OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.05.2013 - 15 A 785/12
Fundstelle
openJur 2013, 26272
  • Rkr:

Zur Zulässigkeit einer Klage, die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines einem Ratsmitglied in einer Ratssitzung erteilten Ordnungsrufes gerichtet ist.

Zur Rechtmäßigkeit eines solchen Ordnungsrufes (hier: verneint)

Tenor

Das Urteil wird geändert: Es wird festgestellt, dass der vom Beklagten dem Kläger in der öffentlichen Sitzung des Rates der Stadt L. am 7. Oktober 2010 ausgesprochene Ordnungsruf rechtswidrig war.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.

Der Beschluss ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird auch für das Berufungsverfahren auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit eines Ordnungsrufes, den der Beklagte dem dem Rat der Stadt L. als Mitglied angehörenden Kläger in der Ratssitzung am 7. Oktober 2010 im Rahmen der Beratungen des Rates zur Wahl u. a. eines neuen Kämmerers der Stadt L. erteilte. Im Wortprotokoll zu der fraglichen Ratssitzung wurde Folgendes festgehalten (dort: Seite 3 ff.):

"Oberbürgermeister K. S. : ... Wir kommen nun zu den Wahlen der Beigeordneten:

Wahl einer Beigeordneten/eines Beigeordneten für Soziales, Integration und Umwelt 3956/2010

Wahl einer Stadtkämmerin/eines Stadtkämmerers 3954/2010

[...]

Es können nur vorgeschlagene Personen gewählt werden. Vorgeschlagen wird in der Verwaltungsvorlage Frau I. S1. [als neue Beigeordnete für Soziales, Integration und Umwelt - Anm. des Senats]... Ich gehe davon aus, dass sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen diesen Vorschlag zu Eigen macht. - Ich sehe, das ist der Fall. Aus dem Kreis derjenigen, die sich beworben haben, können weitere Kandidaten vorgeschlagen werden. Gibt es weitere Vorschläge? - Herr X. , bitte.

N. X. (pro Köln): ... Die Fraktion pro Köln hat in der Tat einen weiteren Vorschlag, und zwar Herrn H. N1. . Herr H. N1. ist Direktor des Landesamtes für ... Er hat sich regulär auf diese Stelle beworben. Er ist auch in den Unterlagen des zuständigen Personalberatungsbüros als außerordentlich qualifiziert für diese Stelle benannt worden. Wir schlagen Herrn N1. vor.

Des Weiteren bitten wir, da es eine offizielle Vorstellungsrunde bei den Fraktionen nicht gegeben hat, um eine Vorstellungsrunde hier im Rat verbunden mit einer daran anschließenden Befragung der Kandidaten und einer ausführlichen Personaldebatte. Ich denke bei einer so wichtigen Stelle ist das außerordentlich notwendig.

(Beifall bei pro Köln)

Des Weiteren beantragen wir, die Wahl in geheimer Abstimmung durchzuführen. - Vielen Dank.

(Beifall bei pro Köln)

Oberbürgermeister K. S. : Ich frage Herrn Stadtdirektor: Liegt eine entsprechende Bewerbung des genannten Kandidaten vor?

Stadtdirektor H1. L1. : ... Ich lasse das gerade noch einmal prüfen. Tatsache ist, dass der von Ihnen, Herr X. , genannte Kandidat nicht in die Endauswahl der vom Personalberatungsbüro vorgeschlagenen Kandidaten gelangt ist. Die Kandidatin, die der Herr Oberbürgermeister vorgeschlagen hat, erfüllt im vollen Umfang die fachlichen Anforderungen und ist deshalb vorgeschlagen worden. Über Ihren Antrag, hier im Rat eine Vorstellungsrunde durchzuführen, hat der Rat zu entscheiden. Tatsache ist allerdings, dass der von Ihnen vorgeschlagene Kandidat nicht in dem Umfang über die Qualifikation verfügt, wie Sie es hier dargestellt haben. Anderenfalls hätte nämlich der Personalberater diesen Herrn in die engere Wahl gezogen und vorgeschlagen. Das war aber nicht der Fall.

Oberbürgermeister K. S. : Es liegt der Antrag vor, dass sich der genannte Kandidat hier vorstellt.

(N. X. [pro Köln]: Beide Kandidaten!)

- Beide Kandidaten. Es sollen sich beide Kandidaten im Rat vorstellen.

Wer für diesen Antrag stimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Das ist die Fraktion pro Köln. Wer enthält sich? - Niemand. Damit ist das abgelehnt. Des Weiteren wurde beantragt, in geheimer Abstimmung zu wählen. Ich gehe davon aus, dass das auch für die zweite Wahl gilt.

(K1. V. [pro Köln]: Personaldebatte, Herr Oberbürgermeister!)

N. X. (pro Köln): Eine Personaldebatte ist natürlich auf jeden Fall möglich, laut Gemeindeordnung zulässig und auch notwendig, wenn das von einer Fraktion hier im Rat gewünscht wird. Es ist schon ein starkes Stück, dass sich die Kandidaten bei einer Fraktion überhaupt nicht vorgestellt haben. Das sind Zustände hier in L. . Anscheinend werden die Fraktionen hier in Fraktionen erster und zweiter Klasse eingeteilt. So geht das nicht. Die Personaldebatte wird von uns beantragt.

