OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 10.10.2012 - 1 U 201/11
Fundstelle
openJur 2012, 129677
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 2-4 O 521/05
Öffentliches Recht Zivilrecht Verfassungsrecht Strafrecht Europarecht
§§ 253, 839 BGB; § 136a StPO; § 308 ZPO; Artt. 34, 104 GG; Art. 3 EMRK

1. Zum Klagegrund bei der Geltendmachung einer Geldforderung wegen Verletzung der Menschenwürde

2. Zur Strafbarkeit der Androhung "erheblicher Schmerzen" durch Polizeibeamte, um den Aufenthaltsort eines entführten Kindes in Erfahrung zu bringen

3. Zur Bindungswirkung eines Urteils des EGMR für die innerstaatlichen Gerichte bei Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK

Tenor

Die Berufung des beklagten Landes gegen das am 4. August 2011verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main (2-04 O 521/05) wird zurückgewiesen.

Das beklagte Land hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das angefochtene Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Das vorliegende Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Der Kläger nimmt das beklagte Land auf Zahlung und Feststellung in Anspruch mit dem Vorwurf, im Dienst des beklagten Landes stehende Polizeibeamte hätten im Rahmen eines gegen ihn geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens seine Rechte, insbesondere seine Menschenwürde, verletzt, und ihm hierdurch weitere Schäden zugefügt.

Wegen der tatsächlichen Feststellungen wird zunächst gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.

Das Landgericht hat dem Zahlungsantrag des Klägers in Höhe von 3.000,00 Euro stattgegeben und seine Klage im Übrigen abgewiesen: Der Kläger könne zwar kein Schmerzensgeld im Sinne des § 253 Abs. 2 BGB verlangen, weil er eine Verursachung seiner psychischen Probleme durch Ereignisse bei seiner Festnahme oder der polizeilichen Vernehmung am 1. Oktober 2002 nicht habe nachweisen können; auch eine Reihe vom Kläger behaupteter Umstände dieser Vernehmung seien nicht erwiesen, insbesondere körperliche Übergriffe des vernehmenden Polizeibeamten. Jedoch stehe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest, dass dem Kläger bei der Vernehmung auf eine - mit der Behördenleitung abgestimmte - Anweisung des damaligen Polizei... A von Kriminalhauptkommissar B die Zufügung erheblicher Schmerzen angekündigt worden sei, falls er den Aufenthaltsort des entführten Kindes weiterhin verschweige, und er hierauf das Versteck des getöteten Opfers alsbald preisgegeben habe. Hierdurch hätten die Polizeibeamten gegen die Menschenwürdegarantie der Art. 1 Abs. 1, 104 Abs. 1 Satz 2 GG sowie gegen Art. 3 EMRK verstoßen, sich strafbar gemacht und ihre Amtspflichten schuldhaft verletzt.

Ihr Handeln sei weder durch eine polizeirechtliche Ermächtigungsgrundlage noch durch allgemeine strafrechtliche Rechtfertigungsgründe legitimiert gewesen und auch nicht durch besondere Gründe entschuldigt. Bei Anwendung der gemäß § 276 BGB gebotenen Sorgfalt hätten sie erkennen können, dass die gewählte Vernehmungsmethode unerlaubt und amtspflichtwidrig sei. Wegen dieser Amtspflichtverletzung sei dem Kläger nach dem insoweit bindenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 1. Juni 2010 (22978/05) eine Entschädigung in Geld zu gewähren.

Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles, insbesondere der achtenswerten Motive der beiden Polizeibeamten und dem Umstand, dass ihr Handeln bereits durch ein gegen sie ergangenes Strafurteil und weitere Gerichtsentscheidungen deutlich missbilligt worden sei, erscheine eine Entschädigung von 3.000,00 Euro angemessen.

Wegen weiterer Einzelheiten der Entscheidungsgründe wird auf das Urteil vom 4. August 2011 verwiesen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des beklagten Landes, mit der es eine vollständige Klageabweisung erstrebt. Es rügt eine fehlerhafte Rechtsanwendung und unzutreffende Tatsachenfeststellungen des Landgerichts.

Dieses habe gegen § 308 Abs. 1 ZPO verstoßen, indem es dem Kläger anstelle des mit der Klage geltend gemachten Schmerzensgeldes eine Geldentschädigung gemäß Art. 1 Abs. 1 GG i. v. m. § 839 Abs. 1 BGB zugesprochen habe.

Auch habe das Landgericht nicht berücksichtigt, dass ein vom Kläger nach dem 31. De-zember 2005 geltend gemachter Geldentschädigungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG i. v. m. § 839 Abs. 1 BGB verjährt wäre, weil sich die verjährungshemmende Wirkung seines Prozesskostenhilfeantrags nicht auf einen solchen Anspruch erstrecke.

Im Übrigen habe der Kläger einen etwaigen Geldentschädigungsanspruch wegen der Geschehnisse bei seiner polizeilichen Vernehmung am 1. Oktober 2002 verwirkt, da er nach der rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung der Zeugen A und B am 20. Dezember 2004 bis zu seinem Prozesskostenhilfeantrag im vorliegenden Verfahren noch ein Jahr zugewartet und zudem in dem Verfahren vor dem EGMR sowie in einem Buch erklärt habe, er erstrebe weder mit seiner Beschwerde noch in dem Strafverfahren eine finanzielle Entschädigung. Hierzu begebe er sich mit seiner jetzigen Geldforderung in einen treuwidrigen Selbstwiderspruch.

Ferner stelle sich angesichts der Neuregelung des § 253 BGB die Frage, ob die richter-rechtlich entwickelten Grundsätze über die Geldentschädigung bei Persönlichkeits-rechtsverletzung noch anwendbar seien.

Zu rügen seien auch Mängel der Beweiswürdigung des Landgerichts. So gebe es die Aussage des Zeugen A teilweise unzutreffend wieder: Dieser habe nicht angeordnet, den Kläger unter Zufügung von Schmerzen erneut zu befragen, sondern dies lediglich beabsichtigt und dem Zeugen B auch nur eine solche Absicht mitgeteilt. Der Zeuge A habe dem Zeugen B auch nichts über die Art und Weise der anzudrohenden Schmerzzufügung gesagt; der vom Landgericht insoweit angeführte Vermerk des Zeugen A, der Ausführungen hierzu enthalte, sei erst im Nachhinein verfasst worden, könne dem Zeugen B also bei der fraglichen Vernehmung noch gar nicht bekannt gewesen sein.

Eine Anhörung des Klägers gemäß § 141 ZPO sei nicht angezeigt gewesen, da das Landgericht seine Feststellungen über den Inhalt des fraglichen Gesprächs auf weitere Beweismittel und Indizien, nämlich auf die Aussage des Zeugen A und den von diesem erstellten Vermerk, gestützt habe. Die Würdigung der Angaben des Klägers stehe in Widerspruch zu dem unstreitigen Teil des Urteilstatbestandes, wo von einer Ankündigung „von Schmerzen, die der Kläger noch nie erlebt habe“ durch den Zeugen B nicht die Rede sei. Auch erkläre das Landgericht nicht, weshalb es einerseits den Aussagen der Zeugen und A und B Glauben schenke, andererseits aber meine, wegen abweichender Angaben des Klägers von den Aussagen der beiden als glaubwürdig erachteten Zeugen abweichen zu können. Ebenso wenig sei nachvollziehbar, weshalb das Landgericht dem Kläger einen Teil seiner Angaben glaube, einen anderen aber nicht. Die Argumentation, der Kläger habe „glaubhaft und über mehrere Vernehmungen im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen die Polizeibeamten konstant“ angegeben, dass B von Schmerzen „wie er sie noch nie erlebt hat“ und „die man später nicht mehr feststellen kann“ gesprochen habe, verstoße gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 355 ZPO). Beweisergebnisse anderer Verfahren dürften zwar im Wege des Urkundsbeweises in den Prozess eingeführt werden; beantrage jedoch eine Partei die Anhörung eines Zeugen, dürfe diese nicht durch Verwertung der in anderen Verfahren protokollierten Aussagen ersetzt werden. Daher hätte das Landgericht bei seiner Beweiswürdigung nicht auf Angaben des Klägers zurückgreifen dürfen, nachdem „im vorliegenden Fall Zeugenbeweis angetreten worden war“. Zudem könnten Protokolle aus anderen Ver-fahren nicht wie ein Zeugenbeweis gewertet werden, zumal „eine Glaubwürdigkeits-beurteilung regelmäßig nicht möglich“ sei. Das Landgericht habe den früheren Vernehmungen des Klägers nicht beigewohnt und daher nicht beurteilen können, ob seine dortigen Aussagen glaubhaft gewesen seien. Im Übrigen habe der Kläger in dem gegen die Zeugen A und B geführten Strafverfahren nicht konstant und widerspruchsfrei ausgesagt; vielmehr habe er die zeitliche Abfolge des von dem Zeugen B Gesagten unterschiedlich dargestellt. Schließlich habe das Landgericht nicht gewürdigt, dass der Kläger „während des gesamten Ermittlungsverfahrens fortgesetzt und notorisch die Unwahrheit gesagt“ habe und es geradezu ein strukturelles Merkmal seiner Persönlichkeit sei, die „Wahrheit“ immer so zu vermitteln, wie er sie selbst sehen wolle; dies klinge auch in dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. C an.

