BGH, Beschluss vom 02.12.2010 - IX ZB 160/10
Fundstelle
openJur 2011, 13427
  • Rkr:
Tenor

Der Schuldnerin wird wegen Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund vom 10. Mai 2010 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Auf die Rechtsmittel der Schuldnerin werden der Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund vom 10. Mai 2010 und der Beschluss des Amtsgerichts Dortmund vom 4. Februar 2010 aufgehoben.

Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 1.750 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

In dem am 3. November 2008 eröffneten Verbraucherinsolvenzverfahren, in dem der Schuldnerin die Verfahrenskosten gestundet waren, kündigte das Insolvenzgericht dieser am 4. Februar 2010 die Restschuldbefreiung an, sofern sie ihre Obliegenheiten während der Laufzeit der Abtretungserklärung erfüllte. Zur Überprüfung der Stundungsvoraussetzungen forderte das Gericht die Schuldnerin im September 2009 auf, ihre Bemühungen um Arbeitsaufnahme darzulegen. Für die in einer städtischen Obdachlosensiedlung lebende Schuldnerin teilte daraufhin das sie betreuende Diakonische Werk mit, Bemühungen um eine Beschäftigung hätten während des gesamten Insolvenzverfahrens stattgefunden, diese seien jedoch wegen mehrerer Vermittlungshemmnisse wie mangelnder Schul- und fehlender Berufsausbildung bislang erfolglos geblieben.

Nach Erteilung dieser Auskunft hat das Insolvenzgericht die Stundung der Verfahrenskosten aufgehoben, weil die Schuldnerin keine angemessene Erwerbstätigkeit ausübe und sich auch nicht hinreichend um eine solche Tätigkeit bemüht habe. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde ist erfolglos geblieben. Mit ihrer Rechtsbeschwerde begehrt die Schuldnerin Änderung des Beschlusses über die Aufhebung der Verfahrenskostenstundung.

II.

Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO, §§ 7, 6 Abs. 1, § 4d Abs. 1 InsO statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und der Entscheidung des Insolvenzgerichts.

1. Das Beschwerdegericht ist der Auffassung, die Schuldnerin könne nicht damit gehört werden, aufgrund ihrer sozialen, persönlichen und bildungsbezogenen Defizite und Schwierigkeiten (Abbruch der Sonderschule für Lernbehinderte nach der 6. Klasse, keine weitere schulische oder beruflich Ausbildung nach Heirat) nicht in der Lage zu sein, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen und Einkommen zu erzielen. Sie müsse zunächst einmal konkret schildern, seit wann, wie häufig, bei welchen Stellen und für welche Arten von Arbeitstätigkeit bislang überhaupt Vermittlungsversuche unternommen worden seien.

2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Insolvenz- und Beschwerdegericht hätten die der Schuldnerin gewährte Verfahrenskostenstundung nicht aufheben dürfen. Die Voraussetzungen des einzig in Betracht kommenden Aufhebungsgrunds des § 4c Nr. 4 InsO sind nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift kann das Insolvenzgericht die zuvor gemäß § 4a InsO gewährte Stundung der Kosten des Insolvenzverfahrens aufheben, wenn der Schuldner keine angemessene Erwerbstätigkeit ausübt und, wenn er ohne Beschäftigung ist, sich nicht um eine solche bemüht oder eine zumutbare Tätigkeit ablehnt. Infolge des gesetzlichen Verweises auf § 296 Abs. 2 Satz 2 und 3 InsO ist die Stundung außerdem aufzuheben, wenn der Schuldner über die Erfüllung dieser Obliegenheit auch nach Fristsetzung keine Auskunft erteilt. Unter beiden Gesichtspunkten ist die Aufhebung nicht gerechtfertigt.

a) Auf eine Verletzung der Auskunftspflicht hat das Beschwerdegericht die Aufhebung der Verfahrenskostenstundung nicht gestützt. Es hat zwar ausgeführt, die von der Schuldnerin vorgelegten Unterlagen reichten nicht aus, um von einer angemessenen Erwerbstätigkeit oder hinreichenden Bemühungen um eine solche Beschäftigung auszugehen. Dass die Schuldnerin auf Verlangen des Gerichts - wenn auch aus dessen Sicht unbefriedigend - Auskunft erteilt hat, steht aber außer Frage.