Oberbürgermeister K. S. : Es ist eben darüber abgestimmt

worden, Herr X. , das hier keine Vorstellungsrunde stattfindet. Damit ist die Sache erledigt.

N. X. (pro Köln): Damit können wir uns aber -

Oberbürgermeister K. S. : Wir kommen jetzt zur Wahl.

(K1. V. [pro Köln]: Dann ist das aber keine Wahl mehr! Das sind ja Zustände wie in Sowjetrussland, wo das Politbüro schon was entschieden hat und die anderen es nur noch abnicken!)

Um die Zügigkeit der Wahl zu gewährleisten, frage ich Sie noch einmal: Ist davon auszugehen, dass Sie den Antrag stellen werden, auch die Wahl der Kämmerin in geheimer Wahl vornehmen zu lassen?

(N. X. [pro Köln]: Lassen Sie sich mal überraschen!)

Stellen Sie jetzt den Antrag auf geheime Wahl? - Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir jetzt zur Wahl der Dezernentin für Soziales, Integration und Umwelt.

C. N2. (Bündnis 90/Die Grünen): ...Eine geheime Wahl hält auf. Angesichts der langen Tagesordnung will ich mich nicht überraschen lassen. Ich beantrage hiermit, die beiden anstehenden Wahlen in einem Wahlgang durchzuführen.

(Beifall bei der SPD, der CDU und dem Bündnis 90/Die Grünen)

Oberbürgermeister K. S. : Herr X. .

N. X. (pro Köln): Zum zweiten Wahlgang, direkt: ... Da hier eben beantragt wurde, beide Wahlgänge zusammen durchzuführen, will die Fraktion pro Köln jetzt noch einen eigenen Vorschlag für die Besetzung des Postens des Stadtkämmerers einbringen.

(Zuruf von H2. C1. [SPD])

- Ja, warum wohl? - Wir alle kennen die Vorgeschichte der Suche nach einem neuen Stadtkämmerer. Der erste grüne Klüngelkandidat - das war Herr K1. G. - ist ja grandios gescheitert aufgrund des Votums des Herrn Regierungspräsidenten,

(Beifall bei pro Köln - Zuruf: Rügen!)

der ihm völlig mangelhafte Qualifikation attestiert hat. Anschließend gab es ein zweites Verfahren, in dem die neue grüne Klüngelkandidatin, Frau H3. L2. , wiederum vorzeitig bekannt geworden ist.

(Zuruf: Das bedarf einer Rüge!)

Deswegen musste auch dieses Auswahlverfahren abgebrochen werden.

Oberbürgermeister K. S. : Herr X. , ich bitte Sie, sich in Ihren Äußerungen zu mäßigen.

N. X. (pro Köln): Ich bin doch ganz ruhig. - In einer so entscheidenden Frage der L3. Kommunalpolitik muss man doch auf den Fakt hinweisen können, dass der Regierungspräsident die letzte Wahl beanstandet hat, weil Herr K1. G. nicht die notwendige Qualifikation aufwies. Darauf muss man doch hinweisen können. Das ist doch wichtig und auch von Interesse für die L3. Bürger.

Das zweite Verfahren musste abgebrochen werden, weil die nächste Klüngelkandidatin ebenfalls schon vorab bekannt geworden war.

(Wiederspruch bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen - Zurufe: Pfui!)

Oberbürgermeister K. S. : Herr X. ich erteile Ihnen hiermit einen Ordnungsruf und bitte Sie erneut, sich in Ihren Ausführungen zu mäßigen.

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen)

Sie wissen, dass wir nach dem zweiten Ordnungsruf entscheiden können, ob Sie den Saal verlassen oder nicht. Von daher bitte ich Sie, dem entsprechend Rechnung zu tragen."

Die Kandidatin L2. wurde im weiteren Verlauf der Sitzung mit 55 Ja-Stimmen, 35Neinstimmen und bei einer Enthaltung zur neuen Kämmerin der Stadt L. gewählt.

Der Kläger beantragte beim Beklagten mit E-Mail vom 24. November 2010 für die nächste Sitzung des Hauptausschusses, den Ordnungsruf zurückzunehmen. Der Hauptausschuss lehnte diesen Antrag in der Sitzung vom 9. Dezember 2010 ab. Wegen des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Tatbestand des angegriffenen Urteils Bezug genommen.

Die vom Kläger am 14. Dezember 2010 erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht ab. Zur Begründung führte es im Kern aus: Die - wiederholte - Bezeichnung der zur Wahl stehenden Kandidatin für das Amt des Stadtkämmerers als "Klüngelkandidatin" stelle eine ungebührliche Äußerung im Sinne des § 29 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Rates der Stadt L. dar, die vom Beklagten mit einem Ordnungsruf habe geahndet werden dürfen. Ungebührlich sei die Äußerung des Klägers dabei nicht etwa deshalb gewesen, weil er mit deutlichen Worten das Auswahlverfahren für den Posten des Stadtkämmerers kritisiert habe. Den Bereich zulässiger Polemik habe er vielmehr dadurch verlassen, dass er (zumindest auch) die Bewerberin selbst beschimpft und verunglimpft habe.