Ohnehin seien Aussagen einer Partei naturgemäß „parteilich“ und müssten daher „von vornherein hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit“ zurückhaltend betrachtet werden;

den Angaben des Klägers komme angesichts seiner zahlreichen unwahren Aussagen schlechterdings kein Beweiswert zu.

Nach allem sei das Landgericht von einem unbewiesenen Sachverhalt ausgegangen. Erwiesen sei, dass der Zeuge A dem Zeugen B lediglich gesagt habe, er solle „ ... sagen, dass sich die Behördenleitung damit nicht zufrieden gebe. Er müsse damit rechnen, dass unmittelbarer Zwang angewendet werde“, und der Zeuge B daraufhin dem Kläger gesagt habe, es sei angeordnet worden, dass jemand komme, der ihm Schmerzen zufügen könne, er werde mit dem Hubschrauber eingeflogen, ferner, dass die Besorgung eines Wahrheitsserums veranlasst sei. Hierauf habe der Kläger keine sichtliche Reaktion gezeigt; vielmehr habe er erst auf „ständiges Insistieren“, er werde sein Leben lang an den Jungen denken und von ihm träumen, spontan Angaben gemacht.

Hiernach habe der Zeuge B keine Nötigung im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB begangen: Die unspezifische Ankündigung, dass jemand komme, der Schmerzen zu-fügen könne, sei keine Ankündigung eines empfindlichen Übels; der Zeuge B habe auch nicht behauptet, Einfluss auf den Eintritt des Übels zu haben; schließlich habe der Kläger nicht infolge einer Drohung des Zeugen B den Leichenfundort preisgegeben. Dementsprechend sei auch der Zeuge A nicht nach § 357 Abs. 1 StGB strafbar. Ebenso fehle es an einer schweren Verletzung der Menschen-würde des Klägers im Sinne von Art. 1 Abs. 1, 104 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 3 EMRK. Eine vom Landgericht angenommene Bindung an das Urteil des EGMR vom 1. Juni 2010 scheide insoweit aus, da dieses Urteil auf unzutreffenden Sachverhaltsannahmen beruhe. Unter Zugrundelegung des vorstehend geschilderten, im vorliegenden Rechtsstreit erwiesenen Sachverhalts wäre der EGMR wahrscheinlich zu einer anderen rechtlichen Einordnung der Vernehmung des Klägers gelangt.

Denn zu der Annahme, der Kläger habe „unter Drohung“ das Versteck der Leiche gestanden, hätte der EGMR hiernach nicht kommen können. Außerdem hätten sowohl der EGMR als auch das Bundesverfassungsgericht „die Schwere der Persönlichkeitsrechtsverletzung“ gerade in der „Hilflosigkeit der Lage des Klägers aufgrund des angeblichen Gefesselt-Gewesen-Seins gesehen“. Eine Fesselung des Klägers habe das Landgericht aber gar nicht festgestellt.

Daher stehe dem Kläger selbst dann kein Anspruch auf Geldentschädigung zu, wenn man die vom Landgericht als erwiesen erachteten Tatsachen zugrunde lege. Denn eine Verletzung der Menschenwürde begründe nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht zwingend einen Geldentschädigungsanspruch. Das Urteil des EGMR vom 1. Juni 2010 enthalte insoweit keine bindenden Vorgaben. Zum einen beschränke sich die Bindungswirkung dieses Urteils auf seinen Tenor, also auf die Feststellung eines Konventionsverstoßes als solchen; sie erstrecke sich nicht auf das für die Zubilligung einer Geldentschädigung gemäß Art. 41 EMRK oder Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. § 839 Abs. 1 BGB maßgebliche Kriterium der Schwere der Verletzung.

Zum anderen sei der EGMR in diesem Zusammenhang aufgrund unzutreffender Sachverhaltsannahmen zu Unrecht von einer Verzögerung des vorliegenden Ent-schädigungsverfahrens ausgegangen. Bei Erlass des Urteils vom 1. Juni 2010 sei - entgegen der dortigen Annahme (Rn. 126) - der Prozesskostenhilfeantrag des Klägers nicht mehr und seine Klage schon anhängig gewesen; außerdem habe der Kläger selbst erheblich zur Verzögerung des Verfahrens beigetragen. Dies müsse in die Gesamtabwägung der für eine Geldentschädigung maßgeblichen Umstände eingestellt werden, ebenso die in dem Strafurteil gegen die Zeugen A und B zu deren Gunsten strafmildernd berücksichtigten Umstände. Bei einer Würdigung all dieser Umstände habe der Kläger durch das gegen die beiden Zeugen ergangene Strafurteil ausreichende Wiedergutmachung erfahren. Dies habe das Landgericht verkannt.

Mit Schriftsätzen vom 6. August und vom 24. September 2012 hat das beklagte Land zusätzlich eingewandt, der Kläger sei wegen eines zwischenzeitlich über sein Vermögen eröffneten Verbraucherinsolvenzverfahrens nicht mehr zur Verfügung über die Klageforderung befugt und der Rechtsstreit gemäß § 240 ZPO unterbrochen.

Wegen weiterer Einzelheiten der Berufungsbegründung wird auf die Schriftsätze vom 4. Oktober 2011 und vom 6. August 2012 (Band VII Blatt 1669 ff. und Band VIII Blatt 1897 ff. der Akten) verwiesen.

Das beklagte Land beantragt,

das angegriffene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens das angegriffene Urteil. Dieses sei nicht unter Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO er-gangen. Das Landgericht habe ihm zu Recht nach den vom Bundesgerichtshof ent-wickelten Grundsätzen eine Geldentschädigung zugesprochen; die Neuregelung des § 253 Abs. 2 BGB stehe einer Anwendung dieser Grundsätze nicht entgegen. Der ihm hiernach zustehende Geldentschädigungsanspruch sei weder verjährt noch verwirkt. Auch beruhe das angegriffene Urteil nicht auf einer fehlerhaften Beweiswürdigung.

Das Landgericht habe seiner Entscheidung nur denjenigen Teil seiner - des Klägers - Angaben zugrunde gelegt, der „nach einer übereinstimmenden Aktenlage gleichsam als kleinster gemeinsamer, aber eben auch klarer Nenner“ bereits in dem Strafverfahren gegen die Zeugen A und B erwiesen gewesen sei. Hiernach habe ihm das Landgericht sowohl nach den bindenden Vorgaben des EGMR als auch nach den genannten Rechtsprechungsgrundsätzen eine Geldentschädigung zusprechen müssen. Diese Entschädigung habe symbolische Bedeutung, auch wenn ihre Höhe niedrig sei. Er gebe sich mit ihr zufrieden, damit Ruhe einkehren könne, und bitte insoweit um eine leise endgültige Erledigung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO.

