Das Verfahren wird ausgesetzt.
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Artikel 267 Abs. 2 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Artikel 7 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 vom 3. Oktober 2003, S. 12) so auszulegen, dass er einer Regelung des nationalen Rechts entgegensteht, mit der die erstmalige Einreise eines Familienangehörigen eines Zusammenführenden davon abhängig gemacht wird, dass der Familienangehörige vor der Einreise nachweist, sich auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen zu können?
I. Sachverhalt
(1) Die Kläger, die nigerianische Staatsangehörige sind, begehren die Erteilung von Visa zum Familiennachzug zu ihrem Ehemann bzw. Vater, dem Beigeladenen zu 2. Dieser ist ebenfalls nigerianischer Staatsangehöriger und Vater einer im Januar 2008 geborenen deutschen Tochter, für die er gemeinsam mit ihrer deutschen Mutter das Sorgerecht ausübt. Er ist seit Mai 2008 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der Personensorge als Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen.
Die Klägerin und der Zusammenführende heirateten am 24. Oktober 2009 in Nigeria. Am 23. Juli 2010 wurde der Kläger, der ihr gemeinsames Kind ist, geboren.
(2) Unter dem 10. Oktober 2011 beantragten die Kläger beim Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Lagos (im Folgenden: Generalkonsulat) die Erteilung von Visa zum Familiennachzug. Mit Bescheid vom 25. Juli 2012 lehnte das Generalkonsulat den Antrag ab. Die Kläger haben am 27. November 2012 Klage erhoben. Im Klageverfahren streiten die Beteiligten unter anderem darüber, ob die Klägerin den Nachweis erbringen muss, sich auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen zu können. Die Kläger meinen, dass das Spracherfordernis gegen Unionsrecht verstoße. Sie tragen weiter vor, dass die Teilnahme an einem Sprachkurs beim Goethe-Institut in Lagos erhebliche Kosten verursache und der Klägerin nicht zumutbar sei, weil die Busfahrt von ihrem Wohnort nach Lagos 10 Stunden dauere und es niemanden gebe, bei dem sie den Kläger so lange zurücklassen könne. Da die Klägerin unabhängig vom Sprachnachweis einen Anspruch auf Erteilung des Visums zum Ehegattennachzug habe und damit beide Eltern eine Aufenthaltserlaubnis besäßen, sei auch dem Kläger ein Visum zum Kindernachzug zu erteilen. Die Beklagte hält an dem Spracherfordernis fest und betont, dass es der Klägerin freistehe, auf welche Weise sie deutsche Sprachkenntnisse erwerbe. Allein die Prüfung solle beim Goethe-Institut abgelegt werden.
II. Rechtlicher Rahmen
1. Nationales Recht
(3) Die Erteilung des begehrten Visums richtet sich nach folgenden Bestimmungen des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG), in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Artikel 3 des Gesetzes vom 6. September 2013 (BGBl. I S. 3556):
(4) § 2 Begriffsbestimmungen
[…]
(9) Einfache deutsche Sprachkenntnisse entsprechen dem Niveau A 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates an die Mitgliedstaaten Nr. R (98) 6 vom 17. März 1998 zum Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen – GER).
[…]
(5) § 4 Erfordernis eines Aufenthaltstitels
(1) Ausländer bedürfen für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des Abkommens vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (BGBl. 1964 II S. 509) (Assoziationsabkommen EWG/Türkei) ein Aufenthaltsrecht besteht. Die Aufenthaltstitel werden erteilt als
1. Visum im Sinne des § 6 Absatz 1 Nummer 1 und Absatz 3,
[…]
(6) § 6 Visum
[…]
(3) Für längerfristige Aufenthalte ist ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Die Erteilung richtet sich nach den für die Aufenthaltserlaubnis, die Blaue Karte EU, die Niederlassungserlaubnis und die Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU geltenden Vorschriften. […]
(7) § 8
[…]
(2) die Aufenthaltserlaubnis kann in der Regel nicht verlängert werden, wenn die zuständige Behörde dies bei einem seiner Zweckbestimmung nach nur vorübergehenden Aufenthalt bei der Erteilung oder der zuletzt erfolgten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen hat.
[…]
(8) § 27 Grundsatz des Familiennachzugs
(1) Die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige (Familiennachzug) wird zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Artikel 6 des Grundgesetzes erteilt und verlängert.
