VG Augsburg, Urteil vom 18.11.2011 - Au 5 K 11.30247
Fundstelle
openJur 2012, 130008
  • Rkr:
Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Tatbestand

Der Kläger ist ein nach seinen Angaben am … 1993 geborener irakischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit und yezidischer Religionszugehörigkeit aus …, Bezirk …, Provinz ….

Er reiste nach seinen Angaben am 22. Januar 2011 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 3. Februar 2011 einen Asylantrag.

In der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 28. März 2011 führte der Kläger im Wesentlichen aus, er selbst habe keinen Beruf erlernt. Er habe seinem Vater in einem Alkoholladen in … geholfen. Die meiste Zeit sei er jedoch zu Hause gewesen. Am 13. April 2010 habe es einen Anschlag gegeben und sein Vater habe die Arbeit in … aufgegeben. Bis November 2010 sei sein Vater zu Hause gewesen und habe gelegentlich als Bauarbeiter gearbeitet. Ab November 2010 sei sein Vater wieder nach … gegangen, weil er zu Hause nicht viel verdient habe. Er habe den Irak verlassen, weil die Situation für Yeziden im Irak immer gefährlicher werde.

Mit Bescheid vom 25. Mai 2011, Az. …, lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter ab (Nr. 1 des Bescheides), stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen (Nr. 2 des Bescheides), stellte weiter fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3 des Bescheides), forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen und drohte ihm für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung in den Irak oder einen anderen übernahmebereiten oder zur Übernahme verpflichteten Staat an (Nr. 4 des Bescheides).

Auf die Begründung des Bescheides wird Bezug genommen.

Mit Schreiben vom 10. Juni 2011 hat der Kläger bei Gericht Klage erhoben und beantragt,

1. die Nrn. 2 bis 4 des Bescheides des Bundesamtes vom 25. Mai 2011 aufzuheben,

2. die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Irak vorliegen,

3. hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

Der Kläger hat die Klage nicht begründet.

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 30. Juni 2011 beantragt,

die Klage abzuweisen.

Am 17. November 2011 fand die mündliche Verhandlung vor Gericht statt. Der Kläger ist zu dem Termin nicht persönlich erschienen.

Im Übrigen wird ergänzend auf die vorgelegten Behördenakten, die Gerichtsakten und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage ist im Haupt- und Hilfsantrag nicht begründet.

Dem Kläger steht kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG oder auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zu. Der Bescheid des Bundesamtes vom 25. Mai 2011 ist, soweit er Gegenstand des Klageverfahrens ist, rechtmäßig (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG.

Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG kann die Verfolgung vom Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.

Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylVfG Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Einer Person, die Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist, wird gemäß § 3 Abs. 4 AsylVfG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, sie erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Der Verweis in § 3 Abs. 1 AsylVfG auf das Genfer Abkommen für die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (GK; BGBl. II 1953 S. 559), der sich auch in § 60 Abs. 1 AufenthG wieder findet, verdeutlicht, dass der Gesetzgeber den Flüchtlingsstatus im Einklang mit den völkervertraglichen Pflichten bestimmen will. Dabei wird die gesetzliche Definition der Flüchtlingseigenschaft durch die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie, ABl. Nr. L 304 vom 30.9.2004, S. 12 ff.) überlagert. Mit dieser Richtlinie legt der Rat der Europäischen Kommission auf der Grundlage des Art. 63 Abs. 1 des EG-Vertrages Mindestnormen für die Anerkennung von Flüchtlingen fest. Die Qualifikationsrichtlinie geht in Art. 2 lit. c, Art. 6 bis 8 von dem der Genfer Flüchtlingskonvention zugrundeliegenden Flüchtlingsbegriff im Sinne der sogenannten Schutztheorie und nicht von dem bisherigen deutschen Begriff der politischen Verfolgung aus. Die Neuregelung des § 60 Abs. 1 AufenthG führt insoweit unter Berücksichtigung der Qualifikationsrichtlinie zu einer Anpassung des deutschen Rechts an die internationale Staatenpraxis. Für die Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG ist dabei der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention maßgebend. Mit der Einführung des § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG hat der Gesetzgeber auch den Kreis der Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, entsprechend erweitert. Demzufolge kann die Verfolgung auch von nicht staatlichen Akteuren ausgehen. Die bisher grundsätzlich geforderte Anknüpfung an staatliche Verantwortung für Verfolgung ist damit im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr erforderlich. Nicht staatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG können dabei auch Organisationen ohne Gebietsgewalt, Gruppen oder auch Einzelpersonen sein, von denen eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ausgeht. Im Übrigen gilt für die Beurteilung, ob sich ein Schutzsuchender auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG berufen kann, derselbe Prognosemaßstab wie hinsichtlich einer Schutzgewährung nach Art. 16 a Abs. 1 GG.