Das im Sommer 2006 über sein Vermögen eröffnete Verbraucherinsolvenzverfahren stelle seine Befugnis zur Verfügung über die streitgegenständliche Forderung nicht in Frage, da diese Forderung nicht pfändbar sei. Außerdem sei das Insolvenzverfahren bereits im Jahr 2008 abgeschlossen worden.

Wegen weiterer Einzelheiten der Berufungserwiderung wird auf die Schriftsätze vom 6. Februar und 14. August 2012 (Band VII Blatt 1746 ff. und Band VIII Blatt 1904 ff. der Akten) Bezug genommen.

Die Akten 5/27 Kls 7570 Js 203814/03 der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main sind beigezogen worden und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

II.

Die Berufung ist nicht begründet. Die angegriffene Entscheidung beruht weder auf einer Rechtsverletzung noch rechtfertigen nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung.

1. Dem Kläger steht wegen der Geschehnisse bei seiner polizeilichen Vernehmung am 1. Oktober 2002 gemäß Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. § 839 Abs. 1 BGB, Art. 34 GG gegen das beklagte Land ein Anspruch auf Geldentschädigung in der vom Landgericht ausgeurteilten Höhe zu. Insoweit kann auf die eingehenden und weitgehend zutreffen-den Ausführungen in dem angegriffenen Urteil verwiesen werden. Die vom beklagten Land hiergegen erhobenen Einwände sind unbegründet (dazu unten a bis i).

Die zu leistende Geldentschädigung soll nach der vom Senat zu beachtenden Wertung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dem Kläger persönlich zugutekommen, da er wegen der Verletzung seiner Konventionsrechte bei der Vernehmung vom 1. Oktober 2002 bislang keine ausreichende Wiedergutmachung erfahren hat.

Sein Anspruch auf Geldentschädigung unterliegt daher gemäß §§ 851 Abs. 1 ZPO, 399 BGB nicht der Pfändung und damit auch nicht einem zwischenzeitlich über sein Vermögen eröffneten Verbraucherinsolvenzverfahren. Damit erweist sich auch der vom beklagten Land im Berufungsverfahren erhobene Einwand, der vorliegende Rechtsstreit sei wegen des Insolvenzverfahrens gemäß § 240 ZPO unterbrochen, als unbegründet (dazu unten j).

a. Das Landgericht hat dem Kläger nicht unter Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO etwas zugesprochen, was dieser nicht beantragt hat.

aa. Der Kläger hat beantragt, das beklagte Land dazu zu verurteilen, einen von ihm als Schmerzensgeld bezeichneten Geldbetrag an ihn zu zahlen. Zur Zahlung eines Geldbetrages wurde das beklagte Land vom Landgericht verurteilt.

bb. Der Urteilsausspruch des Landgerichts beruht auch nicht auf einem anderen Klage-grund als demjenigen, auf den der Kläger seinen Zahlungsantrag gestützt hat (dazu, dass auch der Klagegrund den Streit- und damit den Entscheidungsgegenstand gemäß § 308 Abs. 1 ZPO bestimmt, vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 3. April 2003, BGHZ 154, S. 342 ff. = NJW 2003, 2317 ff., juris Rn. 42 ff.; Urteil vom 29. Juni 2006, BGHZ 168, S. 179 ff., juris Rn. 14 ff., sowie Zöller/Vollkommer, ZPO, 29. Auflage 2012, § 308 Rn. 1 ff.). Klagegrund ist der Lebenssachverhalt, aus dem die klagende Partei den eingeklagten Zahlungsanspruch herleitet (vgl. Bundesgerichtshof, ebenda).

Der Kläger leitet den von ihm geltend gemachten Zahlungsanspruch aus den Geschehnissen bei seiner polizeilichen Vernehmung am 1. Oktober 2002 her. Auf eben diese Geschehnisse hat das Landgericht den ausgeurteilten Zahlungsanspruch gestützt. Soweit das beklagte Land einwendet, der dem Kläger zugesprochene Anspruch auf Geldentschädigung unterscheide sich als Anspruch „sui generis“ von dem eingeklagten Schmerzensgeldanspruch, betrifft dies allein den materiell-rechtlichen, nicht auch den prozessualen Anspruch. Dieser wird - wie vorstehend ausgeführt - durch den zugrunde-liegenden Lebenssachverhalt abgegrenzt, nicht durch eine bestimmte materiell-rechtliche Anspruchsgrundlage: So bilden ein Amtshaftungsanspruch und ein aus demselben Sachverhalt hergeleiteter Entschädigungsanspruch aus enteignungsgleichem Eingriff prozessual einen einheitlichen Streit- und Entscheidungsgegenstand (vgl. Bundes-gerichtshof, Urteil vom 9. Dezember 2004, BGHZ 161, S. 305 ff. = NJW 2005, S. 748 ff., juris Rn. 8; Urteil vom 3. Juli 1997, BGHZ 136, S. 182 ff. = NJW 1997, S. 3432, 3433). Entsprechendes gilt für den vom Kläger auf die Geschehnisse bei seiner polizeilichen Vernehmung am 1. Oktober 2002 gestützten Schmerzensgeldanspruch und den vom Landgericht aus demselben Lebenssachverhalt hergeleiteten Anspruch auf Geldentschädigung: Auch sie bilden einen einheitlichen Streit- und Entscheidungsgegenstand.

cc. Ob sich der Kläger zur Begründung seiner Klageforderung auf die richtige materiell-rechtliche Anspruchsgrundlage berufen und den Anspruch in seinem Klageantrag zutreffend als Schmerzensgeld bezeichnet hat, ist unerheblich. Nach dem im Zivilprozess geltenden Beibringungsgrundsatz (vgl. dazu etwa Zöller/Greger, ZPO, 29. Auf-lage 2012, Vor § 128 Rn. 10) haben die Parteien dem Gericht lediglich die Tatsachen vorzutragen. Die Klärung der Rechtslage obliegt nach dem Grundsatz „iura novit curia“ dem Gericht.

dd. Soweit das beklagte Land auf Fallkonstellationen verweist, in denen ein Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO bejaht wurde - etwa die Zubilligung einer Kapitalabfindung anstelle der beantragten Rente oder die Verurteilung zur Naturalrestitution anstelle einer beantragten Geldzahlung - liegen diese hier ersichtlich nicht vor.

b. Der vom Landgericht angenommene Anspruch des Klägers auf Geldentschädigung ist nicht verjährt.

aa. Ein Anspruch auf Geldentschädigung aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. § 839 Abs. 1 BGB, Art. 34 GG unterliegt der dreijährigen Regelverjährungsfrist des § 195 BGB (vgl. Palandt/Ellenberger, BGB, 71. Auflage 2012, § 195 Rn. 4). Diese beginnt gemäß § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen sowie von der Person des Schuldners Kenntnis erlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen. Der vom Landgericht angenommene Entschädigungsanspruch des Klägers entstand im Jahr 2002, so dass die dreijährige Regelverjährungsfrist frühestens mit dem Schluss dieses Jahres begann und mit Ablauf des 31. Dezember 2005 endete.