[…]
(9) § 30 Ehegattennachzug
(1) 1Dem Ehegatten eines Ausländers ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn
1. beide Ehegatten das 18. Lebensjahr vollendet haben,
2. der Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann und
3. der Ausländer
[…]
d) seit zwei Jahren eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und die Aufenthaltserlaubnis nicht mit einer Nebenbestimmung nach § 8 Abs. 2 versehen oder die spätere Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht aufgrund einer Rechtsnorm ausgeschlossen ist,
[…]
2Satz 1 Nr. 1 und 2 ist für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unbeachtlich, wenn
2. der Ausländer einen Aufenthaltstitel nach den §§ 19 bis 21 [für bestimmte Erwerbstätigkeiten] besitzt und die Ehe bereits bestand, als er seinen Lebensmittelpunkt in das Bundesgebiet verlegt hat,
[…]
3Satz 1 Nr. 2 ist für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unbeachtlich, wenn
[…]
2. der Ehegatte wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist, einfache Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen,
[…]
(10) § 32 Kindernachzug
(1) Dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis, eine blaue Karte EU, eine Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzen.
[…]
(11) § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG wurde durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) eingefügt. Die Begründung der Bundesregierung zu dieser Regelung lautet (BT-Drucks. 16/5065 S. 173):
(12) Der neu eingefügte Satz 1 Nr. 2 berücksichtigt die in Artikel 7 Abs. 2 der Familiennachzugsrichtlinie vorgesehene Möglichkeit, den Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen an die Voraussetzung zu knüpfen, dass sie Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen. Durch die Neuregelung sollen die Betroffenen dazu angeregt werden, sich bereits vor ihrer Einreise einfache Deutschkenntnisse anzueignen und dadurch ihre Integration im Bundesgebiet zu erleichtern.
(13) Schwiegerfamilien, denen die neu einwandernden Opfer von Zwangsverheiratungen nach der Einreise ausgesetzt sind, nutzen die mangelnden deutschen Sprachkenntnisse willentlich oder indirekt aus, um ein eigenständiges Sozialleben der Opfer zu verhindern. Die Verpflichtung zur Teilnahme an Integrationskursen nach der Einreise allein reicht nicht in gleichem Maße aus, um die Verhinderung eines eigenen Soziallebens der Opfer aufzufangen. Bis zum Kursbeginn und zur damit verbundenen Vermittlung von Deutschkenntnissen kann einige Zeit vergehen, während derer das Opfer dem Zwang der Schwiegerfamilie ausgesetzt bleibt. Die Verpflichtung zur Teilnahme am Integrationskurs stellt zudem keinen erfolgreichen Abschluss sicher, während die Nachweispflicht von Deutschkenntnissen vor der Einreise ergebnisorientiert gewährleistet, dass tatsächlich Grundkenntnisse vorliegen. Die Regelung wirkt ferner in weitaus stärkerem Maße als die Teilnahmepflicht nach der Einreise präventiv. Gebildete Männer und Frauen sind nach dem Familienbild der betreffenden Kreise unattraktiver, sie sind schwerer „kontrollierbar“, worauf es den Zwang ausübenden Personen aber maßgeblich ankommt. Auch einfache Sprachkenntnisse bedeuten eine solche Bildung.
(14) Vor dem Hintergrund der geschützten Güter – Eheschließungs- und Lebensgestaltungsfreiheit, mittelbar sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit – ist der Eingriff in das Recht auf Führung der Ehe weniger gravierend. Die Eheschließungs- und -führungsfreiheit sind nicht betroffen. Ehen können ebenso im Ausland sowie unter qualifizierten Voraussetzungen im Inland geschlossen werden. Die Forderung an Zuwanderer, dass sie bestimmte Zugangsvoraussetzungen erfüllen, die stets der Ermöglichung einer Teilnahme am Sozialleben im Gastland dienen, ist zumutbar, zumal hierdurch weitaus höherrangige Rechtsgüter wirksam geschützt werden. Auch die Teilnahme an Kursen in weiter entfernten Gegenden des Gastlandes ist vor diesem Hintergrund zumutbar. Von jemandem, der die gravierende Lebensentscheidung trifft, in ein anderes Land dauerhaft einzuwandern, kann eine Vorbereitung auf diesen Schritt erwartet werden, zumal im Rahmen des Ehegattennachzugs in der Regel die Möglichkeit besteht, sich an den bereits im Bundesgebiet lebenden Ehegatten zu wenden. Es werden zudem keine ausreichenden, sondern nur einfache Deutschkenntnisse verlangt, also lediglich die Fähigkeit, sich auf zumindest rudimentäre Weise im Gastland zu verständigen.
2. Unionsrecht
(15) Artikel 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. Nr. L 251 vom 3. Oktober 2003, S. 12) – Familienzusammenführungsrichtlinie – lautet:
Die Mitgliedstaaten können gemäß dem nationalen Recht von Drittstaatsangehörigen verlangen, dass sie Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen.
