BGH, Urteil vom 19.12.2006 - 1 StR 326/06
Fundstelle
openJur 2011, 9993
  • Rkr:
Tenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts München I vom 24. Februar 2006 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge jeweils in zwei Fällen freigesprochen, weil es nach Ausschöpfung aller Beweismittel - so das Landgericht - Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten nicht überwinden konnte. Gegen diesen Freispruch richtet sich die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie eine Aufklärungsrüge erhebt und die Verletzung materiellen Rechts rügt.

Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Dem Angeklagten war folgender Sachverhalt zur Last gelegt worden:

Er sei der Rauschgiftlieferant der Zeugen H. I. , seines Cousins, und G. gewesen. Bei einem Treffen der Zeugen im Februar 1999 mit ihm in Rotterdam, bei dem eine weitere unbekannte Person - genannt "K. " - zugegen gewesen sei, habe man vereinbart, dass G. jede zweite Woche vom Angeklagten in Frankfurt Rauschgift zum Weiterverkauf erhalte und jeweils 20.000 DM an den Angeklagten bezahle. Ein bis zwei Wochen später habe der Angeklagte mit "K. " 500 g Kokain und 500 g Heroin guter Qualität aus den Niederlanden nach München verbracht und dort an G. und H. I. übergeben. In der Folgezeit habe der Angeklagte mindestens 20.000 DM erhalten.

Aufgrund einer Ende 1999 erneut erfolgten Anfrage seines Cousins habe der Angeklagte "K. " angewiesen, 500 g Kokain von den Niederlanden nach München zu transportieren. Der Transport und die gewinnbringende Veräußerung an H. I. sei weisungsgemäß im Januar 2000 erfolgt.

2. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

a) Im Februar 1999 kam es zu einem Rauschgiftgeschäft zwischen G. und H. I. auf der einen Seite und Kr. - deren Abnehmer - auf der anderen Seite. Ende 1999 gab es erneut ein Drogengeschäft zwischen H. I. und Kr. .

Nicht feststellen konnte das Landgericht, ob die Rauschgiftlieferungen vom pauschal bestreitenden Angeklagten und/oder "K. " aus Holland kamen.

b) Der Zeuge H. I. ist wegen seiner Beteiligung an den dem Angeklagten zur Last gelegten Taten seit dem 10. Oktober 2003 rechtskräftig verurteilt. In der Hauptverhandlung hat er sich auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO berufen und keine Angaben gemacht.

3. a) Das Landgericht hat seine Bekundungen zu der Tatbeteiligung seines Cousins in der eigenen Hauptverhandlung, bei der polizeilichen und ermittlungsrichterlichen Vernehmung als Zeugen im Verfahren gegen den Angeklagten durch Einvernahme der Verhörspersonen in die Hauptverhandlung eingeführt. Es meinte, Widersprüche in den Aussagen zu sehen, die sich allein durch den Zeitablauf zwischen den Taten und den einzelnen Vernehmungen nicht ohne weiteres erklären ließen. Da die Gewinnung eines persönlichen Eindrucks und Fragestellungen zu den verschiedenen Aussagen nicht möglich gewesen seien, sehe es sich außer Stande, darauf eine Verurteilung zu stützen.

b) Die Aussage des Zeugen G. hält das Landgericht nicht für geeignet, die früheren Bekundungen des H. I. zu stützen. Beide hätten zwar im Kernbereich annähernd gleiche Angaben zu Lieferzeit und zu Liefermenge gemacht sowie die Namen Y. I. und "K. " genannt. Es sei aber gut möglich, dass der Polizeibeamte L. dem Zeugen G. bei seiner Beschuldigtenvernehmung die Aussage H. I. vorgehalten und ihm somit dessen Äußerungen über Y. I. und "K. " mitgeteilt habe. Dies sei zu Gunsten des Angeklagten zu unterstellen und würde erklären, dass die Zeugen G. und H. I. den Angeklagten Y. I. übereinstimmend als Lieferanten bzw. Vertragspartner benannt haben. Das sei eine nicht sicher auszuschließende Variante. Auch eine Absprache zwischen G. und H. I. erscheine trotz getrennter Inhaftierung nicht völlig abwegig.

II.

Der Freispruch begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

1. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit der Aufklärungsrüge gemäß § 244 Abs. 2 StPO die unterlassene Vernehmung des Zeugen H. I. in der Hauptverhandlung. Diesem habe kein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO zugestanden. Die Rüge greift durch.

a) Ihr liegt folgendes Geschehen zugrunde:

Nachdem der Zeuge H. I. sich in der Hauptverhandlung auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht berufen hatte, wurde ihm dieses zunächst durch Verfügung des Vorsitzenden und schließlich durch Kammerbeschluss zugestanden. In diesem Beschluss wurde der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Ordnungs- und Zwangsmittel gegen den Zeugen zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, der Zeuge G. habe bekundet, er vermute, H. I. sei wirklich "groß im Geschäft gewesen" und Y. I. müsse der Chef der ganzen Bande gewesen sein. Da auch der Zeuge Kr. bei seiner Beschuldigtenvernehmung bestätigt habe, H. I. sei "groß im Geschäft gewesen", bestehe der Verdacht, H. I. habe weitere Straftaten begangen, die noch nicht rechtskräftig abgeurteilt seien. Er müsse demnach damit rechnen, dass der Angeklagte seinerseits Angaben nach § 31 BtMG machen würde, die ihn - den Zeugen - belasten würden. Im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts NJW 2002, 1411, 1412 stehe dem Zeugen bei dieser Sachlage ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht zu. Zudem gebe es Differenzen zwischen seinen bisherigen richterlichen Aussagen.

b) Das Landgericht hat ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht des Zeugen H. I. nicht tragfähig begründet.