Hiergegen richtet sich die vom Senat zugelassene und im Wesentlichen wie folgt begründete Berufung: Durch die Bezeichnung der Bewerberin um das Amt des Stadtkämmerers als "Klüngelkandidatin" habe er - der Kläger - diese nicht beschimpft und verunglimpft. Schon der Begriff des "Klüngels" bezeichne ein System auf Gegenseitigkeit beruhender Hilfeleistungen und Gefälligkeiten, die unter der Hand ausgehandelt würden. Der Begriff beziehe sich daher schon per se auf ein bestimmtes Verfahren und kritisiere, dass die ausgeklüngelten Vorteile und Positionen nicht transparent und unter Ausschluss Dritter von der Auswahl vergeben würden. Er - der Kläger - habe mit seiner Wortwahl ganz eindeutig das Vergabeverfahren für die Position des Stadtkämmerers kritisiert und in erster Linie zum Ausdruck gebracht, dass der Posten nach Parteibuch habe vergeben werden sollen, dass die jeweilige Qualifikation der Bewerber eine nur untergeordnete Rolle gespielt habe. Die Bezeichnung der Bewerberin als "Klüngelkandidatin" spreche dieser keinesfalls die Qualifikation für das Amt ab. Es sei durchaus denkbar, dass der am besten qualifizierte Bewerber gleichwohl in einem System der Vetternwirtschaft ausgeklüngelt und damit zum Klüngelkandidaten werde. In Bezug auf den zunächst avisierten Kandidaten habe er - der Kläger - in dem fraglichen Redebeitrag ausdrücklich ausgeführt, dass dieser nicht über die erforderliche Qualifikation verfügt habe und der Regierungspräsident daher dessen Wahl beanstandet habe. In der Debatte habe das Vergabeverfahren in der Kritik gestanden. Er - der Kläger - sei in seinem gesamten Redebeitrag mit keinem Wort auf die Kandidatin persönlich oder ihre Qualifikationen eingegangen. Ihm sei es ausschließlich um eine Diskussion um die Vergabe des Amtes, nicht um eine Diskussion um die Bewerberin gegangen. Im Vordergrund habe eine sachliche Debatte gestanden.

Der Kläger beantragt - schriftsätzlich -,

unter Abänderung des angegriffenen Urteils festzustellen, dass der vom Beklagten in der öffentlichen Sitzung des Rates der Stadt L. am 7. Oktober 2010 gegenüber ihm - dem Kläger - ausgesprochene Ordnungsruf rechtswidrig war.

Der Beklagte beantragt - schriftsätzlich -,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt im Kern das angegriffene Urteil. Vertiefend und ergänzend trägt er zur Begründung seines Zurückweisungsantrags vor allem vor: Die Bezeichnung "Klüngelkandidatin" stelle eine einen Ordnungsruf rechtfertigende ungebührliche, ja grob ungebührliche Äußerung dar, da sie geeignet gewesen sei, die später gewählte Kandidatin für das Amt des Stadtkämmerers verächtlich zu machen. Dadurch seien die Grenzen des Erträglichen unter Berücksichtigung der parlamentarischen Gepflogenheiten überschritten worden. Der Kläger habe mit seiner Äußerung der Kandidatin bewusst die erforderliche Qualifikation abgesprochen. Dies stelle eine rufschädigende, ungebührliche Äußerung dar. Zwar sei der Kläger in seinem Redebeitrag nicht ausdrücklich auf die Qualifikation der Kandidatin eingegangen. Das Verwaltungsgericht habe bei der Deutung des Begriffs "Klüngelkandidatin" aber richtigerweise den gesamten Wortbeitrag des Klägers in seinem Gesamtzusammenhang betrachtet. Der Kläger habe bereits zuvor in seinem Wortbeitrag den früheren Kandidaten als "Klüngelkandidaten" bezeichnet und hierzu erläuternd ausgeführt, dass die Bezirksregierung diesem angeblich eine "völlig mangelhafte Qualifikation attestiert" habe. In diesem Zusammenhang habe auch in der Bezeichnung der neuen Kandidatin als "nächste Klüngelkandidatin" der Vorwurf gelegen, diese sei nur unzureichend qualifiziert, ohne dass dies noch einmal hätte ausdrücklich erwähnt werden müssen. Der Kläger widerspreche sich selbst, wenn er jetzt vortrage, er habe nur das Verfahren kritisieren wollen.

