LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.11.2012 - L 6 U 1735/12
Fundstelle
openJur 2013, 16021
  • Rkr:

1. Die Nahrungsaufnahme in einer Betriebskantine ist grundsätzlich nicht gesetzlich unfallversichert.

2. Dass nach der Betriebsphilosophie des Arbeitgebers die Führungskräfte ihre Mahlzeiten mit den übrigen Beschäftigten einnehmen sollen, begründet keine betrieblichen Gründe für die Nahrungsaufnahme.

3. In der Verunreinigung des Kantinenbodens verwirklicht sich keine besondere betriebliche Gefahr.

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 26. März 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Klägers sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung des Ereignisses vom 18. Mai 2010 als Arbeitsunfall streitig.

Der 1961 geborene Kläger ist als Kfz-Meister bei der Daimler AG, Werk S., in der Applikation beschäftigt. Auf dem Werksgelände befindet sich eine Betriebskantine, die in erster Linie Mitarbeitern, aber auch Fremdarbeitskräften und Lieferanten zur Verfügung steht. Die Mahlzeiten sind subventioniert (Auskunft vom 31. Oktober 2012, Bl. 37 LSG-Akte).

Am 18. Mai 2010 suchte der Kläger die Werkskantine gegen 12:00 Uhr zum Mittagessen auf, um anschließend an einem um 14:00 Uhr geplanten geschäftlichen Besprechungstermin in Untertürkheim teilzunehmen. Dabei rutschte er im Bereich der Essensausgabe auf verschütteter Salatsoße aus und stürzte auf den linken Ellenbogen (Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 26. März 2012). Anschließend wurde er in das Klinikum S. gebracht, wo eine distale Humerusfraktur links diagnostiziert und er bis zum 22. Mai 2010 stationär behandelt wurde (Durchgangsarztbericht Prof. Dr. P., Bl. 1 V-Akte). Danach wurde er ambulant von dem Orthopäden Dr. Sch. weiter behandelt (Verordnung von intensiven krankengymnastischen Übungen und Lymphdrainage).

Mit Bescheid vom 7. September 2010 lehnte die Beklagte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls mit der Begründung ab, nach der ständigen Rechtsprechung sei die Nahrungsaufnahme grundsätzlich dem privaten Bereich zuzuordnen, da sie unabhängig von einer beruflichen Tätigkeit erforderlich sei. Zur Begründung des Versicherungsschutzes sei es nicht ausreichend, dass die Mahlzeit in einer Betriebskantine eingenommen werde. Die Verunreinigung des Kantinenbodens begründe keine besondere betriebliche Gefahr. Denn solche Verschmutzungen kämen auch in Selbstbedienungsrestaurants vor und seien deswegen nicht betriebstypisch.

Mit seinem dagegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, er habe aus dringenden berufsbedingten Gründen das Essen in der Werkskantine einnehmen müssen. Eine anderweitige Essenseinnahme sei aufgrund des Geschäftstermins nicht realisierbar gewesen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15. März 2011 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, das allgemeine Interesse des Arbeitgebers an der Leistungsfähigkeit reiche ebenso wenig für den erforderlichen inneren Zusammenhang aus, wie das bloße Zur-Verfügung-stellen einer Werkskantine. Lediglich die Wege zu und von der Werkskantine seien versichert, doch dieser Versicherungsschutz ende (Hinweg) bzw. beginne (Rückweg) mit dem Durchschreiten der Außentür der Kantine. Der Hergang habe sich innerhalb der Kantine zugetragen und sei somit dem eigenwirtschaftlichen Bereich zuzurechnen. Nur in Ausnahmefällen, wenn besondere betriebliche Umstände vorlägen, die die Nahrungsaufnahme erforderlich machten oder beeinflussten, könne die Nahrungsaufnahme ausnahmsweise dem versicherten Bereich zugerechnet werden. Bei dem Kläger sei nicht ersichtlich, dass allein der Geschäftstermin die Notwendigkeit begründet hätte, in der Kantine zu essen. Vielmehr hätte er sich dort wie üblich aufgehalten.

Hiergegen hat der Kläger am 14. April 2011 Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben, zu deren Begründung er vorgetragen hat, der Unfall habe sich zwar innerhalb der Werkskantine vor der Salattheke zugetragen, aufgrund besonderer betrieblicher Umstände sei aber die beabsichtigte Nahrungsaufnahme an dem Unfalltag dem versicherten Bereich zuzuordnen. Denn aufgrund der räumlichen und personalen Größe des Arbeitgebers sei es erforderlich, dass die Mitarbeiter ihre Mahlzeiten an einem bestimmten Ort einnähmen. Zudem sei es aufgrund der Stellung des Klägers erforderlich, den Kontakt mit anderen Mitarbeitern während der Essenspausen aufrecht zu erhalten. Dies entspreche der Betriebsphilosophie des Arbeitgebers, wonach zwischen den Mitarbeitern ein besonderer Zusammenhang entstehe und bestehen solle, diese deshalb innerhalb der Firma miteinander kontaktieren und essen sollten. Außerdem hätten an dem Unfalltag noch besondere Umstände bestanden, denn er habe einen Besprechungstermin wahrnehmen müssen und deswegen gegen 12:00 Uhr essen müssen, um seine betrieblichen Verpflichtungen entsprechend pünktlich erfüllen zu können.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat das SG eine telefonische Auskunft bei dem Werk S. eingeholt. Herr S. hat mitgeteilt, dass die Kantine nur Mitarbeitern bzw. im Auftrag der Daimler AG tätigen Personen offen stehe, d. h. nichtöffentlich sei. Es bestehe auch kein Zugang von außerhalb des Werk Die Mahlzeiten seien zwar subventioniert, jedoch müssten alle Personen für ihr Essen bezahlen.