bb. Mit Schriftsatz vom 28. Dezember 2005, beim Landgericht eingegangen am 29. Dezember 2005, hat der Kläger Prozesskostenhilfe für die vorliegende Klage beantragt. Hierdurch wurde die Verjährung des geltend gemachten Anspruchs gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB gehemmt. Die Hemmungswirkung trat bereits mit der Veranlassung der Bekanntgabe des Prozesskostenhilfeantrags ein; sie setzte weder eine ordnungsgemäße Begründung noch die vollständige Vorlage der erforderlichen Unterlagen voraus (vgl. Bamberger/Roth/Henrich, BGB, Stand 1. August 2012, § 204 Rn. 45 m. w. N.). Die Hemmungswirkung hätte gemäß § 204 Abs. 2 Satz 1 BGB sechs Monate nach Beendigung des Prozesskostenhilfeverfahrens geendet. Da das Prozesskostenhilfeverfahren - nach Aufhebung des im Beschwerdeverfahren zunächst ergangenen Beschlusses - durch den bewilligenden Beschluss des Landgerichts vom 17. Dezember 2008 (vgl. Band III Blatt 590 der Akten) abgeschlossen wurde, hätte die Hemmungswirkung des § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB sechs Monate nach Zu-stellung dieses Beschlusses an den Klägervertreter (am 19. Januar 2009, vgl. Band III Blatt 599 der Akten; zur Maßgeblichkeit des Zugangs der verfahrensbeendenden Entscheidung vgl. MünchKommBGB/Grothe, 6. Auflage 2012, § 204 Rn. 106 m. w. N.) geendet. Allerdings hat das Landgericht mit Verfügung vom 17. Dezember 2008 (vgl. Band III Blatt 593 der Akten) das schriftliche Vorverfahren angeordnet, nachdem die Klageschrift dem beklagten Land bereits im Prozesskostenhilfeverfahren zugestellt worden war. Hierdurch wurde die Verjährung gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB erneut gehemmt; die Hemmungswirkung der Klageerhebung dauert an, solange der Rechtsstreit nicht rechtskräftig abgeschlossen ist.

cc. Die Verjährungshemmung gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 und 14 BGB erstreckt sich entgegen der Auffassung des beklagten Landes auf den vom Landgericht zugesprochenen Geldentschädigungsanspruch. Denn auch insoweit kommt es auf den Streitgegen-stand der beabsichtigten bzw. erhobenen Klage an (vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 21. Oktober 2008, NJW 2009, S. 56 f. Rn. 15; Staudinger/Peters/Jacoby, BGB, 2009, § 204 Rn. 116 mit Rn. 23 und Rn. 13). Entscheidend ist der prozessuale, nicht der materiell-rechtliche Anspruch (vgl. ebenda): Eine gerichtliche Geltendmachung hemmt die Verjährung aller Ansprüche, die im Rahmen des gestellten Antrags aus dem hierzu unterbreiteten Sachverhalt hergeleitet werden können (vgl. Staudinger/Peters/Jacoby, BGB, 2009, § 204 Rn. 13, 14). Der Kläger hat den von ihm geltend gemachten Zahlungsanspruch schon in seinem Prozesskostenhilfeantrag auf diejenigen Geschehnisse am 1. Oktober 2002 gestützt, aus denen das Landgericht den mit dem angegriffenen Urteil zugesprochenen Zahlungsanspruch des Klägers herleitet. Somit erstreckt sich die Hemmungswirkung des § 204 Abs. 1 Nr. 1 und 14 BGB auch auf diesen Anspruch.

Dies würde im Übrigen selbst dann gelten, wenn der vom Landgericht zugesprochene Geldentschädigungsanspruch einen eigenständigen Streitgegenstand bildete. Denn § 213 BGB erweitert die Hemmungswirkung des § 204 Abs. 1 BGB auf Ansprüche, die aus demselben Grund wahlweise neben dem Anspruch oder an seiner Stelle gegeben sind. Hierfür genügt es, wenn der Anspruchsgrund der beiden Ansprüche nicht vollständig, aber im Kern identisch ist (vgl. Palandt/Ellenberger, BGB, 71. Auflage 2012, § 213 Rn. 2; Bamberger/Roth/Henrich, BGB, Stand 1. August 2012, § 213 Rn. 2).

Im Kern entspricht der Anspruchsgrund des vom Landgericht bejahten Geldentschädigungsanspruchs jedenfalls dem des vom Kläger verlangten Schmerzensgeldes.

c. Der Kläger hat seinen Anspruch auf Geldentschädigung auch nicht verwirkt.

aa. Nach der vom Senat geteilten Auffassung des Bundesgerichtshofs (vgl. Urteil vom 20. Juli 2010, NJW 2011, S. 212 ff. Rn. 20 ff. m. w. N.; siehe auch Palandt/Grüneberg, BGB, 71. Auflage 2012, § 242 Rn. 87) kann ein Anspruch durch illoyale Verzögerung seiner Geltendmachung verwirkt werden. Eine Verwirkung ist dann anzunehmen, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheint (Umstandsmoment). Letzteres ist der Fall, wenn der Verpflichtete bei objektiver Betrachtung aus dem Verhalten des Berechtigten entnehmen durfte, dass dieser sein Recht nicht mehr geltend machen werde, und sich der Verpflichtete im Vertrauen auf das Verhalten des Berechtigten in seinen Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstünde (vgl. Bundesgerichtshof, ebenda).

bb. (1) Insoweit mag dahinstehen, ob ein verwirkungsbegründender Zeitablauf über-haupt in Betracht kommt, solange ein Anspruch noch nicht verjährt ist. Bei Ansprüchen, die - wie der streitgegenständliche Geldentschädigungsanspruch - der kurzen Regelverjährungsfrist unterliegen, könnte eine Verkürzung dieser Frist im Wege der Verwirkung jedenfalls nur unter ganz besonderen Umständen angenommen werden (vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 20. Juli 2010, NJW 2011, S. 212 ff. Rn. 22).

(2) Solche besonderen Umstände liegen hier nicht vor. Zum einen rechtfertigte das vom beklagten Land angeführte Verhalten des Klägers bei objektiver Betrachtung nicht die Annahme, dieser werde einen ihm wegen der Geschehnisse vom 1. Oktober 2002 zustehenden Geldentschädigungsanspruch nicht mehr geltend machen: Die Erklärung des Klägers, er erstrebe mit seiner Beschwerde beim EGMR und in seinem Strafverfahren keine finanzielle Entschädigung, hätte ein objektiver Betrachter nicht so verstanden, dass der Kläger auf eine Geldentschädigung auch außerhalb der genannten Verfahren generell verzichten wolle. Zum anderen ist nicht ersichtlich, inwieweit das beklagte Land im Vertrauen auf einen Entschädigungsverzicht des Klägers Dispositionen getroffen haben könnte, aufgrund derer ihm unzumutbare Nachteile drohten, wenn der Kläger den vom Landgericht ausgeurteilten Entschädigungsanspruch doch noch durchsetzt. Dies erscheint schon angesichts der geringen Höhe des zugesprochenen Betrages kaum möglich.

d. Die von der Rechtsprechung aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG hergeleiteten Grundsätze über die Zubilligung einer Geldentschädigung bei Verletzung des Persönlichkeitsrechts gelten auch nach der Neufassung des § 253 BGB fort.

Nach der vom beklagten Land angeführten Entscheidung des Bundesverfassungs-gerichts (Beschluss vom 14. Februar 1973, BVerfGE 34, S. 269 ff. = NJW 1973, S. 1221, 1226) sind diese Rechtsprechungsgrundsätze (Nachweise hierzu finden sich in dem vorgenannten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts) „legitimer Bestandteil der Rechtsordnung“.

Hieran hat sich durch die Neufassung des § 253 BGB, die am 1. August 2002 in Kraft getreten ist (vgl. Palandt/Grüneberg, BGB, 71. Auflage 2012, § 253 Rn. 1), nichts geändert:

Die Bundesregierung hat in der Begründung ihres Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften (BT-Drucks. 14/7752, S. 24 f.) betont, der Anspruch auf Geldentschädigung wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 1 und 2 GG bestehe unabhängig von der Regelung in §§ 847, 253 BGB und werde daher auch nicht durch eine Änderung dieser Vorschriften tangiert.

