen würde. Jedenfalls hätten die Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs.5, 7 Satz 1 AufenthG. Die Abschiebung sei nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK unzulässig, weil den Klägern in Afghanistan Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch die Taliban drohe. Außerdem bestünde für die Kläger die tatsächliche Gefahr, in Afghanistan auf so schlechte humanitäre Bedingungen zu treffen, dass die Abschiebung dorthin eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen würde. Zudem drohe dem Kläger zu 1) bei einer Rückkehr in sein Heimatland wegen seiner Erkrankung eine erhebliche und konkrete Gesundheitsgefahr i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Der Kläger zu 1) habe am ... 2014 einen akuten Herzinfarkt erlitten. Dies ergebe sich aus dem ärztlichen Attest des Herrn Dr. med. ... vom ... 2014. Eine Abschiebung des Klägers zu 1) nach Afghanistan würde zu einer deutlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes und gegebenenfalls zu einem lebensbedrohlichen Zustand führen. Zudem führe der Gesundheitszustand des Klägers zu 1) dazu, dass er nicht in der Lage wäre, in Afghanistan durch eigene Erwerbstätigkeit sein Existenzminimum zu sichern. Mit dem ärztlichen Attest vom ... 2014 liege ebenfalls ein neues Beweismittel vor, weshalb die Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides aufzuheben sei. Auch der Kläger zu 2) habe einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, da er als minderjähriges Kind nicht in der Lage sei, ohne familiäre Unterstützung sein Existenzminimum zu sichern und in Afghanistan zu überleben.

In seinem Attest vom ... 2014 führt Herr Dr. med. ... aus, dass es beim Kläger zu 1) am ... 2014 zu einem akuten Herzinfarkt gekommen sei. Die Koronarangiographie habe einen Gefäßverschluss ergeben. Es sei ein Koronarstenting durchgeführt und eine doppelte Blutverdünnungsbehandlung sowie eine weitere medikamentöse Therapie eingeleitet worden. Engmaschige fachärztlich-kardiologische Kontrollen seien zumindest ein Jahr lang erforderlich, neben Fortsetzung der speziellen Medikation. Eine solche Versorgung sei in Afghanistan keineswegs gewährleistet, sodass bei einer Rückkehr dorthin die Gefahr einer lebensbedrohlichen Verschlechterung der koronaren Herzerkrankung bestehe.

Mit Schriftsatz vom 8. Dezember 2014 legte der Klägerbevollmächtigte ein ergänzendes ärztliches Attest des Herrn Dr. med. ... vom ... 2014 vor. Daraus ergibt sich, dass sich beim Kläger zu 1) infolge der multiplen psychischen Belastungen eine Depression eingestellt habe. Ein Abriss der Supraspinatussehne an der Schulter könne wegen der für ein Jahr durchzuführenden Blutverdünnung nicht operiert werden.

Mit weiterem Schriftsatz vom 21. Januar 2015 teilte der Klägerbevollmächtigte mit, dass sich der Kläger zu 1) seit dem ... 2014 in regelmäßiger nervenärztlicher Behandlung befinde. Zugleich wurde eine nervenärztliche Bescheinigung des Herrn Dr. med. ... vom ... 2014 vorgelegt. Aus dieser Bescheinigung geht hervor, dass der Kläger zu 1) einen ziemlich ausgeprägten depressiven Symptomenkomplex aufweise. Er müsse deswegen fachmännisch gezielt mit Antidepressiva behandelt werden. Es seien psychotherapeutische Gespräche erforderlich.

Mit Beschluss vom 26. Januar 2015 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Einem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wurde im Hinblick auf die beantragte Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG mit Beschluss vom 18. Juni 2015 stattgegeben. Im Übrigen wurde der Prozesskostenhilfeantrag abgelehnt.