Das SG hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung am 26. März 2012 ausführlich zu dem Unfallhergang befragt und anschließend die Klage mit Urteil vom selben Tag abgewiesen. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, die Einnahme einer Mahlzeit sei auch während einer Arbeitspause grundsätzlich nicht versichert, weil die Nahrungsaufnahme für jeden Menschen ein Grundbedürfnis sei und deswegen betriebliche Belange, etwa das Interesse an der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit, regelmäßig zurückträten. Anders sei dies nur bei Geschäftsessen oder wenn die betriebliche Tätigkeit ein besonderes Hunger- oder Durstgefühl verursache oder betriebliche Zwänge den Versicherten veranlasst hätten, seine Mahlzeit an einem besonderen Ort oder in besonderer Form einzunehmen. Solche Umstände könnten auch dadurch begründet werden, dass sich der Versicherte bei der Mahlzeit infolge betrieblicher Zwänge besonders beeilen müsse. Diese Umstände lägen im Falle des Klägers nicht vor. Der Versicherungsschutz werde insbesondere nicht bereits dadurch begründet, dass der Arbeitgeber einen Verpflegungszuschuss zahle oder eine Kantine zur Verfügung stelle, da die Angestellten mehr oder weniger die Kosten des Essens selber zu tragen hätten. Da der Kläger sich bereits gegen 12:00 Uhr in der Kantine befunden habe und der Besprechungstermin erst gegen 14:00 Uhr hätte stattfinden sollen, er bereits den Schlüssel bei sich gehabt habe und die Fahrtzeit nach Untertürkheim nach dem Routenplaner 30 - 35 Minuten betragen hätte, hätte er selbst bei Berücksichtigung von einem nicht optimalen Verkehrsfluss noch ca. 1 Stunde Zeit gehabt, um sein Mittagessen einzunehmen. Er habe daher sein Essen nicht herunter schlingen müssen und hätte auch die Mahlzeiten in einem Schnellrestaurant auf dem Weg zu sich nehmen können. Deswegen liege keine Auswirkung einer betrieblichen Gefahr vor. Die Verunreinigung des Bodens könne auch in Selbstbedienungsrestaurants vorkommen.

Hiergegen hat der Kläger am 24. April 2012 Berufung mit der Begründung eingelegt, es handle sich bei der Betriebskantine aufgrund der Einrichtungskosten und der Subventionen um eine Betriebseinrichtung. Das ergebe sich auch daraus, dass Versicherungsnehmer der für die Kantine zuständigen Haftpflichtversicherung der Arbeitgeber selbst sei. Betriebliche Erfordernisse hätten es überdies dringend notwendig gemacht, dass er am Unfalltag sein Mittagessen in der Werkskantine hätte einnehmen müssen. Der Terminplan sei eng bemessen gewesen und er habe die Zeitabläufe genau koordinieren müssen. Eine wichtige Konferenz sei für 14:00 Uhr anberaumt worden. Er hätte bereits zwischen 13:30 und 13:45 Uhr in Untertürkheim sein sollen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 26. März 2012 sowie den Bescheid vom 7. September 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Ereignis vom 18. Mai 2010 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erachtet die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und verweist ergänzend auf die höchstrichterliche Rechtsprechung, die ihres Erachtens gegen die Annahme eines Arbeitsunfalls im Falle des Klägers spreche.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat der Senat eine weitere Auskunft bei der Firma Daimler AG S. eingeholt. Diese hat mit Schreiben vom 31. Oktober 2012 mitgeteilt, dass die auf dem Werksgelände befindliche Kantine auch von anderen genutzt werden könne. Die Mitarbeiter seien nicht automatisch während des Essens versichert, wohl aber der Kläger als Führungskraft der Ebene 4. Der Kläger habe deswegen bereits eine Unfallversicherungsleistung aus dem Konzern Unfallvertrag erhalten. Bei dem anberaumten Geschäftstermin sei mit einer Fahrzeit von 33 Minuten bei einer Entfernung von 30 km zu rechnen, je nach Verkehrssituation müsse aber ein ausreichender Sicherheitspuffer eingeplant werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Gründe

Die nach § 153 Ab 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und statthafte Berufung des Klägers (§§ 143, 144 SGG) ist zulässig, aber unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Sein Unfall vom 18. Mai 2010, bei dem er in der Betriebskantine gestürzt ist, ist nicht als Arbeitsunfall festzustellen.

