BGH, Beschluss vom 26.09.2006 - VIII ZR 180/04
Fundstelle
openJur 2011, 10970
  • Rkr:
Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 19. Mai 2004 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird für die Zeit bis zum 3. Januar 2005 auf 2.930.663,33 € und für die Zeit ab dem 4. Januar 2005 auf 2.699.690,04 € festgesetzt. An diesem Streitwert ist die Beklagte zu 2 bis zum 3. Januar 2005 mit 2.739.433,59 € und für die Zeit ab dem 4. Januar 2005 mit 2.508.460,30 € beteiligt.

Gründe

I.

Die Klägerin und die T. (im Folgenden: T. ), die Rechtsvorgängerin der Beklagten zu 1, schlossen am 22. Dezember 1994 einen "Vertriebs- und Handelsvertretungs-Vertrag" (Anlage K 1 zur GA). Danach war die Klägerin zum ausschließlichen Vertrieb von Geflügelimpfstoffen und tierärztlichen Produkten der T. in Syrien auf eigene Kosten berechtigt. Die nach syrischem Recht erforderliche Registrierung dieser Produkte war Aufgabe der Klägerin; gemäß Ziff. 6 des Vertrags hatte T. die hierdurch entstehenden Kosten zu tragen und alle erforderlichen Dokumente und Unterlagen zur Verfügung zu stellen.

Die Beklagte zu 1, deren persönlich haftende Gesellschafterin die Beklagte zu 2 ist, wurde im Jahre 1996 anlässlich einer Zusammenlegung von Unternehmensbereichen der sogenannten L. -Gruppe gegründet; aufgrund dessen trat die Beklagte zu 1 im Sommer 1996 an Stelle der T. in den Vertriebsvertrag ein. Infolge dieser Umstrukturierungsmaßnahme ("Fusion"), deren Bevorstehen der Klägerin spätestens seit dem 7. Februar 1996 bekannt war, wurden die auf Veranlassung der Klägerin bereits durch syrische Behörden erteilten Registrierungen für Produkte der T. gegenstandslos. Die Klägerin und die Beklagte zu 1 vereinbarten am 9. August 1996 (Besprechungsprotokoll Anlage B 3 zur GA, S. 7), dass die Klägerin versuchen sollte, eine - im syrischen Recht nicht vorgesehene - "Umregistrierung" der Produktzulassungen zu erreichen. Dies gelang in der Folgezeit nur teilweise. Zwischen den Parteien ist streitig, ob die Beklagte zu 1 für Verzögerungen verantwortlich ist, die im Registrierungsverfahren eingetreten sind.

Am 5. November 1997 schlossen die Klägerin und die Beklagte zu 1 eine Vereinbarung (GA I 89 ff.), in der die Klägerin unter Ziff. 3 anerkannte, der Beklagten zu 1 den Betrag von 424.012,87 DM zu schulden. Die Parteien vereinbarten in Ziff. 4 Ratenzahlung durch die Klägerin; gemäß Ziff. 6 sind ein Recht der Klägerin zur Aufrechnung mit etwaigen Gegenforderungen gleich welcher Art sowie ein Zurückbehaltungsrecht gegenüber dem vorgenannten Zahlungsanspruch grundsätzlich ausgeschlossen. Unter Ziff. 9 ist der Klägerin die Geltendmachung von ihr behaupteter Schadensersatzansprüche unter anderem wegen angeblicher Verzögerungen im Zusammenhang mit der fusionsbedingten neuen Registrierung und wegen angeblicher Haltbarkeitsmängel gelieferter Ware vorbehalten; nach Ziff. 11 sind mit dem Abschluss und der Erfüllung des Vergleichs sämtliche bestehenden gegenseitigen Ansprüche - mit Ausnahme der vorgenannten Schadensersatzansprüche der Klägerin - erledigt. Die Klägerin zahlte bis April 1998 einen Teilbetrag von 50.000 DM an die Beklagte zu 1.