Ferner sei in den Blick zu nehmen, dass die Reaktion des Klägers auf seine - des Beklagten - Mahnung, sich zu mäßigen, ein ungebührliches Verhalten darstelle. Ein rügefähiger Tatbestand sei auch dann gegeben, wenn ein Ratsmitglied in sonstiger Weise die Ordnung störe. Wie das Protokoll belege, sei der Sitzungsablauf bereits nach der ersten Äußerung des Klägers durch verschiedene Zurufe gestört worden. Der Kläger habe sich auch nicht durch die zunächst von ihm - dem Beklagten - ausgesprochene Ermahnung auf die zuvor von ihm - dem Kläger - getätigten Äußerungen abbringen lassen. Im Gegenteil, er habe seine - des Beklagten - Aufforderung zur Mäßigung missachtet. Der Kläger habe damit deutlich gemacht, der konkreten Ermahnung keine Beachtung schenken zu wollen und die Sitzungsleitung zu ignorieren. Diese Nichtbeachtung der Maßnahmen der Sitzungsleitung stelle eine Störung der Sitzungsordnung dar, die ebenfalls den Ordnungsruf gerechtfertigt habe. Aus dem Auftreten und den Ausführungen des Klägers in der Sitzung habe er - der Beklagte - schließen können, dass es dem Kläger sogar um eine vorsätzliche Störung der Sitzung gegangen sei.

Zu berücksichtigen sei auch, dass ihm - dem Beklagten - bei der Bewertung der sitzungsleitenden Maßnahmen ein Beurteilungsspielraum zustehe. Dies gelte insbesondere bei der Prognose, inwieweit das Ratsmitglied durch die gemachte Äußerung den Geschäftsgang gefährde. Aufgrund der doppelten Weigerung des Klägers, der Ermahnung Folge zu leisten, habe er - der Beklagte - den Schluss ziehen dürfen, der Kläger werde sich auch weiterhin nicht an die sitzungsleitenden Maßnahmen halten mit der Folge, dass die aufgeladene Debatte noch weiter eskalieren werde.

Im Übrigen belege die abschließende Äußerung des Klägers "Wir kennen Ihre Vorgehensweise. Keine Sorge Herr Oberbürgermeister." nachträglich die Erforderlichkeit der Ordnungsmaßnahme. Das Verhalten des Klägers und anderer Mitglieder seiner Fraktion verdeutliche, dass es sich um gezielte Provokationen der Sitzungsleitung gehandelt habe. Die Provokationen in dieser und anderen Sitzungen ließen sich einreihen in die Versuche der Fraktion pro Köln, dem Oberbürgermeister zu unterstellen, gezielt Ordnungsrufe gegen die Mitglieder der Fraktion auszusprechen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Unterlagen Bezug genommen.

II.

Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130a VwGO einstimmig durch Beschluss, weil er auch unter Berücksichtigung der Ausführungen des Beklagten in dessen Schriftsatz vom 13. Mai 2013 eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich und die Berufung für begründet hält. Die Streitsache ist einfach gelagert. Zwar hat der Senat die Berufung durch Beschluss vom 20. Juni 2012 gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zugelassen, weil er die Beantwortung der Frage, ob der streitige Ordnungsruf zu Recht ergangen ist, zum damaligen Zeitpunkt als mit besonderen rechtlichen Schwierigkeiten verbunden angesehen hatte. Bei Sichtung des Streitstoffes im Berufungsverfahren hat sich jedoch ergeben, dass die für die Beantwortung der in Streit stehenden Frage maßgeblichen Parameter in der Rechtsprechung geklärt sind und die Entscheidung des Falles demgemäß von einer schlichten Subsumtion des unstreitigen Sachverhalts unter die maßgeblichen Rechtssätze abhängt.

Die Berufung hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die zulässige Klage (1.) ist nämlich begründet, da der dem Kläger in der Ratssitzung vom 7. Oktober 2010 durch den Beklagten erteilte Ordnungsruf rechtswidrig war (2.).

1.) Die Klage ist als Feststellungsklage zulässig. Die Frage der rechtlichen Zulässigkeit eines einem Ratsmitglied durch den Oberbürgermeister als Ratsvorsitzendem erteilten Ordnungsrufes stellt ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne von § 43 Abs. 1 VwGO dar.

Vgl. hierzu Pietzcker, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/ Pietzner (Hrsg.), VwGO, § 43 Rn. 26 m. w. N.

Es besteht auch ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des streitigen Ordnungsrufes. Unter dem berechtigten Feststellungsinteresse ist jedes nach Lage des Falles anzuerkennende schutzwürdige Interesse zu verstehen,

sei es rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art.

Pietzcker, a. a. O., Rn. 33 (unter Zitierung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts).

Bei Fällen der vorliegenden Art ist anerkannt, dass jedenfalls ein Feststellungsinteresse dahin anzuerkennen ist, dass das Ratsmitglied die im Kreise seiner Kollegen

verbleibende diskriminierende Wirkung eines Ordnungsrufes abzuwenden sucht.

OVG RP, Urteil vom 29. November 1994 - 7 A 10194/94 -, NVwZ-RR 1996, 52.

Der Kläger kann auch als ein durch einen förmlichen Ordnungsruf betroffenes Ratsmitglied eine (mögliche) Verletzung von organschaftlichen Rechten vor dem Verwaltungsgericht geltend machen (§ 42 Abs. 2 VwGO analog). Zur Klarstellung sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es im vorliegenden Kommunalverfassungsstreitverfahren allein um solche dem Kläger als Ratsmitglied zustehende organschaftliche Rechte und nicht etwa um eine Einschränkung seines Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG geht. Zwar ist mit dem Verwaltungsgericht davon auszugehen, dass ein Ratsmitglied auch während der Ratssitzung nicht sein Recht zur freien Meinungsäußerung verliert.