Rechtsgrundlage für die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall ist § 8 Ab 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Unfallversicherung - SGB VII). Nach dieser Vorschrift sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit. Nach dessen Satz 2 sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Für einen Arbeitsunfall ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitbegrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls, sondern u.a. für die Gewährung einer Verletztenrente (BSG, Urteil vom 12. April 2005 - B 2 U 11/04 R - BSGE 94, 262; und Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196).

Der sachliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit - hier der Tätigkeit als Kfz-Meister - und der Verrichtung zur Zeit des Unfalls - hier dem Mittagessen - ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. Bei einem nach § 2 Ab 1 Nr. 1 SGB VII versicherten Beschäftigten, wie vorliegend, sind Verrichtungen im Rahmen des dem Beschäftigungsverhältnis zugrunde liegenden Arbeitsverhältnisses Teil der versicherten Tätigkeit und stehen mit ihr im erforderlichen sachlichen Zusammenhang. Dies bedeutet nicht, dass alle Verrichtungen eines grundsätzlich versicherten Arbeitnehmers im Laufe eines Arbeitstages auf der Arbeitsstätte versichert sind, weil nach dem Wortlaut des § 8 Ab 1 Satz 1 SGB VII nur Unfälle "infolge" der versicherten Tätigkeit Arbeitsunfälle sind. Typischerweise und in der Regel unversichert sind höchstpersönliche Verrichtungen, wie z.B. Essen, oder eigenwirtschaftliche, wie z.B. Einkaufen. Maßgebliches Kriterium für die wertende Entscheidung über den sachlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Verrichtung zur Zeit des Unfalls ist die Handlungstendenz des Versicherten, ob er eine dem Beschäftigungsunternehmen dienende Verrichtung ausüben wollte (st.Rspr. BSG, Urteil vom 30. Januar 2007 - B 2 U 8/06 R - Juris),

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das BSG ausnahmsweise den sachlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und einer Nahrungsaufnahme bejaht, wenn die versicherte Tätigkeit ein besonderes Hunger- oder Durstgefühl verursacht hat, der Versicherte sich bei der Mahlzeit infolge betrieblicher Zwänge besonders beeilen musste, er veranlasst war, seine Mahlzeit an einem bestimmten Ort oder in besonderer Form einzunehmen, die Essenseinnahme im Rahmen einer Kur angeordnet war oder dem Kurerfolg dienlich sein sollte oder ganz allgemein, wenn bestimmte betriebliche Umstände den Versicherten zwar nicht zwangen, aber wenigstens veranlassten, seine Mahlzeit an einem bestimmten Ort einzunehmen, betriebliche Umstände die Einnahme des Essens also wesentlich mitbestimmten (vgl. zusammenfassend BSG, Urteil vom 24. Februar 2000 - B 2 U 20/99 R - SozR 3-2700 § 8 Nr. 2 m.w.N.). Die bloße Zurverfügungstellung einer Kantine durch das Unternehmen genügt jedoch ebenso wenig wie der Umstand, dass der Versicherte sich auf einer Dienstreise befindet.

Das Ereignis vom 18. Mai 2010 ist - gemessen an diesen Kriterien - kein Arbeitsunfall, da es an einem inneren oder sachlichen Zusammenhang mit der nach § 2 Ab 1 SGB VII versicherten Tätigkeit des Klägers als Kfz-Meister fehlt. Das hat das SG ausführlich begründet und unter Berücksichtigung der hierzu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung wie auch der Literatur dargelegt. Der Senat schließt sich dem nach eigener Würdigung voll umfänglich an und sieht deswegen insoweit von einer weiteren Darlegung der Entscheidungsgründe nach § 153 Ab 2 SGG ab.

Ergänzend ist lediglich auszuführen, dass auch die Ermittlungen des Senats nicht das Berufungsbegehren des Klägers stützen. Denn nach der Auskunft der Daimler AG lagen keine betrieblichen Gründe für die Nahrungsaufnahme in der Kantine vor. Der anberaumte Geschäftstermin war vielmehr erst zwei Stunden nach dem Unfallereignis und die zu veranschlagende Fahrzeit betrug nur 30 Minuten, so dass sogar unter Berücksichtigung von einem ausreichenden Sicherheitspuffer noch genügend Zeit verblieb, der Kläger deswegen das Essen nicht in der betriebseigenen Kantine zu sich nehmen musste. Dass es sich bei der Kantine um eine Betriebseinrichtung handelte, ist insoweit nach der Rechtsprechung nicht relevant. In diesem Zusammenhang kommt Führungskräften auch nicht - entgegen dem Vorbringen des Klägers - ein erhöhter Versicherungsschutz aufgrund des Umstands zu, dass sie nach der Betriebsphilosophie des Arbeitgebers ihre Mahlzeiten mit den anderen Beschäftigten einnehmen sollen. Schließlich verwirklicht sich in der Verunreinigung des Kantinenbodens auch keine besondere betriebliche Gefahr (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25. Oktober 2001, L 10 U 1968/00).

Die Berufung ist daher zurückzuweisen, wobei die Kostenentscheidung auf § 193 Ab 1 Satz 1 SGG beruht.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.