Mit Schriftsatz vom 19. Juni 2015 legte der Klägerbevollmächtigte nochmals ärztliche Unterlagen in Bezug auf den Kläger zu 1) vor. Darunter befindet sich ein weiteres ärztliches Attest des Herrn Dr. med. ... vom ... 2015, welches inhaltlich dem bereits vorgelegten ärztlichen Attest vom ... 2014 entspricht. Außerdem liegt ein Arztschreiben der ... Dr. med. ... vom ... 2015 bei, aus dem sich ergibt, dass beim Kläger zu 1) eine koronare Herzkrankheit und ein depressives Syndrom diagnostiziert worden ist.

Wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf die Sitzungsniederschrift vom 8. Juli 2015 verwiesen. Ergänzend wird entsprechend § 117 Abs. 3 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Behördenakten, insbesondere auf die Niederschrift über die Anhörung des Klägers zu 1) gemäß § 25 AsylVfG im Asylerstverfahren am ... 2010 in Zirndorf, Bezug genommen.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am 8. Juli 2015 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen war. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Klage hat nur teilweise Erfolg.

Die Klage ist nicht begründet, soweit die Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG bzw. die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylVfG begehren. Denn die Kläger haben in dem nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf Durchführung weiterer Asylverfahren gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG. Insoweit ist der Bescheid des Bundesamts vom 21. Oktober 2014 rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

Die Klage ist jedoch begründet, soweit in Ziffer 2 des Bescheids des Bundesamts vom 21. Oktober 2014 die Anträge der Kläger auf Abänderung des Bescheides vom 25. August 2010 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 7 AufenthG abgelehnt wurden. Insoweit haben die Kläger einen Anspruch auf Wiederaufgreifen ihrer Verfahren gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 51 VwVfG. In diesem Umfang ist der Bescheid des Bundesamts vom 21. Oktober 2014 rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

1. Die Voraussetzungen für die Durchführung weiterer Asylverfahren gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG sind nicht erfüllt.

Nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist im Fall der Stellung eines erneuten Asylantrages nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrages (Folgeantrag) ein weiteres Asylverfahren nur dann durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Diese Vorschrift verlangt, dass sich die der Erstentscheidung zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zu Gunsten des Asylbewerbers geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), neue Beweismittel vorliegen, die eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG). Der Asylfolgeantrag ist nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außer Stande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf geltend zu machen (§ 51 Abs. 2 VwVfG). Der Antrag muss binnen drei Monaten gestellt werden, wobei die Frist mit dem Tag beginnt, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat (§ 51 Abs. 3 VwVfG).

Ausgehend von diesen Maßstäben haben die Anträge auf Wiederaufnahme der Verfahren keinen Erfolg.

1.1 Den Klägern kann die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG nicht zuerkannt werden, weil das neu vorgelegte Dokument nicht geeignet ist, die Widersprüche, die im Asylerstverfahren zur Abweisung der Klage geführt haben, auszuräumen. Das vorgelegte Dokument vom ... 2012 ist kein taugliches Beweismittel i. S. d. § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG, weil auch unter Einbeziehung dieses Dokuments das Vorbringen des Klägers zu 1) zu seinem Verfolgungsschicksal widersprüchlich und unglaubwürdig bleibt.

In dem Dokument vom ... 2012 hat die Schwester der Klägers zu 1) im Wesentlich ausgeführt, dass der Kläger zu 1) und seine Familie von den Taliban verfolgt worden seien. Diesen Sachvortrag hat bereits die Einzelrichterin im Asylerstverfahren als nicht glaubhaft erachtet (siehe Urteil vom 31. August 2011, Seite 9). Dies hat die damalige Einzelrichterin damit begründet, dass die Kläger nicht in der Lage gewesen sind, ihr fluchtauslösendes Ereignis detailliert und widerspruchsfrei zu schildern. Widersprüchlich sei u.a. gewesen, dass hinsichtlich der Anzahl und der Personenidentität der vermeintlichen Verfolger unterschiedliche Angaben gemacht worden seien (siehe Urteil vom 31. August 2011, Seite 9). Diese Widersprüche werden durch das Dokument vom ... 2012 nicht aufgelöst, so dass es nicht geeignet ist, den Klägern im Asylfolgeverfahren zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu verhelfen.