In einem Schreiben vom 15. April 1998 (GA I 94 f.) vertrat die Klägerin die Auffassung, die Geschäftsgrundlage für die Vereinbarung vom 3. (richtig: 5.) November 1997 sei wegen des Verhaltens der Beklagten entfallen; sie habe deshalb die Ratenzahlungen auf die Restschuld eingestellt. Hilfsweise erklärte sie die Anfechtung der Vereinbarung. Des Weiteren rechnete sie mit Schadensersatzforderungen gegen den restlichen Zahlungsanspruch der Beklagten zu 1 von 374.012,87 DM auf. Ende Mai 1998 erklärten die Beklagte zu 1 und die Klägerin wechselseitig die fristlose Kündigung des Vertriebs- und Handelsvertretungsvertrags vom 22. Dezember 1994 (Anlage B 1 und B 2 i.V.m. Anlage K 59 zur GA).

Mit ihrer Klage hat die Klägerin von den Beklagten als Gesamtschuldnern Zahlung von Schadensersatz wegen entgangenen Gewinns in Höhe von 5.202.548 DM (2.660.020,50 €) nebst Zinsen verlangt und mit zwei weiteren Anträgen die Feststellung darüber hinausgehender Schadensersatzpflichten der Beklagten begehrt. Die Beklagte zu 1 hat im Wege der Widerklage von der Klägerin Zahlung von 191.229,74 € (374.012,87 DM) nebst Zinsen verlangt.

Das Landgericht hat durch Grund- und Teilurteil die Klage hinsichtlich zweier Schadenspositionen dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt - jedoch beschränkt auf den Zeitraum vom 1. Juli 1996 bis zum 5. November 1997 - und die Klage hinsichtlich etwaiger später eingetretener Schäden und weiterer Schadensersatzansprüche der Klägerin sowie beider Feststellungsanträge abgewiesen; der Widerklage hat das Landgericht stattgegeben. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht - unter Zurückweisung ihrer weitergehenden Berufung - die Schadensersatzansprüche der Klägerin ohne die vorgenannte zeitliche Beschränkung sowie hinsichtlich weiterer Schadenspositionen dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und dem ersten - umformulierten - Feststellungsantrag der Klägerin im Wesentlichen stattgegeben; die Widerklage hat es abgewiesen. Die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde erstreben die Beklagten im Ergebnis die vollständige Abweisung der Klage; die Beklagte zu 1 begehrt des Weiteren die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils hinsichtlich der Widerklage.

II.

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision hat Erfolg. Der Beschwerde ist stattzugeben, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 2. Alt., 544 Abs. 6 und 7 ZPO). Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

Das Berufungsgericht hat dem Grunde nach eine gesamtschuldnerische Verpflichtung der Beklagten zur Leistung von Schadensersatz aus positiver Vertragsverletzung mit der Begründung bejaht, die Beklagte zu 1 habe eine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen der Klägerin verletzt; die Beklagte zu 1 habe es unterlassen, bei der "Fusion" die schützenswerten Belange der Klägerin zu berücksichtigen und geeignete Maßnahmen zu treffen, um durch die Umstrukturierung bedingte Schäden von ihr abzuwenden. Zu Recht rügt die Nichtzulassungsbeschwerde, dass diese Annahme des Berufungsgerichts von den bisher getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht getragen wird und dass das Berufungsgericht unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG Vorbringen der Beklagten übergangen hat.

1. Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Berufungsgericht allerdings angenommen, dass die Beklagte zu 1 aufgrund des Vertriebs- und Handelsvertretungsvertrags vom 22. Dezember 1994 - in den sie als Rechtsnachfolgerin der T. eingetreten ist - nicht verpflichtet war, im Hinblick auf die Interessen der Klägerin von der Fusion insgesamt Abstand zu nehmen. Im Bereich des Vertriebs durch Handelsvertreter und Vertragshändler entspricht es ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 136, 295, 298 f. m.w.Nachw.), dass der Unternehmer grundsätzlich in seinen geschäftlichen Dispositionen frei ist und die in diesem Bereich anfallenden Entscheidungen in eigener Verantwortung zu treffen hat.