Die Verfolgungsfurcht ist danach begründet, wenn dem Kläger bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände des Falles eine Verfolgung aus einem der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Kriterien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass es ihm nicht zuzumuten ist, in sein Heimatland zurückzukehren (vgl. BVerwG vom 7.10.1975 BVerwGE 49, 202 ff.). für den Nachweis der objektiven Gefährdungslage genügt, soweit zur Begründung des Schutzbegehrens Ereignisse außerhalb des Geltungsbereichs des Asylverfahrensgesetzes angeführt werden, wegen des sachtypischen Beweisnotstandes im Asylverfahren die bloße Glaubhaftmachung dieser Vorgänge (BVerwG vom 29.11.1977 BVerwGE 55, 82). Die Beachtlichkeit persönlicher Gefährdung hängt dabei nicht allein vom Grad der Wahrscheinlichkeit ab, mit der eine Verfolgung zu erwarten ist. Sie wird auch von der Erwägung beeinflusst, ob dem Asylsuchenden das verbleibende Risiko einer Rückkehr angesichts der Schwere möglicher Angriffe zuzumuten ist. Einem bereits in der Vergangenheit von Verfolgungsmaßnahmen Betroffenen bzw. aus Furcht vor unmittelbar drohender Verfolgung ausgereisten Ausländer ist danach die Rückkehr in den Verfolgerstaat nur dann zuzumuten, wenn erneute Nachstellungen mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen erscheinen. Bei unverfolgt ausgereisten Schutzsuchenden kann das Schutzbegehren nur Erfolg haben, wenn ihnen aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit überwiegender Wahrscheinlichkeit droht.

Von diesen Maßstäben ausgehend kann der Kläger die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich einer Abschiebung in den Irak nicht beanspruchen. Das gilt sowohl im Hinblick auf individuelle Gründe des Klägers als auch im Hinblick auf die Geltendmachung der im Irak herrschenden allgemeinen Lage.

1.1 Der Kläger hat eine individuelle Verfolgungssituation im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht glaubhaft gemacht.

Es ist Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich eine politische Verfolgung ergibt, in schlüssiger Form vorzutragen, § 15 Abs. 1, § 25 Abs. 1 und 2 AsylVfG. Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung gewinnen. Aufgrund der Beweisschwierigkeiten, in denen sich der Schutzsuchende hinsichtlich der asylbegründenden Vorgänge im Heimatland regelmäßig befindet, muss sich das Gericht jedoch mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig ausgeschlossen werden können (BVerwG vom 16.4.1985 Az. 9 C 109/84). Dem persönlichen Vorbringen des Schutzsuchenden kommt daher besondere Bedeutung zu. Ihm obliegt es, seine Gründe für das Vorliegen von Verfolgung folgerichtig, substantiiert und mit genauen Einzelheiten vorzutragen (BVerwG vom 21.7.1989 NVwZ 1990, 171).

Das Asylanerkennungsverfahren ist eine Einheit, so dass ein gegenüber den Angaben vor der Verwaltungsbehörde neuer Sachvortrag im gerichtlichen Verfahren regelmäßig Zweifel an der Richtigkeit dieses Vorbringens wecken wird. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Kläger nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (BVerwG vom 12.11.1985 Az. 9 C 27/85; BVerwG vom 20.8.1974 Az. 1 B 15.74).