Im Hinblick auf die in Artikel 12 genannten Flüchtlinge und/oder Familienangehörigen von Flüchtlingen können die in Unterabsatz 1 genannten Integrationsmaßnahmen erst Anwendung finden, wenn den betroffenen Personen eine Familienzusammenführung gewährt wurde.
III. Entscheidungserheblichkeit
(16) 1. Die Klägerin benötigt für die Einreise zu dem Zweck, auf Dauer mit ihrem Ehemann in Deutschland zusammen zu leben, gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i. V. m. Artikel 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 (ABl. Nr. L Nr. 81 S. 1) – EG-VisaVO – und deren Anhang I sowie § 6 Abs. 3 AufenthG ein nationales Visum. Dessen Erteilung setzt unter anderem voraus, dass die Klägerin das Spracherfordernis des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erfüllt, d.h. über Deutschkenntnisse des Niveaus A 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) verfügt. Die übrigen Voraussetzungen für die Erteilung des Visums liegen nach Auffassung des vorlegenden Gerichts vor. Der Erfolg der Klage hängt daher von der Vereinbarkeit des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG mit Artikel 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie ab. Diese findet Anwendung, weil der Beigeladene zu 2. Drittstaatsangehöriger ist und als Zusammenführender in aufenthaltsrechtlicher Hinsicht die Voraussetzungen des Artikels 3 erfüllt. Sollte die nationale Vorschrift nicht mit Artikel 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar und mit Rücksicht darauf unanwendbar sein, hätte die Klägerin einen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums. Anderenfalls müsste die Klage abgewiesen werden, weil die Klägerin – unstreitig – nicht über die nach nationalem Recht geforderten einfachen deutschen Sprachkenntnisse des Niveaus A 1 des GER verfügt. Dem Kläger ist ein Visum (nur) zu erteilen, wenn die Klägerin ein Visum erhält, so dass auch für ihn der Ausgang des Rechtsstreits davon abhängt, ob die Klägerin das Spracherfordernis erfüllen muss.
(17) 2. Ein Fall, in dem nach nationalem Recht von dem Erfordernis deutscher Sprachkenntnisse abgesehen werden kann, liegt nicht vor. Die Klägerin erfüllt weder die in § 30 Abs. 1 Satz 2 noch die in § 30 Abs. 1 Satz 3 AufenthG genannten Voraussetzungen. Von dem Erfordernis deutscher Sprachkenntnisse kann vorliegend auch nicht aus Gründen der Unzumutbarkeit abgewichen werden. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht im Falle des Ehegattennachzugs zu einem deutschen Staatsangehörigen entschieden, dass eine verfassungskonforme Auslegung gebiete, von diesem Erfordernis vor der Einreise abzusehen, wenn Bemühungen um den Spracherwerb im Einzelfall nicht möglich, nicht zumutbar oder innerhalb eines Jahres nicht erfolgreich seien (BVerwG, Urteil vom 4. September 2012 – BVerwG 10 C 12.12 –, juris, Rdnr. 28). Dem lag jedoch § 28 Abs. 1 Satz 5 AufenthG zu Grunde, wonach beim Ehegattennachzug zu Deutschen § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nur „entsprechend“ anzuwenden ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat dazu darauf verwiesen, dass sich die Voraussetzungen für den Ehegattennachzug zu einem Deutschen von den Nachzugsvoraussetzungen zu einem Ausländer unterscheiden, weil das Grundrecht des Artikels 11 GG ihm – anders als einem Ausländer – das Recht zum Aufenthalt in Deutschland gewähre (Rdnr. 25 ff.). Selbst wenn man diese Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall anwendete, ist nicht nachgewiesen, dass der jetzt 35-jährigen Klägerin Bemühungen um den Spracherwerb nicht möglich, nicht zumutbar oder innerhalb eines Jahres nicht erfolgreich sein würden.
(18) 3. § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist zunächst vom Bundesverwaltungsgericht beim Ehegattennachzug zu in Deutschland lebenden ausländischen Staatsangehörigen nicht beanstandet worden (Urteil vom 30. März 2010 – BVerwG 1 C 8.09 –, juris, Rdnr. 22 ff.). Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass diese Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegen deutsches Verfassungsrecht verstößt (Beschluss vom 25. März 2011 – 2 BvR 1413/10 –, juris, Rdnr. 3 ff.). Inzwischen hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Fall, in dem nach Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache nur noch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden war, folgendes ausgeführt (Beschluss von 28. Oktober 2011 – BVerwG 1 C 9.10 –, juris, Rdnr. 3):
(19) Aufgrund der Sachlagenänderung waren die Erfolgsaussichten für das Visumbegehren der Kläger nunmehr – anders als bisher – als offen anzusehen. Denn der Familiennachzug fiel damit in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/86/EG, so dass die Frage, ob das Erfordernis einfacher deutscher Sprachkenntnisse in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG mit Artikel 7 Abs. 2 der Richtlinie vereinbar ist, mit Rücksicht auf die inzwischen veränderte Auffassung der Europäischen Kommission (vgl. Stellungnahme vom 4. Mai 2011 (Sj.g <2011> 540657 im Verfahren C-155/11 PPU, Imran) dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung hätte vorgelegt werden müssen.