Der Bundesrat ist dem in seiner Stellungnahme zu dem vorgenannten Gesetzesentwurf (BT-Drucks. 14/7752, Anlage 2, S. 49 f.) nicht entgegengetreten. Zwar hat er vor-geschlagen, die vom Bundesgerichtshof entwickelten Grundsätze als Rechtsinstitut in einen neu zu fassenden § 847 BGB aufzunehmen, da die Neuregelung andernfalls unvollständig sei. Dass eine Fortgeltung dieser Rechtsprechungsgrundsätze in Frage stehen könnte, wenn sie nicht ins Gesetz aufgenommen würden, wird in der Stellungnahme des Bundesrates aber nicht zum Ausdruck gebracht. Vielmehr wird dort an die Klarstellung der Bundesregierung angeknüpft, dass „der bewährten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs“ durch die von ihr vorgeschlagene Neuregelung der §§ 847, 253 BGB „nicht der Boden entzogen werden soll“ (ebenda, S. 49). Die Bundesregierung hat hierzu erläutert, eine Kodifizierung der genannten Rechtsprechungsgrundsätze müsse „mit einer umfassenden Regelung des zivilrechtlichen Schutzes des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einhergehen“, was im Zusammenhang mit der geplanten Neu-regelung „nicht geleistet werden“ könne (ebenda, S. 25). Ein Wille des Gesetzgebers, den von der Rechtsprechung aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG hergeleiteten Anspruch auf Geldentschädigung wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung zu beseitigen, ist den Gesetzesmaterialien daher keinesfalls zu entnehmen.

Das Fehlen eines den vorgenannten Rechtsprechungsgrundsätzen entgegenstehenden gesetzgeberischen Willens hat das Bundesverfassungsgericht in dem bereits zitierten Beschluss vom 14. Februar 1973 (NJW 1973, S. 1221, 1226; ebenso Beschluss vom 25. Januar 2011, BVerfGE 128, S. 193 ff. = NJW 2011, S. 836 ff., juris Rn. 52 ff.) für maßgeblich gehalten. Nach allem besteht kein Grund, an der Fortgeltung dieser Grundsätze zu zweifeln. Dementsprechend hat sie der Bundesgerichtshof auch nach Inkrafttreten des § 253 BGB n. F. weiterhin angewendet und fortentwickelt (vgl. Urteil vom 4. November 2004, BGHZ 161, S. 33 ff. = NJW 2005, S. 58 ff. zur Geldentschä-digung wegen menschenunwürdiger Unterbringung in einer Justizvollzugsanstalt). Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem im vorliegenden Verfahren ergangenen Be-schluss vom 19. Februar 2008 (Band III Blatt 477 ff. der Akten = NJW 2007, S. 1060 ff.) ebenfalls keine Zweifel an der Fortgeltung der Grundsätze über den Geldentschädigungsanspruch wegen Persönlichkeits- oder Menschenwürdeverletzung geäußert, sondern auf die vom Bundesgerichtshof formulierten Voraussetzungen eines solchen Anspruchs verwiesen (vgl. ebenda, S. 1062). Die Anwendbarkeit dieser Grundsätze steht daher entgegen der Auffassung des beklagten Landes nicht in Frage.

e. Das angegriffene Urteil beruht nicht auf unzutreffenden Tatsachenfeststellungen, insbesondere nicht auf einer fehlerhaften Beweiswürdigung.

Das Landgericht ist nach persönlicher Anhörung des Klägers und Vernehmung der Zeugen B und A aufgrund einer Gesamtwürdigung aller Umstände gemäß § 286 Abs. 1 ZPO zu Recht zu der Überzeugung gelangt, dass der Zeuge B am Morgen des 1. Oktober 2002 aufgrund einer - mit der Be-hördenleitung abgestimmten - Anweisung des Zeugen A dem festgenommenen Kläger bei seiner Vernehmung die Zufügung erheblicher Schmerzen angekündigt hat, falls er den Aufenthaltsort des entführten Jungen weiterhin verschweige. Anhaltspunkte, die im Sinne des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der vom Landgericht insoweit vorgenommenen Beweiswürdigung begründen und eine andere Wertung als richtiger erscheinen lassen könnten, sind weder dem Berufungsvorbringen zu entnehmen noch sonst ersichtlich.

aa. Soweit das beklagte Land einwendet, der Zeuge A habe seiner Aussage nach nicht angeordnet, den Kläger unter Zufügung von Schmerzen erneut zu befragen, sondern dies lediglich beabsichtigt und dem Zeugen B auch nur eine solche Absicht mitgeteilt, ergibt sich bereits aus dem eigenen Tatsachenvortrag des beklagten Landes etwas anderes: Ausweislich der Klageerwiderung vom 24. März 2009 (dort S. 49 ff., Band III Blatt 655 ff.) hatte der Zeuge A am 1. Oktober 2002 gegen 6:35 Uhr dem Polizeiführer D und dessen Vertreter E die in dem Vermerk vom selben Tag (Anlage 1 zur Klageschrift, Band I Blatt 34 f. der Akten) festgehaltene Anweisung erteilt, dem Kläger „nach vorheriger Androhung unter ärztlicher Aufsicht durch Zufügung von Schmerzen (keine Verletzungen) erneut zu befragen“. Diese Anweisung berichtete der Zeuge E bei einer anschließenden Besprechung unter anderem dem Zeugen B (vgl. Seite 53 oben der Klageerwiderung, Band III Blatt 659 der Akten). Hiernach war die vorstehende Anweisung nicht nur beabsichtigt, sondern erteilt worden und dem Zeugen B schon vor seinem Gespräch mit dem Zeugen A aus der vorerwähnten Besprechung bekannt.

bb. Ob das Landgericht den Kläger zur Gewährung rechtlichen Gehörs und unter dem Gesichtspunkt der prozessualen Waffengleichheit gemäß § 141 ZPO anhören musste (vgl. Vorwerk/Wolf/v. Selle, ZPO, Stand 15. Juli 2012, § 141 Rn. 2, m. w. N.), bedarf keiner Klärung, nachdem eine solche Anhörung tatsächlich erfolgt ist. Die Durchführung dieser Anhörung stand gemäß § 141 Abs. 1 ZPO im Ermessen des Landgerichts und war jedenfalls zulässig (vgl. v. Selle, ebenda, sowie Zöller/Greger, ZPO, 29. Auflage 2012, § 141 Rn. 3); ihr Ergebnis war gemäß § 286 Abs. 1 ZPO bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen.

cc. Die vom Landgericht vorgenommene Würdigung der Angaben des Klägers steht nicht in Widerspruch zum unstreitigen Teil des Urteilstatbestandes. Wenn eine Ankündigung „von Schmerzen, die der Kläger noch nie erlebt habe“ durch den Zeugen B dort nicht erwähnt ist, besagt dies - in Zusammenschau mit dem entsprechenden streitigen Klägervortrag - lediglich, dass das beklagte Land einen solchen vom Kläger behaupteten Inhalt der Ankündigung des Zeugen B nicht gestanden hat und der Klägervortrag insoweit gemäß § 288 Abs. 1 ZPO des Beweises bedurfte. Einen entsprechenden Beweis hat der Kläger zur vollen Überzeugung des Landgerichts erbracht.

dd. Entgegen der Auffassung des beklagten Landes hat das Landgericht auch nach-vollziehbar begründet, weshalb es zu dieser Überzeugung gelangt ist (vgl. S. 16 des Urteils, Band VII Blatt 1595 der Akten).

(1) Gemäß § 286 Abs. 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten sei; es hat ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln die nur seinem Gewissen unterworfene Entscheidung zu treffen, ob es mögliche Zweifel über-winden und die persönliche Gewissheit von der Wahrheit einer bestimmten Behauptung erlangen kann. Dies erfordert keine absolute Sicherheit, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 17. Februar 1970, BGHZ 53, S. 245 ff. = NJW 1970, S. 946, 948; Zöller/Greger, ZPO, 29. Auflage 2012, § 286 Rn. 17 ff. m. w. N.).

(2) Das Landgericht hat im Einzelnen erläutert, dass es die vom Kläger geschilderte eindrückliche Formulierung der Schmerzankündigung durch den Zeugen B angesichts der Gesamtumstände der streitgegenständlichen Vernehmung für plausibel hält, und insoweit auf die entsprechende Würdigung der Strafkammer in dem gegen die Zeugen A und B ergangenen Strafurteil vom 20. Dezember 2004 (NJW 2005, S. 692 ff., Umdruck S. 24) verwiesen.