Dabei darf er jedoch - auch das hat das Berufungsgericht im Ansatz richtig gesehen - den Interessen des Absatzmittlers nicht willkürlich ohne vertretbaren Grund zuwiderhandeln, sondern muss vielmehr dessen schutzwürdigen Belangen angemessen Rechnung tragen (BGHZ aaO). Wie das Berufungsgericht unangegriffen festgestellt hat, wurde die Klägerin, die nach dem Vertriebsvertrag zum ausschließlichen Vertrieb von Geflügelimpfstoffen und tierärztlichen Produkten der T. in Syrien berechtigt war, durch die Umstrukturierungsmaßnahme, aus der die Beklagte zu 1 hervorgegangen ist, in ihren Absatzinteressen schwerwiegend betroffen. Denn die Umstrukturierung hatte zur Folge, dass die auf Veranlassung der Klägerin bereits durch syrische Behörden erteilten Registrierungen für Produkte der T. - die Voraussetzung für deren Vertrieb durch die Klägerin in Syrien waren - gegenstandslos wurden und es daher einer erneuten Registrierung beziehungsweise "Umregistrierung" der Produktzulassungen bedurfte.

Das Berufungsurteil lässt aber Ausführungen dazu vermissen, welche konkrete Handlungspflicht - deren Verletzung einen Schadensersatzanspruch der Klägerin zur Folge haben könnte - sich daraus für die Beklagte zu 1 zum Schutz der Interessen der Klägerin ergab. Soweit es hierzu in den Gründen des Berufungsurteils heißt, die Beklagte zu 1 hätte sich sofort und umfassend bemühen müssen, die Voraussetzungen für einen reibungslosen Übergang in Syrien zu schaffen, war die Beklagte zu 1 jedenfalls nicht dazu verpflichtet, von sich aus für eine Neu- oder "Umregistrierung" ihrer Produkte in Syrien zu sorgen; denn nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war es im Rahmen des Vertriebsvertrags Aufgabe der Klägerin, die erforderlichen Registrierungen zu veranlassen. Das Berufungsgericht hat im Übrigen keine Feststellungen getroffen, aus denen sich ergibt, welche anderen konkreten Maßnahmen die Beklagte zu 1 in der Zeit vor oder nach der zum 1. Juli 1996 erfolgten Fusion von sich aus hätte ergreifen können und müssen, um der Klägerin die von dieser aufgebauten Vertriebsmöglichkeiten in Syrien so weit wie möglich zu erhalten. Nachdem die Klägerin - spätestens am 7. Februar 1996 - von der bevorstehenden Umstrukturierung Kenntnis erlangt hatte, haben sie und die Beklagte zu 1 am 9. August 1996 vereinbart, dass die Klägerin versuchen sollte, eine - im syrischen Recht nicht vorgesehene - "Umregistrierung" der Produktzulassungen zu erreichen. Eine (schuldhafte) Verletzung vertraglicher Pflichten durch die Beklagte zu 1 kommt daher von diesem Zeitpunkt an nur unter dem Gesichtspunkt in Betracht, dass sie es unterlassen hat, der Klägerin gemäß Ziff. 6 des Vertriebsvertrags alle für das Registrierungsverfahren erforderlichen Dokumente und Unterlagen zur Verfügung zu stellen und hierbei - zur Wahrung der berechtigten Belange der Klägerin - unnötige Verzögerungen zu vermeiden.

2. Zu Recht rügt die Nichtzulassungsbeschwerde, dass das Berufungsgericht Vorbringen der Beklagten bezüglich der Erfüllung dieser vertraglichen Mitwirkungspflicht der Beklagten zu 1 übergangen und hierdurch das Grundrecht der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfGE 96, 205, 216 m.w.Nachw.). Ein Verstoß gegen dieses Gebot liegt hier vor.

a) Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zutreffend aufzeigt, haben die Beklagten in den Vorinstanzen unter anderem vorgetragen, die Klägerin habe - im Anschluss an die vorgenannte Vereinbarung vom 9. August 1996, bei der die Klägerin darauf bestanden habe, "alles nach ihren Vorstellungen und mit ihren Beziehungen regeln" zu dürfen (GA VIII 1157; Besprechungsprotokoll Anl. B 3 S. 7) - erstmals mit Telefaxschreiben vom 6. Oktober 1996 mitgeteilt, welche Unterlagen sie für die "Umregistrierung" in Syrien konkret benötigte. Die Beklagte zu 1 habe daraufhin - wie sie im Einzelnen dargelegt hat - alle Anstrengungen unternommen, um diese Anforderungen zu erfüllen und den Änderungs- und Ergänzungswünschen der Klägerin zeitnah zu entsprechen; soweit es zu Verzögerungen bei der Beschaffung behördlicher Bescheinigungen gekommen sei, seien ihr keine Versäumnisse anzulasten. Dies ergebe sich auch aus einer "Erfolgsmeldung" der Klägerin vom 18. Januar 1997, in der die Klägerin der Beklagten zu 1 keine Vorhaltungen in Bezug auf eine etwaige fehlende oder verzögerte Mitwirkung gemacht, sondern ihr vielmehr mitgeteilt habe, dass sie mit den Registrierungsbehörden alles geklärt habe und dass sämtliche in der Anlage aufgeführten T. -Produkte auf die Beklagte zu 1 umgeschrieben würden (Anl. B 7).