Unter Beachtung dieser Maßstäbe hat der Kläger kein individuelles Verfolgungsschicksal glaubhaft gemacht. Er hat in der Anhörung vor dem Bundesamt lediglich angegeben, sein Vater habe die Arbeit in einem Alkoholladen in … aufgegeben, als es am 13. April 2010 einen Anschlag gegeben habe. Ob dieser Anschlag - wenn man als wahr unterstellt, dass er stattgefunden hat - in einem räumlichen oder sonstigen Bezug zu dem Vater des Klägers oder dem Kläger selbst stand, hat der Kläger nicht näher dargelegt. Auch wenn man als wahr unterstellt, dass der Vorfall tatsächlich der Anlass dafür gewesen sein sollte, dass der Vater des Klägers seine Arbeit in … aufgegeben hat und vorübergehend nach Hause zurück gekehrt ist, lässt sich daraus aber ein individuelles Verfolgungsschicksal des Klägers nicht ableiten.

1.2 Eine Gruppenverfolgung des Klägers im Irak wegen seiner yezidischen Religionszugehörigkeit ist zu verneinen.

Die Gefahr einer Verfolgung nach § 60 Abs. 1 AufenthG kann sich auch gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Die Besonderheit der Gruppenverfolgung liegt darin, dass die Rückschlüsse auf die individuelle Verfolgungsgefahr nicht oder nicht nur aus einem persönlich erlittenen Schicksal, sondern auch aus Maßnahmen gegen eine ganze Gruppe gezogen werden können, der der Ausländer angehört (BVerwG vom 30.10.1984 BVerwGE 70, 232 ff.). Eine Gruppenverfolgung setzt voraus, dass jedes Mitglied der Gruppe im Verfolgerstaat eigener Verfolgung jederzeit gegenwärtig sein muss; die eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen muss als eher zufällig anzusehen sein (BVerfG vom 23.1.1991 Az. 2 BvR 902/85). Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogrammes - ferner eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, die die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt (BVerwG vom 21.4.2009 Az. 10 C 11/08; BVerwG vom 18.7.2006 BVerwGE 126, 243 ff.). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass darauf für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie unter Berücksichtigung des allgemeinen Grundsatzes der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts dem Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche inländische Fluchtalternative besteht, die im Falle einer drohenden Rückkehrverfolgung vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (BVerwG vom 21.4.2009 Az. 10 C 11/08). Diese Grundsätze, die für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelt worden sind, sind im Grundsatz auch auf die private Verfolgung durch nicht staatliche Akteure übertragbar (BVerwG vom 18.7.2006 BVerwGE 126, 243).

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 a und b AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit dem Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Qualifikationsrichtlinie in Einklang (BVerwG vom 21.4.2009 Az. 10 C 11/08).

Das Bundesverwaltungsgericht hat bei einer - wie im vorliegenden Fall - größeren Gruppe eine Verfolgungsdichte von etwa 1/3 als im Ansatz für die Regelvermutung der eigenen Verfolgung ausreichend angesehen, die aber auch auf entsprechender Tatsachengrundlage konkret belegt werden muss (BVerwG vom 30.4.1996 Az. 9 C 170/95).

Danach liegt ungeachtet dessen, dass es auch weiterhin zu Angriffen auf Yeziden im Irak kommt, die für eine Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte nicht vor. Die schwersten Anschläge gehen auf das Jahr 2007 zurück. Allein am 15. August 2007 starben infolge des schwersten Sprengstoffattentates seit 2003 neueren Schätzungen zufolge über 400 Angehörige der yezidischen Minderheit in der Provinz Ninawa. Auch in neuerer Zeit werden Gewalttaten gemeldet. So kamen bei einem Bombenanschlag auf ein Café in Sindjar am 18. August 2009 21 Yeziden ums Leben. (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28.11.2010, S. 27).