(3) Es hat in den Entscheidungsgründen seines Urteils auch ausgeführt, weshalb es sich hinsichtlich eines Teils der Angaben des Klägers eine volle Überzeugung im Sinne des § 286 Abs. 1 ZPO bilden konnte, im Übrigen aber Zweifel behalten hat. Soweit es dabei mit darauf abgestellt hat, dass die Angaben des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 17. März 2011 (vgl. Band VI Blatt 1359 ff. der Akten), betreffend die von dem Zeugen B bei der Schmerzankündigung verwendeten Formulierungen, mit den Aussagen des Klägers in vorangegangenen Strafverfahren übereinstimmen, liegt hierin kein Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme. Das Landgericht hat im Rahmen der von ihm gemäß § 355 Abs. 1 ZPO durchgeführten Beweisaufnahme den Kläger selbst nach § 141 ZPO angehört und aufgrund seines bei dieser Anhörung im Verhandlungstermin vom 17. März 2011 unmittelbar gewonnenen persönlichen Eindrucks die Glaubhaftigkeit der vom Kläger dabei gemachten Angaben beurteilt; es hat also keineswegs die Anhörung des Klägers durch eine urkundsbeweisliche Verwertung von Niederschriften früherer Aussagen ersetzt. Vielmehr hat es bei der Würdigung der Glaubhaftigkeit der Angaben, die der Kläger bei seiner persönlichen Anhörung im vorliegenden Rechtsstreit gemacht hat, als weitere unstreitige Umstände dessen Aussagen in vorangegangenen Strafverfahren, von denen die Parteien Protokollablichtungen zu den Akten gereicht haben (vgl. Anlagen B 11 und B 12 zur Klageerwiderung, in gesondertem Hefter), mit berücksichtigt. Die Einbeziehung dieses unstreitigen Parteivortrags in die Beweiswürdigung war nicht unzulässig, sondern gemäß § 286 Abs. 1 ZPO geboten.

Die insoweit vom Landgericht gewonnene Einschätzung, die Angaben des Klägers über den Wortlaut der Schmerzankündigung des Zeugen B seien konstant gewesen, ist zutreffend. Dass der Kläger den zeitlichen Ablauf der Äußerungen des Zeugen B bei der Vernehmung vom 1. Oktober 2002 unterschiedlich geschildert hat, steht dem nicht entgegen. Der Kern seiner Aussage, dass der Zeuge B ihm „Schmerzen, wie er sie noch nie erlebt habe“ und „die man später nicht feststellen könne“ in Aussicht gestellt hat, ist in den genannten Aussagen gleich geblieben. Dies ist entscheidend.

(4) Den Angaben des Klägers ist entgegen der Ansicht des beklagten Landes auch nicht deshalb von vornherein jeglicher Beweiswert abzusprechen, weil er in dem gegen ihn geführten Strafverfahren vielfach die Unwahrheit gesagt hatte.

(a) Die vom beklagten Land insoweit angeführten Aussagen des Klägers zielten ersichtlich darauf, eine Beteiligung an der ihm vorgeworfenen Entführung zu leugnen oder - bei privaten Äußerungen des Klägers in seinem Bekanntenkreis - von sich das Bild eines aussichtsreichen Jungjuristen zu zeichnen. Von beidem hat der Kläger inzwischen Abstand genommen: Die Entführung und Ermordung des F hat er in umfangreichen Geständnissen eingeräumt. Das gegen ihn ergangene Strafurteil, das eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsieht, beruht maßgeblich auf diesen Geständnissen (vgl. S. 35 des gegen den Kläger ergangenen Strafurteils vom 28. Juli 2003, Band II Blatt 347 der Akten). Der Kläger leugnet heute weder seine Tat noch versucht er, ein Erfolgsbild von sich zu zeichnen.

(b) Bei seiner Anhörung im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 17. März 2011 hat der Kläger teilweise, etwa hinsichtlich der mit der Klage geltend gemachten Fesselung während der streitgegenständlichen Vernehmung, eingeräumt, er habe keine klare Erinnerung mehr (vgl. S. 4 der Sitzungsniederschrift, Band VI Blatt 1362 der Akten). Dieses selbstkritische Aussageverhalten des Klägers spricht eher für die Glaubhaftigkeit seiner Angaben.

(c) Der psychiatrische Sachverständige Prof. Dr. C hat bei der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens im Verhandlungstermin vom 17. März 2011 - in anderem Zusammenhang - ausgeführt, die Angaben des Klägers im vorliegenden Rechtsstreit seien nicht von einer Begehrenshaltung getragen (vgl. S. 19 der Sitzungsniederschrift, Band VI Blatt 1377 der Akten). Auch insoweit besteht kein Anlass, dessen Bekundungen für unglaubhaft zu halten.

(d) Hiernach schließt es auch die von dem Sachverständigen Prof. Dr. C beschriebene Persönlichkeitsstruktur des Klägers bei der gebotenen Gesamtwürdigung nicht aus, dessen Angaben über die eindringliche Schmerzankündigung des Zeugen B einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 286 Abs. 1 ZPO zugrunde zu legen. Denn zum einen entsprach diese Ankündigung inhaltlich der von dem Zeugen A am Morgen des 1. Oktober 2002 erteilten, in seinem Vermerk vom selben Tag wiedergegebenen Anweisung. Zum anderen erscheint die vom Kläger geschilderte eindringliche Schmerzankündigung durch den Zeugen B völlig plausibel vor dem Hintergrund des unstreitigen Tatsachenvortrags des beklagten Landes, wonach der Zeuge A angesichts der von ihm angenommenen höchsten Lebensgefahr des entführten Kindes eine wirkungsvolle Umsetzung seiner Anordnung gefordert hatte; demgegenüber ist die Darstellung des Zeugen B, er habe die Schmerzzufügung lediglich als vage und entfernte Möglichkeit in den Raum gestellt und den Kläger letztlich durch Gewissensappelle zur Preisgabe des Leichenfundorts bewegt, nicht glaubhaft.

(e) Soweit das beklagte Land einwendet, der Zeuge B habe dem Kläger gegen-über nicht zum Ausdruck gebracht, selbst Einfluss auf die Durchführung der angekündigten Schmerzzufügung zu haben, ergibt sich aus den Bekundungen des Zeugen B etwas anderes: Ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 17. März 2011 (dort S. 10, Band VI Blatt 1368 der Akten) hat er dem Kläger gesagt: „Pass auf, es ist angeordnet worden, dass jemand kommt, der dir Schmerzen zufügen kann. Er wird mit einem Hubschrauber eingeflogen. ... die Besorgung eines Wahrheitsserums (ist) veranlasst ... Ich sagte ihm eindringlich, wir (Hervorhebung nur hier) müssen wissen, wo der Junge ist. ...“ Mit der Formulierung „wir“ hat der Zeuge B deutlich gemacht, dass er sich mit seiner Behörde identifiziere, die ihrerseits Einfluss auf die Verwirklichung der angekündigten Schmerzzufügung habe. Damit trat er dem Kläger gegenüber als Teil der Behörde auf, die nach seiner Darstellung schon die Umsetzung der Ankündigung vorbereitete, und stellte die Einwirkungsmöglichkeit der Behörde („wir“) zugleich als seine eigene dar (so im Ergebnis auch das gegen die Zeugen A und B ergangene Strafurteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 20. Dezember 2004, S. 29 des Umdrucks).