BVerwG, Beschluss vom 12. Februar 1988 - 7 B 123/87 -, NVwZ 1988, 792.

Es ist aber zu beachten, dass der Stadtrat kein Forum zur Äußerung und Verbreitung privater Meinungen, sondern ein Organ der Stadt ist, das die Aufgabe hat, die divergierenden Vorstellungen seiner gewählten Mitglieder im Wege der Rede und Gegenrede und der nachfolgenden Abstimmung zu einem einheitlichen Gemeindewillen zusammenzuführen und der Stadt so die nötige Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu verschaffen. Demgemäß nimmt das Ratsmitglied, wenn es sich in der Ratssitzung zu einem Gegenstand der Tagesordnung zu Wort meldet, nicht seine im Grundgesetz verbürgten Freiheitsrechte gegenüber dem Staat, sondern organschaftliche Befugnisse in Anspruch, die ihm als Teil eines Gemeindeorgans verliehen sind. Der organschaftliche Charakter seines Rederechts kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass dieses Recht nur in den Grenzen der gemeindlichen Aufgabenzuständigkeit und nur nach Maßgabe der den Ablauf der Ratssitzungen regelnden Verfahrensbestimmungen der Gemeindeordnung und der Geschäftsordnung des Rates besteht.

BVerwG, a. a. O., unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Rederecht des Abgeordneten im Bundes- bzw. Landtag (= BVerfG, Urteil vom 8. Juni 1982 - 2 BvE 2/82 -, BVerfGE 60, 374).

Die mögliche Verletzung organschaftlicher Rechte des Klägers durch den in Rede

stehenden Ordnungsruf mit seiner Feststellungs- und Warnfunktion ergibt sich daraus, dass hier ein Eingriff in die Statusrechte des Klägers als Ratsmitglied vorliegt. Dieser war gezwungen, sich auf die Auffassung des Beklagten als Ratsvorsitzenden von der Ordnung der Sitzung einzustellen, wollte er nicht unwiederbringliche Nachteile im Hinblick auf seine Möglichkeiten der weiteren Sitzungsteilnahme und der weiteren Ausübung seines Rederechts (vgl. § 29 Abs. 3 und § 30 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Rates der Stadt L. in der Fassung vom 27. März 2007 [= a. F.] - RGO -) und damit im Hinblick auf den Kern der Mandatsausübung in Kauf nehmen. Beugt sich das Ratsmitglied nicht, riskiert es bei Wiederholung etwa des sanktionierten Redebeitrags den dritten förmlichen Ordnungsruf und damit den Entzug des Rederechts oder den Ausschluss von der Sitzung. Ein (förmlicher) Ordnungsruf entfaltet unmittelbare Wirksamkeit, ein etwaiger "Widerspruch" hiergegen entfaltet keine aufschiebende Wirkung.

Vgl. OVG RP, Urteil vom 29. November 1994 ‑ 7 A 10194/94 -, NVwZ-RR 1996, 52.

Denn sitzungsleitende Maßnahmen im Rahmen der Ordnungsgewalt des Ratsvorsitzenden sind, da sie die Ratsmitglieder nur in ihrer Funktion als Mitglied eines Gemeindeorgans betreffen, keine Verwaltungsakte, gegen die allein ein Widerspruch aufschiebende Wirkung entfalten könnte.

Vgl. Held u. a., Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Wiesbaden, Stand: Dezember 2012, § 51 Anm. 4.3.

Mit seinem Ausspruch muss daher der Eingriff in die Mitwirkungsrechte des betroffenen Ratsmitglieds angenommen werden, da anders das Rederecht und sonstige Mitwirkungsrechte nicht gesichert werden könnten. Die Provokation eines förmlichen Ausschlusses zur Klärung der Fragen kann dem Ratsmitglied nicht zugemutet werden, würde im Übrigen mit Blick auf die beschriebene Wirkungsweise von förmlichen Ordnungsrufen zudem nicht verhindern können, dass wenigstens zeitweise auf das Rederecht in oder gar das Teilnahmerecht an der fraglichen Ratssitzung und damit den Kern der Ausübung des Ratsmandates verzichtet werden müsste.

So bereits OVG RP, Urteil vom 29.11.1994 - 7 A

10194/94 -, NVwZ-RR 1996, 52.

Schließlich ist auch das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis des Klägers zu bejahen.

Namentlich hat er vor Erhebung der Klage den Anforderungen genügt, die aus dem

Grundsatz der Organtreue für Verfahren der vorliegenden Art folgen.

Vgl. zum Grundsatz der Organtreue bei innerorganisatorischen Auseinandersetzungen OVG NRW, Beschluss vom 19. August 2011 - 15 A 1555/11 -, NWVBI. 2012, 116.