Abgesehen von den verbleibenden Widersprüchlichkeiten ist das Dokument vom ... 2012 auch deshalb nicht als taugliches Beweismittel i. S. d. § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG anzusehen, weil es – seine Echtheit unterstellt – lediglich beweist, dass eine Erklärung des Inhalts, wie er in dem Dokument enthalten ist, von der Schwester des Klägers zu 1) abgegeben worden ist, nicht aber, dass die darin enthaltenen Angaben der Wahrheit entsprechen. Im Übrigen kommt Dokumenten aus dem Heimatland, die eine behauptete (politische) Verfolgung belegen sollen, nur eingeschränkter Beweiswert zu; sie sind wegen der Unmöglichkeit, sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, ohne Hinzutreten weiterer Beweismittel oder Erkenntnisquellen nicht geeignet, die Tatsachenbehauptungen des Asylbewerbers glaubhaft zu machen (vgl. hierzu VG Köln, U.v. 27.11.2014 – 23 K 4370/13.A – juris Rn. 25).

1.2 Entsprechendes gilt für den von den Klägern begehrten subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylVfG. Auch insofern haben die Kläger kein neues Beweismittel vorgelegt, das geeignet ist, die Widersprüche des Klägers zu 1) aus dem Asylerstverfahren zu beseitigen. Mithin steht den Kläger auch kein Anspruch auf Feststellung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylVfG zu.

2. Die Kläger haben jedoch einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Dies beruht darauf, dass sie nach § 51 Abs. 5, § 49 VwVfG einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ihre Anträge haben. Dieser Anspruch verdichtet sich dann von Verfassungs wegen auf einen Rechtsanspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes und erlaubt damit eine abschließende gerichtliche Entscheidung zugunsten der Kläger, wenn ein Festhalten an der bestandskräftigen Entscheidung zu § 60 Abs. 7 AufenthG zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde. Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn der Ausländer bei einer Abschiebung einer extremen individuellen Gefahrensituation ausgesetzt würde und das Absehen von einer Abschiebung daher verfassungsrechtlich zwingend geboten ist (VG Augsburg, U.v. 22.11.2012 – Au 6 K 12.30289 – juris Rn. 25). Ausgehend hiervon haben die Kläger einen Rechtsanspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG sind die Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde anordnen, dass die Abschiebung für längstens sechs Monate ausgesetzt wird.

2.1 Der Kläger zu 1) kann sich bereits mit Erfolg auf einen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen berufen.

Nach den in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätzen ist die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu prüfen ist. Erforderlich aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche oder sogar lebensbedrohliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 - juris Rn. 16). Gründe hierfür können nicht nur fehlende Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat sein, sondern etwa auch, dass eine an sich vorhandene medizinische Behandlungsmöglichkeit aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen im Zielstaat rein tatsächlich nicht erlangt werden kann (BVerwG, U.v. 17.10.2006 a.a.O. Rn. 20).

Um ein durch eine Erkrankung begründetes Abschiebungshindernis feststellen zu können, ist indes stets eine hinreichend konkrete Darlegung der gesundheitlichen Situation erforderlich, die in der Regel durch ein ärztliches Attest zu untermauern ist. Zwar ist der Verwaltungsprozess grundsätzlich durch den in § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO statuierten Amtsermittlungsgrundsatz geprägt. Aus § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO und § 74 Abs. 2 AsylVfG ergibt sich jedoch die Pflicht der Beteiligten, an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken, was in besonderem Maße für Umstände gilt, die in die eigene Sphäre des Beteiligten fallen. Eine Erkrankung ist ein solcher Umstand. Insoweit muss von einem Kläger, der sich zur Begründung eines Abschiebungshindernisses auf eine Erkrankung beruft, ein Mindestmaß an substantiiertem, durch ein ärztliches Attest belegtem Vortrag erwartet werden (vgl. VG Gelsenkirchen, B.v. 17.2.2015 – 6a L 1901/14.A – juris Rn. 18).