(f) Soweit der Zeuge B ausgesagt hat, seiner Einschätzung nach hätten insistierende Gewissensappelle den Kläger zur Aufgabe seines Schweigens gebracht, ist dies zwar unter psychologischen Gesichtspunkten verständlich, objektiv aber nicht plausibel. Denn eindringliche Gewissensappelle hatten den Kläger bei seinen vorangegangenen Vernehmungen nicht erreicht, auch nicht der Versuch, vertrauensvoll mit ihm zu sprechen oder ihm seine ungünstige Lage durch Vorhalt erdrückender Beweise zu verdeutlichen; selbst eine Konfrontation mit seiner Mutter hatte den Kläger nicht zu wahrheitsgemäßen Angaben veranlasst. Daher kann der Grund für die plötzliche Änderung seines Aussageverhaltens nur die von dem Zeugen A angeordnete und von dem Zeugen B überbrachte Schmerzankündigung gewesen sein (ebenso das vorgenannte Strafurteil vom 20. Dezember 2004, S. 30 des Um-drucks; vgl. auch S. 14 der Anklageschrift vom 11. Februar 2004, Anlage 6 b, Band I Blatt 199 der Akten, sowie S. 34 des Urteils des EGMR vom 1. Juni 2010, Umdruck Anlage B 14, Band IV Blatt 956 der Akten: „... stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer, der sich zuvor geweigert hatte, Fs Aufenthaltsort preiszugeben, unter Drohung gestand, wo er die Leiche versteckt hatte ...“).

f. aa. Die vom Landgericht festgestellte eindringliche Schmerzankündigung verstieß gegen § 136 a Abs. 1 Satz 3 StPO, wonach die Freiheit der Willensentschließung und -betätigung eines Beschuldigten nicht durch die Drohung mit einer Misshandlung beeinträchtigt werden darf, sowie gegen Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG, der die seelische oder körperliche Misshandlung einer festgehaltenen Person verbietet. Hierdurch haben die Zeugen A und B die Menschenwürde des Klägers (Art. 1 Abs. 1 GG) verletzt. Denn eine Vernehmung unter Anwendung der nach Art. 104 Abs. 1 GG verbotenen Methoden, insbesondere eine Folterandrohung, macht die Vernehmungsperson zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung; sie verletzt deren verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruch und zerstört grundlegende Voraussetzungen der individuellen und sozialen Existenz des Menschen (vgl. Bundes-verfassungsgericht, Beschluss vom 14. Dezember 2004, NJW 2005, S. 656, 657 zur Verfassungsbeschwerde des Klägers gegen seine strafrechtliche Verurteilung, siehe auch S. 11 des Abschlussvermerks der Staatsanwaltschaft in dem gegen die Zeugen A und B geführten Strafverfahren 5/27 Kls 7570 Js 203814/03, Anlage 3 der Berufungsbegründung, Band VII Blatt 1821 der Akten: „Der Beschuldigte ... wurde als bloßes Objekt behandelt, als Träger von Wissen, welches man aus ihm unter Verletzung seiner Selbstbestimmung herauspressen wollte ... als ´Registrier-maschine´ seiner Wahrnehmung“).

bb. Nach dem Urteil des EGMR vom 1. Juni 2010 (S. 28 ff. des Umdrucks, Anlage B 14, Band IV Blatt 950 ff. der Akten, juris) verstieß die Schmerzankündigung durch die Zeugen A und B zudem gegen Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden darf.

(1) Der EGMR hat in dem genannten Urteil (S. 28 ff., 35 des Umdrucks, juris Rn. 87 ff., 108) ausgeführt, die beim Kläger angewendete Vernehmungsmethode habe unter Berücksichtigung der Umstände des Falles zwar „nicht das Maß an Grausamkeit“ gehabt, „um die Schwelle zur Folter zu erreichen“, sie sei aber eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK gewesen (siehe auch Seite 45 des Umdrucks, juris Rn. 131, wonach dem Kläger „mit Folter gedroht“ wurde). Im Einzelnen heißt es hierzu in dem Urteil (vgl. juris Rn. 87 ff.):

„Würdigung durch den Gerichtshof

(i) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze

87. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass in Artikel 3 der Konvention einer der wichtigsten Grundwerte der demokratischen Gesellschaften verankert ist. Im Unterschied zu den meisten materiellrechtlichen Bestimmungen der Konvention sieht Artikel 3 keine Ausnahmen vor und nach Artikel 15 Absatz 2 darf nicht einmal im Fall eines öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht, von ihm abgewichen werden .... Der Gerichtshof hat bestätigt, dass die Konvention selbst unter den schwierigsten Umständen, z.B. bei der Bekämpfung des Terrorismus und des organisierten Verbrechens, ein absolutes Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vorsieht, das unabhängig vom Verhalten des Betroffenen gilt ... Die Art der angeblich vom Beschwerdeführer begangenen Straftat ist daher für die Zwecke des Artikels 3 nicht erheblich ...

88. Eine Misshandlung muss ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Artikels 3 zu fallen. Die Beurteilung dieses Mindestmaßes hängt von den gesamten Umständen des Falls ab, z.B. von der Dauer der Behandlung, ihren körperlichen oder seelischen Folgen und zuweilen dem Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers ... Weitere Faktoren sind u.a. der Zweck, zu dem die Behandlung erfolgte, die dahinterstehende Absicht oder die Beweggründe dafür ... sowie der Kontext, in dem sie erfolgte, z. B. in einer sehr angespannten und emotional aufgeladenen Atmosphäre ...

89. Der Gerichtshof hat eine Behandlung u.a. deshalb für „unmenschlich“ befunden, weil sie vorsätzlich erfolgte, über Stunden ohne Unterbrechung angewendet wurde und entweder eine tatsächliche Körperverletzung oder starkes körperliches und seelisches Leiden verursachte ... Eine Behandlung wurde dann als „erniedrigend“ erachtet, wenn sie bei den Opfern Gefühle der Angst, Qual und Unterlegenheit hervorrief, die geeignet waren, sie zu demütigen und zu entwürdigen und möglicherweise ihren körperlichen oder moralischen Widerstand zu brechen, oder wenn das Opfer dazu gebracht wurde, gegen seinen Willen oder sein Gewissen zu handeln ...

90. Bei der Entscheidung darüber, ob eine bestimmte Form der Misshandlung als Folter einzustufen ist, muss die in Artikel 3 verankerte Unterscheidung zwischen dem Begriff der Folter und dem der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung berücksichtigt werden. Wie bereits in früheren Fällen festgestellt worden ist, war es offenbar das Ziel, dass die Konvention durch diese Unterscheidung absichtliche unmenschliche Behandlung, die sehr schweres und grausames Leiden verursacht, mit einem besonderen Stigma belegen sollte .... Abgesehen von der Schwere der Behandlung beinhaltet Folter auch ein Element der Absicht, wie in dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe anerkannt ist; in dessen Artikel 1 ist Folter definiert als vorsätzliches Zufügen von großen Schmerzen oder Leiden u.a. mit dem Ziel, Informationen zu erlangen, Personen zu bestrafen oder einzuschüchtern ...

91. Der Gerichtshof weist ferner erneut darauf hin, dass auch die Androhung einer nach Artikel 3 verbotenen Handlung, sofern sie hinreichend real und unmittelbar ist, im Widerspruch zu dieser Bestimmung stehen kann. Folglich kann die Androhung von Folter gegenüber einer Person zumindest eine unmenschliche Behandlung darstellen ....

92. Bei der Würdigung der Beweismittel, anhand derer über das Vorliegen eines Verstoßes gegen Artikel 3 zu entscheiden ist, wendet der Gerichtshof den Beweismaßstab „über jeden vernünftigen Zweifel hinaus“ an. Ein solcher Nachweis kann jedoch auch aus dem gleich-zeitigen Vorliegen hinreichend gewichtiger, eindeutiger und konkordanter Schlussfolgerungen oder ähnlicher unwiderlegter Tatsachenvermutungen folgen ... Der Gerichtshof hat insbesondere festgestellt, dass in Fällen, in denen eine Person in gesundem Zustand in polizeilichen Gewahrsam genommen wird, bei der Entlassung jedoch Verletzungen an ihr festgestellt werden, der Staat eine plausible Erklärung dafür liefern muss, wie es zu diesen Verletzungen gekommen ist, und dass, falls dies unterbleibt, eindeutig eine Frage nach Artikel 3 der Konvention aufgeworfen wird ...