Gleichwohl wird die nach der aufgezeigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erforderliche Verfolgungsdichte nicht erreicht. Allein die Tatsache, dass es unbestreitbar im Irak immer wieder zu unverhältnismäßiger Gewaltanwendung, willkürlichen Tötungen, Zerstörung von Häusern, Folter, Misshandlungen und unrechtmäßigen Inhaftierungen kommt, lässt nicht erkennen, dass Angehörige der yezidischen Glaubensrichtung einer systematischen Verfolgung im Irak ausgesetzt sind. Überdies haben sich mit dem Inkrafttreten des Abzugabkommens zwischen der USA und Irak am 1. Januar 2009 und dem damit verbundenen Abzug aller US-Kampftruppen zum August 2010 wie auch mit der seit 2008 geänderten US-Strategie zum Schutz der Zivilbevölkerung Berichte über Fälle exzessiver Gewalt gegen unbeteiligte Dritte erheblich verringert. Aufgrund der Tatsache, dass insgesamt seit Frühsommer 2007 die Zahl der sicherheitsrechtlichen Vorfälle im Irak um ca. 80 % abgenommen hat, ist eine Gruppenverfolgung von Yeziden zum derzeitigen Zeitpunkt abzulehnen (so auch BayVGH vom 28.12.2010 Az. 13 a ZB 10.30400; BayVGH vom 27.6.2011 Az. 20 ZB 11.30204).

2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die hilfsweise begehrte Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich des Irak.

2.1 Gesichtspunkte für das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 oder Abs. 3 AufenthG sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

2.2 Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.

Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn sich seine Abschiebung in Anwendung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK - (BGBl 1952 II S. 685) als unzulässig erweist. Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK drohen könnte, bestehen nicht.

2.3 Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG.

Nach dieser Bestimmung ist von einer Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes ausgesetzt ist. Diese Vorschrift setzt die sich aus Art. 18 i.V.m. Art. 15 c der Richtlinie 2004/83/EG ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines „subsidiären Schutzstatus“ bzw. „subsidiären Schutzes“ in nationales Recht um.

Der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes ist dabei unter Berücksichtigung der Bedeutung dieser Begriffe im humanitären Völkerrecht, insbesondere unter Heranziehung von Art. 3 der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht 1949 und des zur Präzisierung erlassenen Zusatzprotokolls II von 1977 auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u.a. für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konfliktes im Sinne von Art. 15 c der Richtlinie 2004/83/EG nicht von vorne herein aus. Der Konflikt sollte jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerilla-Kämpfen zu sehen sind (BVerwG vom 24.6.2008 Az. C 10.C43/07 - juris -).

Nach Maßgabe dieser Grundsätze und nach den vorliegenden Informationen ist davon auszugehen, dass im Irak und auch in der Provinz …, aus der der Kläger stammt, eine solche Bürgerkriegssituation nicht besteht. Wie oben bereits ausgeführt, ist die Sicherheitslage im Irak zwar immer noch verheerend. Allerdings hat seit dem Frühsommer 2007 die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Irak um ca. 80 % abgenommen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28.11.2010, S. 6). Auch die interkonfessionellen Übergriffe haben ab dem Frühjahr 2008 nachgelassen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.4.2010, S. 6). Die zweifelsohne angespannte Sicherheitslage resultiert aus inneren Unruhen und Spannungen, die allerdings nicht die Intensität und Dauerhaftigkeit eines Bürgerkrieges aufweisen.

Dem Kläger droht auch bei einer Rückkehr in die Provinz … /… nach derzeitiger Sicherheitslage keine erhebliche Gefahr für Leib und Leben i.S.d. § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG (vgl. BayVGH vom 28.12.2010 Az. 13a ZB 10.30400).

2.4 Der Abschiebung des Klägers steht auch kein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen.

Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Entscheidungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG).

Beruft sich der Ausländer demzufolge auf allgemeine Gefahren, kann er Abschiebungsschutz regelmäßig nur durch einen generellen Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erhalten. Die damit zum Ausdruck kommende Sperrwirkung der in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG angesprochenen allgemeinen Gefahr, kann nur überwunden werden, um verfassungswidrige Schutzlücken zu vermeiden. Eine solche Schutzlücke wäre gegeben, wenn einerseits allgemeine Gefahren bestünden und andererseits ein dieser Gefahrenlage Rechnung tragender Erlass nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht bestehen würde. Damit in einem solchen Fall der Ausländer nicht „sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“, wären (auch) die Verwaltungsgerichte verpflichtet, ungeachtet der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, dem Ausländer Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (BVerwG vom 8.12.1998 Az. 9 C 4.98 zu § 53 Abs. 6 AuslG a. F.).