Gemessen an diesen Maßstäben ist das Gericht nach Durchführung der mündlichen Verhandlung unter Würdigung der vorgelegten ärztlichen Atteste davon überzeugt, dass der Kläger zu 1) im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan eine ernsthafte und wesentliche Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes erleiden wird, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer konkreten und lebensbedrohlichen Gesundheitsgefahr führt.

Der Kläger zu 1) leidet nachweislich an einer koronaren Herzkrankheit. Dies ergibt sich aus dem Arztschreiben der ... Dr. med. ... vom ... 2015 sowie aus den ärztlichen Attesten des Herrn Dr. med. ... vom ... 2014 und ... 2015. Aus den ärztlichen Attesten des Herrn Dr. med. ... ergibt sich nachvollziehbar, auf welcher Grundlage er diese Diagnose gestellt hat und wie sich die koronare Herzkrankheit des Klägers zu 1) im konkreten Fall darstellt. So führt Herr Dr. med. ... zur Begründung seiner fachärztlichen Diagnose aus, dass es beim Kläger zu 1) am ... 2014 aufgrund eines Gefäßverschlusses zu einem akuten Herzinfarkt gekommen ist. Aufgrund dessen wurden eine doppelte Blutverdünnungsbehandlung sowie eine weitere medikamentöse Therapie eingeleitet. Außerdem lässt sich den ärztlichen Attesten ein noch immer bestehender Behandlungsbedarf entnehmen. Engmaschige fachärztlich-kardiologische Kontrollen seinen laut ärztlichem Attest vom ... 2015 zumindest noch ein Jahr lang erforderlich. Die spezielle Medikation müsse fortgesetzt werden. Schließlich ist den ärztlichen Attesten des Herrn Dr. med. ... vom ... 2014 und ... 2015 zu entnehmen, dass bei einer Rückkehr des Klägers zu 1) nach Afghanistan die Gefahr einer lebensbedrohlichen Verschlechterung der koronaren Herzkrankheit bestehe. Außerdem befindet sich der Kläger zu 1) laut einer nervenärztliche Bescheinigung des Herrn Dr. med. ... vom ... 2014 wegen eines depressiven Symptomenkomplexes in nervenärztlicher Behandlung. Aus der nervenärztlichen Bescheinigung vom ... 2014 ergibt sich auch, dass aufgrund der schwer ausgeprägten Depression des Klägers zu 1) eine intensive medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva und eine gesprächstherapeutische Therapie notwendig seien. Diese nervenärztliche Diagnose des Herrn Dr. med. ... wird zudem durch eine Stellungnahme der ... Dr. med. ... vom ... 2015 bestätigt. Anhaltspunkte, an der Richtigkeit der fachärztlichen Feststellungen zu zweifeln, gibt es nicht.

Das Gericht hält es aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel für ausgeschlossen, dass der Kläger zu 1) wegen seiner koronaren Herzerkrankung und seines depressiven Syndroms in Afghanistan adäquat und ausreichend behandelt werden kann. Denn die medizinische Versorgung in Afghanistan leidet trotz erkennbarer und erheblicher Verbesserungen landesweit weiterhin an unzureichender Verfügbarkeit von Medikamenten und Ausstattung der Kliniken, insbesondere an fehlenden Ärzten und Ärztinnen, sowie gut qualifizierten Assistenzpersonals. Im Jahr 2013 standen 10.000 Einwohnern Afghanistans ca. einer Person qualifizierten medizinischen Personals gegenüber. Die Behandlung von psychischen Erkrankungen findet, abgesehen von einzelnen Pilotprojekten, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Zwar gibt es in Kabul eine psychiatrische Einrichtung mit 60 Betten. Diese ist aber zum einen stets erheblich überfüllt. Zum anderen mangelt es in Afghanistan traditionell an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie werden eher in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen behandelt oder es wird ihnen in einer „Therapie“ mit Brot, Wasser und Pfeffer der „böse Geist ausgetrieben“ (Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31. März 2014, Stand: Februar 2014 - im Folgenden: Lagebericht 2014 - S. 20 f.). Neben dem Auswärtigen Amt geht auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe davon aus, dass in weiten Teilen Afghanistans keine ausreichende medizinische Versorgung besteht (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update vom 5. Oktober 2014, Die aktuelle Sicherheitslage, S. 20). Angesichts dieser unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten in Afghanistan ist davon auszugehen, dass dem Kläger zu 1) bei einer Rückkehr in sein Heimatland jedenfalls wegen seiner koronaren Herzerkrankung alsbald eine lebensbedrohliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes droht, sodass ihm bereits deshalb Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren ist.