(20) 4. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 10. Juli 2014 (Rechtssache. C-138/13, Dogan, ECLI:EU:C:2014:2066) die Frage, ob Artikel 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie dem nach nationalem Recht geforderten Sprachnachweis entgegensteht, nicht geprüft. Im Hinblick auf seine Ausführungen zur (fehlenden) Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit Artikel 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation vom 23. November 1970 erscheint es allerdings zumindest nicht ausgeschlossen, das Spracherfordernis als mit Artikel 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar anzusehen. Denn selbst die Stillhalteklausel, die im Grundsatz die Einführung strengerer Voraussetzungen als derjenigen verbietet, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls galten, lässt unter bestimmten Voraussetzungen die Einführung eines Sprachnachweises zu. Dem Urteil in der Rechtssache Dogan (Rdnr. 38) ist zu entnehmen, dass die den Sprachnachweis rechtfertigenden Gründe – die Bekämpfung von Zwangsverheiratungen und die Förderung der Integration – als zwingende Gründe des Allgemeininteresses angesehen werden könnten, die die Verschärfung der Ausübung der Niederlassungsfreiheit (nur) deshalb nicht rechtfertigen können, weil der fehlende Sprachnachweis automatisch zur Ablehnung der Antrags auf Familienzusammenführung führt, ohne dass besondere Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Artikel 7 Abs. 2 Unterabs. 1 der Familienzusammenführungsrichtlinie gibt hingegen den Mitgliedstaaten sogar das Recht, von Drittstaatsangehörigen zu verlangen, dass sie Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen. Diese Maßnahmen können nach Unterabsatz 2 in Fällen, in denen es nicht um Flüchtlinge im Sinne von Artikel 12 oder deren Familienangehörige geht, auch vor der Gewährung der Familienzusammenführung Anwendung finden. Der Begriff „Integrationsmaßnahmen“ erscheint zudem weit genug, um auch „Erfolgspflichten“ zu umfassen.
(21) Der Generalanwalt Mengozzi hat demgegenüber vor dem Hintergrund, dass im System der Familienzusammenführungsrichtlinie die Genehmigung der Familienzusammenführung die Grundregel darstellt und die Vorschriften, mit denen sie beschränkt werden kann, eng auszulegen sind, und dass der den Mitgliedstaaten durch die Bestimmungen der Richtlinie zuerkannte Handlungsspielraum nicht in einer Weise genutzt werden darf, die das Ziel der Richtlinie, die Familienzusammenführung zu fördern, und ihre praktische Wirksamkeit beeinträchtigen würde, in seinen Schlussanträgen vom 30. April 2014 in der Rechtssache Dogan (C-138/13, ECLI:EU:C:2014:287, Rdnr. 61) zur zweiten Vorlagefrage folgendes ausgeführt:
(22) […] dass Artikel 7 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die die Erteilung eines Visums zum Zweck der Familienzusammenführung an den Ehegatten eines ausländischen Staatsangehörigen, der die Voraussetzungen des Artikel 7 Abs. 1 der Richtlinie erfüllt, von dem Nachweis abhängig machen, dass dieser Ehegatte über Grundkenntnisse der Sprache dieses Mitgliedstaats verfügt, ohne dass sie die Möglichkeit der Gewährung von Befreiungen auf der Grundlage einer individuellen Prüfung des Antrags auf Familienzusammenführung nach Artikel 17 der Richtlinie unter Berücksichtigung der Interessen minderjähriger Kinder sowie aller relevanten Umstände des Einzelfalls vorsehen. Zu diesen gehören insbesondere zum einen der Umstand, dass im Wohnstaat des Ehegatten der Unterricht und das unterstützende Material, die für den Erwerb des erforderlichen Niveaus der Sprachkenntnisse notwendig sind, verfügbar und, insbesondere unter Kostengesichtspunkten, auch zugänglich sind, sowie zum anderen etwaige, auch zeitweilige, Schwierigkeiten, die mit dem Gesundheitszustand oder der persönlichen Situation des Ehegatten zusammenhängen, wie Alter, Analphabetismus, Behinderung und Bildungsgrad.
Mit Rücksicht darauf kann die Antwort auf die Vorlagefrage jedenfalls als offen und damit klärungsbedürftig angesehen werden.
IV. Dieser Beschluss ist unanfechtbar.