Es ist dabei nicht entscheidend, welche Gründe der jeweiligen Erlasslage zugrunde liegen. Denn die zur Vermeidung verfassungswidriger Verhältnisse gebotene Überwindung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG knüpft nicht an die Gründe an, aufgrund derer ein Erlass erforderlich ist, sondern an die von ihm ausgehende Schutzwirkung (vgl. OVG LSA vom 30.3.2005 Az. 4 B 9/05.A).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt es bei der Gewährung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht darauf an, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person des Ausländers so verdichtet hat, dass sie eine „ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit“ im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG darstellt. Im Fall allgemeiner Gefahren dürfe daher grundsätzlich auf Erlasse nach § 60a AufenthG verwiesen werden. Dies gelte auch vor dem Hintergrund, dass bei Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG im Regelfall die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG vorgesehen ist, der Schutz durch eine Erlasslage dagegen lediglich zu jeweils verlängerten Duldungen führe. Verfassungsrechtlich komme es nämlich mit Rücksicht auf Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG nur auf den Schutz vor Abschiebung in eine unmittelbar drohende extreme Gefahrensituation an, nicht aber auf Folgewirkungen im Hinblick auf eine Verfestigung des Aufenthaltsrechts wie etwa einen Anspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung (BVerwG vom 24.6.2008 Az. 10 C 43.07 m.w.N.).

2.4.1 Individuelle Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind zu verneinen.

Bezüglich eines individuellen Verfolgungsschicksals des Klägers kann hier zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf die obigen Ausführungen zu § 60 Abs. 1 AufenthG verwiesen werden.

2.4.2 Aus den Erkenntnismaterialien des Gerichts ergibt sich, dass Yeziden im Irak einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28.11.2010, S. 27). Bei den Gefahren, die sich aus der yezidischen Religionszugehörigkeit des Klägers ergeben, handelt es sich jedoch nicht um eine individuelle Gefahr, sondern um eine allgemeine Gefahr, der alle Yeziden ausgesetzt sind.

Vor allgemeinen Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG ist der Kläger dadurch geschützt, dass das Bayerische Staatsministerium des Innern im Erlasswege mit Rundschreiben vom 3. Juli 2008 (Az. I A-2086.10-439) zur ausländerrechtlichen Behandlung irakischer Staatsangehöriger verfügt hat, dass irakische Staatsangehörige, die nicht Straftäter oder unter Sicherheitsaspekten vordringlich abzuschieben sind, nicht abgeschoben werden und abgelehnten Asylbewerbern Duldungen bis auf weiteres auf der Grundlage des § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG bis zur Dauer von jeweils sechs Monaten erteilt bzw. verlängert werden. Das Gericht geht daher davon aus, dass die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger weiterhin grundsätzlich ausgesetzt bleibt. Damit liegt eine Erlasslage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, § 60a AufenthG vor, die dem Kläger derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt. Folglich bedarf der Kläger keines zusätzlichen Schutzes vor der Durchführung der Abschiebung etwa in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (BVerwG vom 12.7.2001 NVwZ 2001, 1420 zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG a.F.).

Der Kläger ist deswegen auch nicht schutzlos gestellt. Denn sollte der ihm infolge der genannten Erlasslage zustehende Abschiebungsschutz nach Rechtskraft dieses Verfahrens entfallen, so könnte er unter Berufung auf eine extreme Gefahrenlage, soweit eine solche dann besteht, jederzeit ein Wiederaufgreifen des Verfahrens vor dem Bundesamt verlangen (vgl. BVerwG vom 12.7.2001 a.a.O.). Bis zu einer Entscheidung des Bundesamts über einen solchen Wiederaufgreifensantrag darf die Abschiebung nur vollzogen werden, wenn dem Kläger zuvor Gelegenheit zur Inanspruchnahme verwaltungsgerichtlichen (Eil-)Rechtsschut-zes gegeben worden ist (vgl. BVerwG vom 16.11.1999 Az. 9 C 4.99; vom 12.7.2001 Az. 1 C 2/01).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 GKG. Gerichtskosten werden nach § 83 b AsylVfG nicht erhoben.

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