Im Übrigen wäre für den Kläger zu 1) eine medizinische Versorgung in Afghanistan aus finanziellen Gründen tatsächlich nicht erreichbar. Staatliche soziale Sicherungssysteme – wie z.B. eine Krankenversicherung – existieren in Afghanistan praktisch nicht. Die soziale Absicherung liegt traditionell bei den Familien und Stammesverbänden. Hinzu kommt, dass Patienten für aufwändigere Behandlungen regelmäßig an teure Privatpraxen verwiesen werden. Außerdem müssen Patienten sich Medikamente in aller Regel selbst beschaffen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 10. Januar 2012, Stand: Januar 2012, S. 27). Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass er wegen seiner koronaren Herzerkrankung täglich sieben verschiedene Medikamente bzw. Wirkstoffe einnehmen müsse. Diese Medikamente seien ihm auch von seinen Ärzten Herrn Dr. ... und Herrn Dr. ... verschrieben worden. Außerdem hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung bekundet, dass sein Arzt zu seiner (dolmetschenden) Ehefrau gesagt hätte, dass er auch in Zukunft die Tabletten „immer nehmen müsse“ (Sitzungsniederschrift vom 8. Juli 2015, Seite 3 f.). Der Kläger zu 1) geht wegen seiner koronaren Herzkrankheit alle zwei Wochen zu seinem Internisten. Zudem muss der Kläger zu 1) wegen seiner Depressionen einmal täglich den Wirkstoff Amitriptylinhydrochlorid einnehmen. Er befindet sich wegen seiner Depressionen in nervenärztlicher Behandlung bei Herrn Dr. med. ..., den er alle drei Wochen besucht und in dessen Praxis er auch eine Spritze bekommt (Sitzungsniederschrift vom 8. Juli 2015, Seite 4). Das Gericht geht angesichts dieser Vielzahl von Medikamenten und Arztbesuchen, die das Gericht aufgrund der vorgelegten ärztlichen Atteste auch für notwendig und erforderlich hält, davon aus, dass der Kläger zu 1) die Kosten hierfür in Afghanistan nicht aufbringen könnte. Der Kläger wäre schon aufgrund seines Gesundheitszustandes und wegen der in ... bestehenden schwierigen Arbeitsmarktsituation mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage, nach einer Rückkehr eine Arbeitsstelle zu finden, um seine Medikamente und Behandlungskosten zu finanzieren. Als ungelernte Arbeitskraft (Sitzungsniederschrift vom 8. Juli 2015, Seite 4 f.) wird selbst eine Tagelöhnerarbeit für den Kläger zu 1) in ... kaum zu finden sein, weil dort bereits eine große Zahl Tagelöhner, die ihm gesundheitlich überlegen sind, Arbeit sucht. Vor dem Hintergrund seiner gesundheitlichen Probleme ist nicht zu erwarten, dass der Kläger zu 1) die nötige Energie und das Durchsetzungsvermögen im Kampf um einen Arbeitsplatz aufbringen kann. Eine Wiederaufnahme der Tätigkeit als selbständiger Taxifahrer kommt ebenfalls nicht in Betracht, da der Kläger zu 1) sein Auto verkauft hat, um seine Ausreise zu finanzieren (Sitzungsniederschrift vom 8. Juli 2015, Seite 5). Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Verwandten der Kläger aufgrund ihres Alters zu einer (ausreichenden) finanziellen Unterstützung des Klägers zu 1) in der Lage sind. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes liegt aktuell die Lebenserwartung in Afghanistan noch bei ca. 50 Jahren. Die Lebenserwartung bei Geburt liegt nur bei 60 Jahren (Lagebericht 2014, S. 20). Die in ... wohnende Schwester des Klägers zu 1) ist 55 Jahre alt. Der letzte noch in Afghanistan lebende Onkel des Klägers zu 1) ist bereits 60 Jahre alt. Von ihnen ist aufgrund ihres Alters eine (dauerhafte) finanzielle Unterstützung des Klägers zu 1) mithin nicht zu erwarten. Eine medizinische Versorgung in Afghanistan wäre für den Kläger zu 1) – abgesehen von den fehlenden Behandlungsmöglichkeiten – also auch finanziell nicht erreichbar.