Denn der Kläger hat vor Einreichung der Klage entsprechend § 44 RGO n. F. mit E‑Mail vom 24. November 2010 zunächst erfolglos versucht, den Hauptausschuss zu einer Rücknahme des fraglichen Ordnungsrufes zu veranlassen.

2.) Die zulässige Feststellungsklage ist auch begründet. Denn der Oberbürgermeister hat den Kläger zu Unrecht gemäß § 29 Abs. 2 RGO a. F. zur Ordnung gerufen. Die Ordnungsmaßnahme des Beklagten verletzt das Statusrecht des Klägers aus § 43 Abs. 1 GO NRW. Im Einzelnen ist auszuführen:

Das zum Status des Ratsmitglieds gehörende Rederecht wird durch andere Rechtsgüter begrenzt. Zu deren Wahrung handhabt der Ratsvorsitzende in den Ratssitzungen die Ordnung, wozu ihm über die Ratsgeschäftsordnung ein entsprechendes Instrumentarium an die Hand gegeben wird (vgl. § 51 GO NRW i. V. m. §§ 28 ff. RGO a. F.).

Zum Status des Ratsmitglieds gehört selbstverständlich das (unentbehrliche) Rederecht im Rat, das gewissermaßen das Urrecht eines Mitglieds einer Volksvertretung darstellt. Es bedarf allerdings ebenso wie andere Statusrechte der Ratsmitglieder zum Zwecke der Sicherung der Effektivität und Funktionsfähigkeit des Rates sowie der Abstimmung mit den Rederechten der anderen Ratsmitglieder der näheren Ausgestaltung in der Geschäftsordnung. Über die einzelnen Regelungen etwa zur Redezeit und zu den formellen Anforderungen an Wortmeldungen hinaus bedarf es zur Sicherstellung der Rechte der Ratsmitglieder, der Ordnung der Debatte und der Effektivität sowie der Funktionsfähigkeit des Rates und - traditionell - auch zur Wahrung des Ansehens des Rates der sog. Disziplinargewalt, die dem Vorsitzenden des Rates über § 51 GO NRW an die Hand gegeben ist,

so im Zusammenhang mit dem Rederecht von Landtagsabgeordneten bereits zuvor VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2010 - Vf. 12-1-10 -, NVwZ-RR 2011,132,

und die hier im Hinblick auf den streitigen Ordnungsruf durch § 29 Abs. 2 RGO a. F. in zulässiger Art und Weise konkretisiert worden ist. Gemäß § 29 Abs. 2 RGO a. F. konnte der Oberbürgermeister einen Redner u. a. dann zur Ordnung rufen, wenn ‑ was hier allein in Betracht kommt - durch eine ungebührliche Äußerung die Ordnung in der Sitzung verletzt wird.

Allerdings ist bei der Wahrnehmung des Ordnungsrechts der Geschäftsordnung der Bedeutung des Rederechts für die Demokratie und die Funktionsfähigkeit des Rates Rechnung zu tragen. Der Rat ist ebenso wie ein Landtag oder der Bundestag Ort von Rede und Gegenrede, der Darstellung unterschiedlicher Perspektiven und Interessen. Darin gründet seine Repräsentativfunktion, die eine - wenn nicht die - Grundfunktion einer Volksvertretung, seiner Untergliederungen und Mitglieder ist. Insoweit ist der Rat wie ein Parlament Forum der Interessendarstellung, Interessenvermittlung und Kontrolle. Der Widerstreit der politischen Positionen auf diesem Forum der Repräsentation lebt nicht zuletzt von Debatten, die mit Stilmitteln wie Überspitzung, Polarisierung, Vereinfachung oder Polemik arbeiten.

VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2010 - Vf. 12-1-10 -, NVwZ-RR 2011,132 (m. w. N.).

Das Ordnungsrecht des Ratsvorsitzenden ist im Lichte dieser mit der Repräsentationsfunktion zusammenhängenden Bedeutung des Rederechts kein Instrumentarium zur Ausschließung bestimmter inhaltlicher Positionen aus der Debatte in der Volksvertretung. Dies müsste die Legitimation des Rates in Frage stellen. Vielmehr ist der Rat wie die Parlamente seinerseits das Forum des Austragens inhaltlicher Meinungsverschiedenheiten. Insoweit dient das Ordnungsrecht des Ratsvorsitzenden in der Debatte auch nicht der Sicherstellung der "Richtigkeit" oder Korrektheit bestimmter inhaltlicher Positionen oder der Sicherung eines gesellschaftlichen Konsenses. Der Rat ist ebenso wie ein Landtag oder der Bundestag auch ein Ort der Austragung von Meinungsverschiedenheiten, der Darstellung von Positionen von Minderheiten, der Formulierung anderer, von der Mehrheit nicht getragener Sichtweisen. Diese sind so lange hinzunehmen, wie ihre Darstellung nicht in einer Weise geschieht, die die Arbeit des Rates in Frage stellt. Die Grenze zur Verletzung der Ordnung in der Volksvertretung "Rat" ist dort erreicht, wo es sich nicht mehr um eine inhaltliche Auseinandersetzung handelt, sondern eine bloße Provokation im Vordergrund steht oder wo es um die schiere Herabwürdigung Anderer oder die Verletzung von Rechtsgütern Dritter geht.

VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2010 - Vf. 12-1-10 -, NVwZ-RR 2011,132.

Da Beschränkungen des Rederechts zugleich die Funktionsfähigkeit des Systems der Volksvertretung berühren, bedarf die Anwendung der Ordnungsmaßnahmen stets der Beachtung des Kontextes, in dem das Ratsmitglied sein Recht in Anspruch nimmt. Je mehr die inhaltliche Auseinandersetzung im Vordergrund steht, je gewichtiger die mit dem Redebeitrag thematisierten Fragen für den Rat und die Öffentlichkeit sind und je intensiver diese politische Auseinandersetzung geführt wird, desto eher müssen konkurrierende Rechtsgüter hinter dem Rederecht zurückstehen. Dabei bleibt zu berücksichtigen, dass Redebeiträge schon aufgrund ihres Wortlauts Raum für verschiedene Deutungsmöglichkeiten eröffnen können. Die Anwendung von Ordnungsmaßnahmen darf daher nicht von vorneherein Deutungen zugrunde legen, die die Ordnungsmaßnahmen rechtfertigen, wenn auch andere Deutungen möglich sind. Dabei ist freilich dem situativen Charakter der mündlichen Rede und der Notwendigkeit der zeitnahen Reaktion des Ratsvorsitzenden, dem namentlich bei Ordnungsrufen ein im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle zu respektierender Beurteilungsspielraum zukommt, hinreichend Rechnung zu tragen. Hieran ist die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte auszurichten. Dabei gilt, dass die Kontrolle umso intensiver ist, je deutlicher der Ordnungsruf auf den Inhalt der Äußerung und nicht auf

das Verhalten des Ratsmitglieds reagiert.

VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2010 - Vf. 12-1-10 -, NVwZ-RR 2011,132.

Hiervon ausgehend hat der angegriffene Ordnungsruf den Kläger in seinem Rederecht, das sich aus seinem aus § 43 Abs. 1 GO NRW folgenden Statusrecht ergibt, verletzt. Die Einordnung seines Redebeitrags als Verletzung der Ordnung des Rates war fehlerhaft.

Insoweit ist zunächst klarzustellen, dass es vorliegend alleine um die Frage geht, ob der streitige Ordnungsruf mit Blick auf die Äußerung des Klägers, die später zur Kämmerin gewählte Kandidatin sei die "nächste Klüngelkandidatin" gewesen, gerechtfertigt war. Ausschließlich hierfür ist dem Kläger bei lebensnaher und sich geradezu aufdrängender Würdigung der sich aus dem Protokoll der Ratssitzung vom 7. Oktober 2010 ergebenden Wortbeiträge der in Rede stehende Ordnungsruf erteilt worden. Der Ordnungsruf kann dabei nicht nachträglich mit anderen Erwägungen gerechtfertigt werden (etwa mit anderen Zurufen oder Äußerungen oder mit einem provokativen Gesamtverhalten des Redners), weil sich dieser in der Debatte auf solche Überlegungen nicht einstellen konnte. Genau dies ist aber Sinn und Zweck des Ordnungsrufes. Dieser zielt darauf ab, dass der betroffene, in seinem Rederecht durch den Ordnungsruf beeinträchtigte Redner ein ganz bestimmtes Verhalten bzw. ganz bestimmte Äußerungen unterlässt - hier die Bezeichnung der späteren Stadtkämmerin als "Klüngelkandidatin". Vor diesem Hintergrund muss offen bleiben, ob der streitige Ordnungsruf u. U. aus anderen Gründen als dem hier streitigen Grund hätte ausgesprochen werden dürfen.

Er war jedenfalls im Hinblick auf die Bezeichnung der später zur Stadtkämmerin gewählten Kandidatin für dieses Amt als "nächste Klüngelkandidatin" nicht gerechtfertigt. Der Ordnungsruf reagierte auf den Inhalt der Rede des Klägers, der den vorzitierten Begriff im Zusammenhang mit der Neubesetzung des Postens des Kämmerers der Stadt L. benutzte. Die Formulierung ist im weiteren Kontext des Redebeitrags zu sehen, der sich bei dessen gebotener Gesamtwürdigung ersichtlich damit auseinandersetzte, dass - aus Sicht des zur Ordnung gerufenen Ratsmitglieds - das gesamte Auswahlverfahren für die vakante Position des Stadtkämmerers nicht sachgerecht, insbesondere nicht unter Voranstellung der Frage nach der Geeignetheit der im Laufe der Zeit in Betracht gezogenen Kandidaten erfolgt gewesen sein soll. Die inkriminierte Äußerung war daher eingebettet in den Zusammenhang einer inhaltlichen politischen Stellungnahme. Selbst wenn das Ratsmitglied sie mit Fehldeutungen verbunden oder auf unrichtige Tatsachenannahmen gestützt haben sollte, ändert dies nicht an dem Vorliegen einer inhaltlichen politischen Stellungnahme.