b) Die Stundung kann der Schuldnerin entgegen der Auffassung der Vorinstanzen nicht ohne weiteres entzogen werden, wenn die Schuldnerin zwar keine konkreten Angaben zu ihren Bemühungen um Aufnahme einer Erwerbstätigkeit macht, sich aber mit hinreichender Substanz darauf beruft, auf Grund ihrer Ausbildung, ihrer Fähigkeiten, einer früheren Erwerbstätigkeit, ihres Lebensalters oder ihres Gesundheitszustandes nicht in der Lage zu sein, eine Tätigkeit zu finden, mit der sie einen Verdienst erzielen kann, der zu pfändbaren Einkünften führt.

aa) Der Bundesgerichtshof hat wiederholt entschieden, dass die Stundung der Kosten des Verfahrens nicht schon deshalb aufgehoben werden kann, weil der beschäftigungslose Schuldner sich nicht um eine Beschäftigung bemüht, wenn er nicht in der Lage ist, Einkünfte oberhalb der Pfändungsfreigrenze zu erzielen, und die Befriedigung der Insolvenzgläubiger somit nicht beeinträchtigt ist (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 22. Oktober 2009 - IX ZB 160/09, ZInsO 2009, 2210 Rn. 11 ff; v. 22. April 2010 - IX ZB 253/07, ZInsO 2010, 1153 Rn. 8 f). Ebenso wie die Versagung der Restschuldbefreiung wegen Verletzung der in § 295 Abs. 1 Nr. 1 InsO bestimmten Erwerbsobliegenheit setzt auch die Aufhebung der Stundung gemäß § 4c Nr. 4 InsO wegen Verletzung der Erwerbspflicht voraus, dass hierdurch die Befriedigung der Insolvenzgläubiger beeinträchtigt worden ist (§ 296 Abs. 1 Satz 1 InsO). Ist der Schuldner aufgrund seiner Ausbildung, seiner Fähigkeiten, einer früheren Erwerbstätigkeit, seines Lebensalters oder seines Gesundheitszustands (vgl. § 1574 Abs. 2 BGB) nicht in der Lage, eine Tätigkeit zu finden, mit der er einen Verdienst erzielt, der zu pfändbaren Einkünften führt, darf ihm die Stundung nicht entzogen werden.

bb) Mit diesen Grundsätzen sind die Entscheidungen der Vorinstanzen nicht zu vereinbaren. Insolvenz- und Beschwerdegericht haben nicht festgestellt, dass die Befriedigungsaussichten der Gläubiger durch nicht ausreichende Bemühungen der Schuldnerin, eine Erwerbstätigkeit zu finden, beeinträchtigt worden sind. Ob die Schuldnerin unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse und der Verhältnisse am Arbeitsmarkt überhaupt in der Lage ist, eine Arbeitsstelle zu finden, bei der sie pfändbare Einkünfte erzielen kann, scheint nach dem Inhalt der Schreiben des Diakonischen Werkes vom 26. Oktober 2009 und vom 1. März 2010 ausgeschlossen zu sein. Auf bloß theoretische, tatsächlich aber unrealistische Möglichkeiten, einen angemessenen Arbeitsplatz zu erlangen, darf ein Schuldner nicht verwiesen werden (vgl. BGH, Beschl. v. 7. Mai 2009 - IX ZB 133/07, NZI 2009, 482, 483; v. 22. April 2010 - IX ZB 253/07, aaO Rn. 9; MünchKomm-InsO/Ehricke, aaO § 295 Rn. 38; FK-InsO/Ahrens, 5. Aufl. § 295 Rn. 29).

III.

Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben. Er ist aufzuheben. Der Senat hat in der Sache selbst zu entscheiden, weil die Aufhebung der Entscheidung nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Rechts auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist (§ 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO). Nach den bereits zitierten Schreiben des die Schuldnerin betreuenden Diakonischen Werkes kann ausgeschlossen werden, dass die Schuldnerin in der Lage ist, eine Beschäftigung zu finden, die zu Einkünften führt, von denen ein Teilbetrag pfändbar ist. Andere Feststellungen haben die Vorinstanzen im Rahmen der ihnen obliegenden Pflicht zur Amtsermittlung nicht gewonnen. Weitere Erkenntnis-

möglichkeiten, die zu einem anderen Ergebnis führen könnten, gibt es nicht. Deshalb kann die Entscheidung des Insolvenzgerichts keinen Bestand haben.

Kayser Raebel Pape Grupp Möhring Vorinstanzen:

AG Dortmund, Entscheidung vom 04.02.2010 - 253 IK 164/08 -

LG Dortmund, Entscheidung vom 10.05.2010 - 9 T 168/10 -