Soweit das Berufungsgericht des Weiteren eine Schadensersatzverpflichtung der Beklagten betreffend Desinfektionsmittel und Insektizide für den tiermedizinischen Bereich - für die es keiner förmlichen Zulassung bedurfte - darauf gestützt hat, dass die Beklagte zu 1 es "nach der entsprechenden Anforderung mit Schreiben vom 9. August 1996" versäumt habe, schnellstmöglich für die Beschaffung der erforderlichen "Free-Sales"-Zertifikate zu sorgen, zeigt die Nichtzulassungsbeschwerde zutreffend auf, dass die Beklagten den Erhalt einer solchen Bestellung der Klägerin bestritten haben. Eine (mündliche) Anforderung von Zertifikaten, die die Beklagte zu 1 zu deren unverzüglicher Übersendung hätte verpflichten können, ist auch nicht ohne weiteres dem Besprechungsprotokoll vom 9. August 1996 zu entnehmen; danach hat die Klägerin erklärt, sie werde die gleichen Dossiers und "neue alte" Free-Sales-Zertifikate verwenden, "deren Wortlaut L. [die Beklagte zu 1] noch erhält" (Anl. B 3 S. 8).

b) Die Gründe des Berufungsurteils lassen nicht erkennen, dass das Berufungsgericht dieses Vorbringen der Beklagten bei seiner Entscheidung berücksichtigt hat. Zwar ist in der Sachverhaltsdarstellung der Urteilsgründe ausgeführt, zwischen den Parteien sei streitig, welche Unterlagen im Einzelnen für die "Umregistrierung" erforderlich waren, wie weit die Verhandlungen der Klägerin mit den syrischen Behörden zu bestimmten Zeitpunkten gediehen waren und ob die Beklagte zu 1 die Zuarbeiten zeitnah und ordnungsgemäß erledigt hat, die erforderlich waren, um die "Umregistrierung" herbeizuführen; im Einzelnen sei streitig, ob und inwieweit eine schnellere Bearbeitung durch die Beklagte zu 1 möglich gewesen wäre. In der Begründung seiner Entscheidung hat sich das Berufungsgericht jedoch nicht mit dem entsprechenden Sachvortrag der Beklagten auseinandergesetzt. Da dieser den Kern des Vorwurfs pflichtwidrigen Verhaltens betrifft, der für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, lässt dies auf eine Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen (BGH, Urteil vom 18. Mai 2006 - IX ZR 53/05, WM 2006, 1736, unter II 1 b bb (3)). Darin liegt ein Verstoß gegen den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs, auf dem das angefochtene Urteil beruht. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht - hätte es das Vorbringen der Beklagten berücksichtigt - eine (schuldhafte) Pflichtverletzung der Beklagten zu 1 als Grundlage des Schadensersatzbegehrens der Klägerin verneint hätte.

III.

Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, das Berufungsurteil gemäß § 544 Abs. 7 ZPO aufzuheben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Soweit es danach noch darauf ankommen sollte, wird sich das Berufungsgericht dabei auch mit den Einwänden der Nichtzulassungsbeschwerde gegen die von ihm angenommene Kündigung der Vereinbarung vom 5. November 1997 durch das Schreiben der Klägerin vom 15. April 1998 zu befassen haben.

Ball Dr. Wolst Dr. Frellesen Hermanns Dr. Hessel Vorinstanzen:

LG Stade, Entscheidung vom 14.04.2000 - 8 O 50/98 -

OLG Celle, Entscheidung vom 19.05.2004 - 3 U 251/00 -