Dem aus § 43 GO NRW abgeleiteten Recht zu einer solcher Stellungnahme im Rat kommt mit Blick die grundlegende Bedeutung des politischen Meinungskampfes für die Konstituierung eines demokratischen Gemeinwesens ganz erhebliches Gewicht zu. Dass dieses Recht zur politischen Stellungnahme hier vor dem Hintergrund des ebenfalls gebotenen Schutzes der Ordnung und der Würde des Rates der Einschränkung durch den streitigen Ordnungsruf bedurfte, vermag der Senat nicht festzustellen.

Dem Beklagten ist zwar zuzugeben, dass der Bezeichnung "nächster Klüngelkandidat" auch der Ausdruck der Geringschätzung der so charakterisierten Person anhaftet. Dies hätte den Ordnungsruf aber nach dem im Maßstäblichen Dargelegten nur dann gerechtfertigt, wenn die Äußerung der reinen Provokation oder der bloßen Verächtlichmachung gedient hätte, was auch dann der Fall sein kann, wenn die fragliche Äußerung dem äußeren Anschein nach einen sachlichen Anlass hat, der aber letztlich nur als Vorwand einer tatsächlich ausschließlich beabsichtigten Diffamierung oder Herabsetzung benutzt wird. Dafür, dass der geahndete Wortbeitrag des Klägers die vorbeschriebenen Grenzen überschritten hätte, ist letztlich aber nichts hinreichend Belastbares ersichtlich.

Der Kläger hat sich zwar mit seiner durch Ordnungsruf geahndeten Bezeichnung der später zur Kämmerin gewählten Bewerberin als "nächste Klüngelkandidatin" dieser gegenüber durchaus scharf und auch abwertend geäußert. Der Wortbeitrag des Klägers in diesem Zusammenhang erschöpfte sich aber nicht in vorzitierter Bezeichnung. Durch die Verwendung des Begriffs "Klüngel" und seinen ohne jeden Zweifel gegebenen Bezug zum Verfahren der Besetzung des Amtes des Stadtkämmerers hat der Kläger unter Berücksichtigung seines gesamten Redebeitrags konkret das der fraglichen Stellenbesetzung zugrunde liegende Auswahlverfahren angegriffen. Bei lebensnaher Würdigung seiner Wortmeldung zum Tagesordnungspunkt "Wahl des Stadtkämmerers" hat der Kläger trotz der seiner Äußerung auch innewohnenden - mit polemischer Schärfe verbundenen - kritischen Herabsetzung gleichwohl eine Debatte zum Thema "Besetzungsverfahren für Spitzenämter in Staat und Verwaltung" führen bzw. eröffnen wollen. Dieses Thema ist für die Gesellschaft stets von herausragender Bedeutung. Denn es besteht ausnahmslos ein besonderes öffentliches Interesse daran, dass die Vergabe öffentlicher Ämter ausschließlich nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung erfolgt (vgl. Art. 33 Abs. 2 GG). Bei einer solchen Debatte trifft den Ratsherrn kein Gebot strenger Sachlichkeit. Dies hat der Beklagte bei Erteilung seines Ordnungsrufes verkannt. Er hätte dem Umstand Rechnung tragen müssen, dass im Rahmen des politischen Meinungskampfes abwertende Äußerungen grundsätzlich zulässig und gerade hier einprägsame, auch starke, ja sogar herabsetzende Äußerungen hinzunehmen sind, solange sie eben nicht der reinen Provokation oder Verächtlichmachung dienen. Eine dahingehende Zielrichtung war der inkriminierten Äußerung des Klägers aus den oben dargelegten Gründen nicht zu entnehmen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des dem Beklagten bei der Erteilung eines Ordnungsrufes grundsätzlich zukommenden Beurteilungsspielraums.

Vor dem Hintergrund vorstehender Würdigung sind mit Blick auf die sich aus § 193 StGB ("Wahrnehmung berechtigter Interessen") gerade für den politischen Meinungskampf ergebenden Vorgaben,

vgl. Fischer, StGB, 60. Auflage, München 2013, Rn. 17 ff.,

auch keine greifbaren Anhaltpunkte für das Vorliegen einer sich aus der in Rede stehenden Äußerung des Klägers ergebenden Straftat im Sinne des Vierzehnten Abschnittes des Strafgesetzbuches (§§ 185 ff. StGB - Beleidigungstatbestände) ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Anordnung hinsichtlich

ihrer vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 2 GKG.

Rechtsmittelbelehrung:

Die Nichtzulassung der Revision kann durch Beschwerde angefochten werden.

Die Beschwerde ist beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses schriftlich einzulegen. Die Beschwerde muss den angefochtenen Beschluss bezeichnen.

Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist bei dem oben genannten Gericht schriftlich einzureichen.

Statt in Schriftform können die Einlegung und die Begründung der Beschwerde auch

in elektronischer Form nach Maßgabe der Verordnung über den elektronischen

Rechtsverkehr bei den Verwaltungsgerichten und den Finanzgerichten im Lande

Nordrhein-Westfalen - ERVVO VG/FG - vom 7. November 2012 (GV. NRW. S. 548)

erfolgen.

Im Beschwerdeverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde und für die Begründung. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz - RDGEG -).