2.2 Außerdem droht beiden Klägern unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Situation bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der allgemeinen Versorgungslage mit hoher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Eine solche Gefahr kann grundsätzlich auch in einer unzureichenden Versorgungslage in Afghanistan, die insbesondere für Rückkehrer ohne Berufsausbildung und ohne familiäre Unterstützung besteht, begründet sein. Dies stellt jedoch eine allgemeine Gefahr im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG dar, die auch dann nicht als Abschiebungshindernis unmittelbar nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden kann, wenn sie durch Umstände in der Person oder in den Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt wird, aber nur eine typische Auswirkung der allgemeinen Gefahrenlage ist (BVerwG, U.v. 8.12.1998 – 9 C 4.98BVerwGE 108, 77). Dann greift grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Eine Abschiebestoppanordnung besteht jedoch für die Personengruppen, denen die Kläger angehören, nicht.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist allerdings im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des BVerwG, z.B. U.v. 12.7.2001 - 1 C 5/01 - BVerwGE 115,1 m.w.N.).

Die allgemeine Gefahr in Afghanistan hat sich für beide Kläger derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung hierfür aufgestellten Voraussetzungen sind erfüllt (st. Rspr. des BayVGH, z.B. U.v. 20.1.2012 – 13a B 11.30425, U.v. 24.10.2013 – 13a B 13.30031, B.v. 28.11.2013 – 13.30293, B.v. 11.12.2013 – 13a ZB 13.30119, 13a ZB 13.30131, 13a ZB 13.30185 – alle juris; so auch VGH BW, U.v. 27.4.2012 – A 11 S 3079/11 – juris). Wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Die Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Das Erfordernis des unmittelbaren – zeitlichen – Zusammenhangs zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutverletzung setzt zudem für die Annahme einer extremen Gefahrensituation voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann (Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, § 60 AufenthG Rn. 54). Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09BVerwGE 137, 226).

Zwar ist vorliegend im Hinblick auf die allgemeine gesamtwirtschaftliche Lage in Afghanistan zu berücksichtigen, dass sich Afghanistan in fast allen Bereichen positiv entwickelt hat. Die Bewertung Afghanistans im Human Development Index (HDI) hat sich kontinuierlich verbessert. Die afghanische Wirtschaft ist – nach einer Dekade starken Wachstums – im Jahr 2013 immerhin noch um 3 % gewachsen (Lagebericht 2014, S. 19).

Die allgemeine Versorgungslage in Afghanistan gestaltet sich aber nach wie vor schwierig. Das Auswärtige Amt teilt mit, dass ein Anteil von rund 36 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebe. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte fehle es vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Transport, Energie und Trinkwasser. Das rapide Bevölkerungswachstum stelle eine weitere besondere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar (Lagebericht 2014, S. 19). Nach Erkenntnissen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe habe die Regierung in Kabul mit der Verstädterung besonders bei den sanitären Bedingungen nicht Schritt halten können. Die hohe Arbeitslosigkeit treffe vor allem Jugendliche, die deswegen besonders verletzlich seien (SFH-Update vom 11. August 2010 zur aktuellen Sicherheitslage, S. 16 ff.). Aufgrund der andauernden Gewalt, der politischen Instabilität sowie der extremen Armut und den zahlreichen Naturkatastrophen befinde sich das Land in einer humanitären Notlage (SFH-Update vom 23. August 2011 zur aktuellen Sicherheitslage, S. 18). Viele Menschen könnten nicht für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Etwa zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung hätten keinen Zugang zu Trinkwasser. Die Kinder- und Müttersterblichkeit sei sehr hoch, die medizinische Versorgung sehr schlecht (SFH-Update vom 23. August 2011, S. 18 f.).