Das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO kann grundsätzlich nur in dem Umfang greifen, in welchem die Befragung sich auf Vorgänge richtet, die im Verhältnis zu den abgeurteilten Geschehen andere Taten im verfahrensrechtlichen Sinn des § 264 Abs. 1 StPO darstellen würden. Dabei genügt es, wenn der Zeuge über Vorgänge Auskunft geben müsste, die den Verdacht gegen ihn mittelbar begründen, sei es auch nur als Teilstück in einem mosaikartig zusammengesetzten Beweisgebäude (BGH NJW 1999, 1413, 1414; BGHR StPO § 55 Abs. 1 Verfolgung 1). Besteht die konkrete Gefahr, dass er durch eine wahrheitsgemäße Aussage zugleich potentielle Beweismittel gegen sich selbst wegen noch verfolgbarer eigener Delikte liefern müsste, so ist ihm die Erteilung solcher Auskünfte nicht zumutbar (BVerfG NJW 2002, 1411, 1412).

Eine solche Gefahr der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Zeugen H. I. hat das Landgericht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt dargetan.

Die pauschalen Bekundungen anderer Zeugen, H. I. sei groß im Rauschgiftgeschäft tätig gewesen, sind keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte im Sinne von § 152 Abs. 2 StPO zur Einleitung weiterer, über die abgeschlossenen hinausgehenden Verfahren.

Auch die Benennung seines Rauschgiftlieferanten in der Hauptverhandlung begründet keine weitere Gefahr der Strafverfolgung für den Zeugen H. I. , die der Selbstbelastungsfreiheit unterliegt. In der vom Landgericht zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ging es um die erstmalige Preisgabe unbekannter Rauschgiftlieferanten, die nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Gefahr für den Beschwerdeführer beinhaltete, zumindest mittelbare Ansatzpunkte für eine Strafverfolgung wegen von ihm begangener weiterer, nicht abgeurteilter Betäubungsmitteldelikte zu liefern. Im vorliegenden Fall war der Lieferant des Zeugen H. I. aufgrund seiner eigenen Angaben jedenfalls seit dem Jahre 2002 bekannt. Sollte seine erneute Benennung als Rauschgiftlieferanten durch den Zeugen in der Hauptverhandlung den Angeklagten dazu veranlassen, möglicherweise den Zeugen über die bereits bekannten Taten hinausgehend zu belasten, so ist dies vom Schutzzweck der verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbelastungsfreiheit nicht umfasst (BVerfG NJW 2003, 3045, 3046).

Die Gefahr der Strafverfolgung wegen eines Aussagedeliktes hat das Landgericht nicht konkretisiert.

c) Es ist nicht auszuschließen, dass die Strafkammer zu einer anderen Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten gelangt wäre, wenn sie den Zeugen H. I. in der Hauptverhandlung vernommen hätte, weil sie selbst die fehlende Gewinnung eines persönlichen Eindrucks und die fehlende Möglichkeit von Fragestellungen zur Begründung ihrer Zweifel anführt.

Schon aufgrund der Verfahrensrüge muss das Urteil aufgehoben werden.

2. Darüber hinaus hält die Beweiswürdigung der sachlichrechtlichen Überprüfung nicht stand.

Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Denn die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt insoweit nur, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Dass ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt sind. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen keine konkreten Anhaltspunkte erbracht sind (st. Rspr., BGH NStZ-RR 2003, 371; NStZ 2004, 35, 36 m.w.N.).

Dem wird die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht gerecht.

a) Die übereinstimmende Benennung des Angeklagten als Rauschgiftlieferant durch die Zeugen G. und H. I. sowie deren weitere übereinstimmende Angaben im Kernbereich zieht das Landgericht aufgrund abstrakttheoretischer Möglichkeiten, die realer Anknüpfungspunkte entbehren, in Zweifel. Für die Annahme, der Polizeibeamte L. habe dem Zeugen G. die Aussage des H. I. im Rahmen des Vorhalts mitgeteilt und dieser habe sie im Kernbereich übernommen, sowie für das Vorliegen einer Absprache enthält das Urteil keine konkreten Anhaltspunkte. Solche ergeben sich weder aus der Aussage des Polizeibeamten noch aus den dargelegten Angaben der beiden Zeugen, die zum Randgeschehen Ungereimtheiten und Widersprüche aufweisen, wie das Landgericht meint.

b) Im Übrigen ist der Zweifelssatz nicht auf ein entlastendes Indiz, wie hier geschehen, anzuwenden. Der Grundsatz "in dubio pro reo" ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung vom Vorliegen einer für den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch unmittelbar entscheidungserhebliche Tatsache zu gewinnen vermag (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 24, 27).

c) Eine Gesamtschau der Urteilsgründe lässt besorgen, dass das Landgericht an die zur Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung überspannte Anforderungen gestellt hat.

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