In der Gesamtschau der aktuellen Auskünfte ist zwar nicht davon auszugehen, dass jeder Rückkehrer aus Europa generell in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung nach ... erleiden müsste (vgl. BayVGH, U.v. 20.1.2012 – 13a B 11.30425 – juris Rn. 32 ff.; U.v. 8.11.2012 – 13a B 11.30465 – UA S. 25 ff.; VGH BW, U.v. 14.5.2009 – A 11 S 983/06 – juris Rn. 28). Nach Auffassung des Gerichts kann sich aber eine extreme Gefahrenlage jedenfalls für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien und Personen, die aufgrund besonderer persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, ergeben (vgl. VG Augsburg, U.v. 11.3.2013 – Au 6 K 12.30363 – juris Rn. 30). Vom Bestehen einer extremen Gefahrenlage ist insbesondere im Falle von unbegleiteten Minderjährigen auszugehen, weil diese besonders schutzbedürftig sind. Denn anders als bei volljährigen und ausgewachsenen Männern ist bei auf sich selbst gestellten, körperlich noch nicht ausgereiften Kindern und Jugendlichen nicht die Annahme tragfähig, dass sie sich ohne Beziehungen und ohne Familienverband, insbesondere in einer Großstadt wie Kabul, zurechtfinden und etwa als Taglöhner auf dem Bau arbeiten und sich damit notdürftig ernähren könnten (VG München, U.v. 8.3.2013 – M 23 K 12.30521 – juris Rn. 21).

2.2.1 Gemessen an diesen Maßstäben kann sich der Kläger zu 1) auch aufgrund der allgemeinen Versorgungslage in Afghanistan wegen der ihm drohenden extremen Gefahrenlage auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berufen.

Wie bereits oben ausgeführt, ist der Kläger zu 1) aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen und der harten Arbeitsmarktsituation in Afghanistan schon nicht in der Lage, seine erforderlichen Medikamente und ärztlichen Behandlungen durch eigene Erwerbstätigkeit bzw. familiäre Unterstützung zu finanzieren. Er wird deshalb erst recht nicht in der Lage sein, sein Existenzminimum in Afghanistan zu sichern. Für das Vorliegen einer extremen Gefahrenlage in der Person des Klägers zu 1) spricht also insbesondere, dass dieser aufgrund seiner koronaren Herzkrankheit und seiner Depressionen zum besonders schutzbedürftigen Personenkreis der afghanischen Rückkehrer zählt.

2.2.2 Neben dem Kläger zu 1) ist aber auch dem minderjährigen Kläger zu 2) aufgrund der allgemeinen Versorgungslage in Afghanistan Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.

Der am ... 2003 in ... geborene Kläger zu 2) ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gerade einmal 12 Jahre alt. Da – wie bereits ausführlich dargelegt – der Kläger zu 1) einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat und dieser deswegen nicht nach Afghanistan abgeschoben werden kann, wäre der Kläger zu 2) im Falle seiner Abschiebung nach Afghanistan als unbegleiteter Minderjähriger anzusehen. Als auf sich allein gestellter Minderjähriger würde der Kläger zu 2) in Afghanistan zum besonders schutzbedürftigen Personenkreis der afghanischen Rückkehrer gehören. Das Gericht hat zwar in der mündlichen Verhandlung den Eindruck gewonnen, dass es sich beim Kläger zu 2) um ein normal entwickeltes Kind ohne körperliche und geistige Reifedefizite handelt. Das Gericht ist aber aufgrund der persönlichen Anhörung des Klägers zu 2) ebenfalls davon überzeugt, dass der Kläger zu 2) entsprechend seiner körperlichen, sittlichen und geistigen Reife eindeutig nicht mit einem jungen Erwachsenen gleichgestellt werden kann. Die Sprache, der Ausdruck und das Verhalten des Klägers zu 2) zeigten typische kindliche bzw. jugendliche Merkmale auf. Das Gericht geht deshalb nicht davon aus, dass der Kläger zu 2) über genügend Lebenserfahrung und (Allgemein-)Wissen verfügt, um sich (allein) in Afghanistan durchzuschlagen. Hinzu kommt, dass sich der Kläger zu 2) an die örtlichen Gegebenheiten in ... nicht mehr erinnern kann (Sitzungsniederschrift vom 8. Juli 2015, Seite 6). Der Kläger zu 2) kann „die Sprache Dari nur ganz wenig sprechen“ (Sitzungsniederschrift vom 8. Juli 2015, Seite 5). Im Rahmen der Einzelfallprüfung hat das Gericht daneben auch entscheidend berücksichtigt, dass sich der Kläger zu 2) mit den afghanischen Verhaltensregeln, Riten und Wertvorstellungen nicht auskennt, weil er Afghanistan verlassen hat, als er noch sehr klein war (Sitzungsniederschrift vom 8. Juli 2015, Seite 6). Der Kläger zu 2) kann auch nicht auf ein belastbares Familiennetz in Afghanistan zurückgreifen. Seine Verwandten väterlicherseits sind – wie bereits dargelegt – aufgrund ihres für afghanische Verhältnisse höchst fortgeschrittenen Alters zu einer (dauerhaften) finanziellen Unterstützung des Klägers zu 2) nicht mehr in der Lage. Denn die in ... wohnende Tante des Klägers zu 2) ist schon 55 Jahre alt. Auch der letzte väterlicherseits noch in Afghanistan lebende Großonkel des Klägers zu 2) ist bereits 60 Jahre alt. Gleiches gilt im Hinblick auf die Verwandten des Klägers zu 2) mütterlicherseits. Die Großtante des Klägers zu 2) ist nämlich auch schon 50 Jahre alt (Sitzungsniederschrift vom 8. Juli 2015, Seite 5). Es kann also auch insoweit nicht mit ausreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Klägers zu 2) eine hinreichende (finanzielle) Unterstützung durch seine Verwandten mütterlicherseits zu erwarten hat. Außerdem hat der Kläger zu 2) in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass er insbesondere die Verwandten seiner Mutter nicht so gut kenne (Sitzungsniederschrift vom 8. Juli 2015, Seite 6). Der minderjährige Kläger zu 2) wäre also bei einer Abschiebung nach Afghanistan (maßgeblich) darauf angewiesen, seine Lebensgrundlage durch eigene Erwerbstätigkeit zu sichern. Dies dürfte dem Kläger zu 2) aber aller Voraussicht nach nicht gelingen. In sämtlichen einschlägigen Erkenntnismitteln wird immer wieder auf die hohe Arbeitslosigkeit in Afghanistan hingewiesen. Die Arbeitsmöglichkeiten sind sehr begrenzt. Da es in Folge dessen in Afghanistan ausreichend Arbeitskräfte gibt, findet ein großer Verdrängungskampf um die knappen Arbeitsmarktressourcen statt. Die Experten gehen davon aus, dass am ehesten noch junge erwachsene Männer einfache Jobs finden, bei denen harte körperliche Arbeit gefragt ist. Hingegen sind die Chancen Minderjähriger im Verdrängungskampf um die knappen Arbeitsmarktressourcen im Vergleich zu denen (junger) Erwachsener als aussichtslos einzuschätzen (vgl. hierzu VG München, U.v. 2.4.2014 – M 16 K 13.30970 – juris Rn. 24).

Aus den dargelegten Gründen ist die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch für den minderjährigen Kläger zu 2) gegeben sind.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylVfG nicht erhoben. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.