93. Vorbringen nach Artikel 3 der Konvention muss der Gerichtshof besonders gründlich prüfen ... Hat jedoch ein innerstaatliches Verfahren stattgefunden, so ist es nicht Aufgabe des Gerichtshofs, anstelle der innerstaatlichen Gerichte den Sachverhalt zu würdigen, und es obliegt in der Regel diesen Gerichten, die ihnen vorliegenden Beweise zu würdigen ... Der Gerichtshof ist zwar nicht an die Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte gebunden, dennoch müssen normalerweise nachvollziehbare Faktoren vorliegen, um ihn zu einer Abweichung von den Tatsachenfeststellungen dieser Gerichte zu veranlassen.

(ii) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache

(?) Würdigung des Sachverhalts durch den Gerichtshof

94. Bei der Prüfung der Behandlung des Beschwerdeführers am 1. Oktober 2002 stellt der Gerichtshof fest, dass zwischen den Parteien unstrittig ist, dass dem Beschwerdeführer bei seiner Vernehmung an jenem Morgen von dem Kriminalbeamten B. auf Anweisung des ... der Polizei O1, A., für den Fall, dass er sich weigere, den Aufenthaltsort von F. preiszugeben, unerträgliche Schmerzen angedroht wurden.

Die Maßnahmen, die keine Spuren hinterlassen würden, sollten von einem speziell für diesen Zweck ausgebildeten Polizeibeamten durchgeführt werden, der sich bereits in einem Hubschrauber auf dem Weg zur Polizeiwache befinde. Sie sollten unter ärztlicher Aufsicht erfolgen. Dies wurde auch vom Landgericht Frankfurt am Main festgestellt, und zwar sowohl im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer (siehe Rdnr. 26), als auch im Strafverfahren gegen die Polizeibeamten (siehe Rdnr. 47). Zudem ergibt sich aus dem für die Polizeiakte bestimmten Vermerk von A. (siehe Rdnr. 20) und aus den Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte in dem gegen ihn geführten Strafverfahren (siehe Rdnr. 47), dass er beabsichtigte, diese Drohung nötigenfalls mithilfe eines „Wahrheitsserums“ in die Tat umzusetzen, und dass der Beschwerdeführer darauf hingewiesen worden war, dass die Durchführung der angedrohten Maßnahmen unmittelbar bevorstehe.

95. Da A. die ihm unterstehenden Abschnittsleiter mehrfach angewiesen hatte, nötigenfalls Gewalt gegen den Beschwerdeführer anzuwenden, bevor er schließlich B. anwies, dem Beschwerdeführer mit Folter zu drohen (siehe Rdnr. 47), kann seine Anweisung nicht als spontane Handlung angesehen werden und es lag eindeutig ein Element der Absicht vor. Ferner war der Beschwerdeführer während seines Gewahrsams im Vernehmungszimmer anscheinend mit Handschellen gefesselt (siehe Rdnr. 57) und befand sich daher in einer Situation, die durch eine besondere Verletzlichkeit und durch besonderen Zwang gekennzeichnet war. Der Gerichtshof ist im Hinblick auf die Erkenntnisse der inner-staatlichen Gerichte und der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen überzeugt, dass die Polizeibeamten in dem Glauben auf die fraglichen Vernehmungsmethode zurückgegriffen haben, dass F.s Leben gerettet werden könnte.

...

98. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen kann der Gerichtshof nicht zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die Behauptungen des Beschwerdeführers bezüglich körperlicher Übergriffe und Körperverletzungen sowie die angebliche Androhung sexuellen Missbrauchs während der Vernehmung über jeden vernünftigen Zweifel hinaus nachgewiesen worden sind.

99. Der Gerichtshof nimmt ferner das Vorbringen des Beschwerdeführers zur Kenntnis, wonach er danach erneut einer nach Artikel 3 verbotenen Behandlung unterworfen worden sei, indem er gezwungen worden sei, barfuß durch einen Wald in O2 zu gehen, und unmittelbar gezwungen worden sei, die genaue Stelle zu zeigen, an der sich die Leiche befand, sowie weitere Beweismittel vorzuzeigen. ... Unter diesen Umständen sieht der Gerichtshof die entsprechenden Behauptungen des Beschwerdeführers nicht als über jeden vernünftigen Zweifel hinaus bewiesen an.

100. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen sieht es der Gerichtshof als erwiesen an, dass dem Beschwerdeführer am Morgen des 1. Oktober 2002 von der Polizei angedroht wurde, ihm würden auf die in den Rdnrn. 94 und 95 beschriebene Weise unerträgliche Schmerzen zugefügt, um ihn zur Preisgabe von F.s Aufenthaltsort zu veranlassen.

(?) Rechtliche Einordnung der Behandlung

101. Der Gerichtshof nimmt das Anerkenntnis der Regierung zur Kenntnis, dass die Behandlung, welcher der Beschwerdeführer durch B. unterworfen wurde, gegen Artikel 3 der Konvention verstieß. Allerdings hält es der Gerichtshof im Hinblick auf die vom Beschwerdeführer erhobenen schweren Foltervorwürfe und die Behauptung der Regierung, dass seine Opfereigenschaft entfallen sei, für erforderlich, selbst zu beurteilen, ob diese Behandlung das Mindestmaß an Schwere erreicht hat, um in den Anwendungsbereich des Artikels 3 zu fallen, und wie sie bejahendenfalls einzuordnen ist. Unter Berücksichtigung der aus seiner Rechtsprechung hervorgehenden maßgeblichen Faktoren (siehe Rdnrn. 88-91) prüft der Gerichtshof der Reihe nach, wie lange der Beschwerdeführer der fraglichen Behandlung unterworfen wurde, welche körperlichen und seelischen Folgen sie für ihn hatte, ob sie absichtlich erfolgte, welchen Zweck sie hatte und in welchem Kontext sie erfolgte.

102. Hinsichtlich der Dauer der beanstandeten Handlungen stellt der Gerichtshof fest, dass die Vernehmung unter Androhung von Misshandlung etwa zehn Minuten dauerte.

103. Was die körperlichen und seelischen Folgen anbelangt, stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer, der sich zuvor geweigert hatte, F.s Aufenthaltsort preiszugeben, unter Drohung gestand, wo er die Leiche versteckt hatte. Anschließend machte er während des gesamten Ermittlungsverfahrens detaillierte Angaben zu F.s. Tod. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist deshalb davon auszugehen, dass die realen und direkten Drohungen mit vorsätzlicher und unmittelbar bevorstehender Misshandlung, denen der Beschwerdeführer während seiner Vernehmung ausgesetzt war, ihm erhebliche Angst, Qual und seelisches Leiden verursachten. Der Beschwerdeführer hat jedoch keine ärztlichen Atteste vorgelegt, um etwaige, von ihm hierdurch erlittene psychische Langzeitfolgen nachzuweisen.

104. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Drohung keine spontane Handlung war, sondern vorsätzlich und absichtlich geplant und kalkuliert war.

105. Was den Zweck der Drohungen anbelangt, ist der Gerichtshof überzeugt, dass der Beschwerdeführer dieser Behandlung absichtlich unterworfen wurde, um Informationen zu F.s Verbleib zu erlangen.

106. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Drohungen mit vorsätzlicher und unmittelbar bevorstehender Misshandlung in einem Kontext erfolgten, in dem sich der Beschwerdeführer – der offenbar mit Handschellen gefesselt war – im Gewahrsam von Polizeibeamten und damit in einer verletzlichen Lage befand. Klar ist, dass A. und B. in Ausübung ihrer Pflichten als Amtsträger handelten und dass sie beabsichtigten, die angedrohten Maßnahmen erforderlichenfalls von einem speziell ausgebildeten Beamten unter ärztlicher Aufsicht durchführen zu lassen. Zudem handelte es sich bei A.s Anweisung, dem Beschwerdeführer zu drohen, nicht um eine spontane Entscheidung, denn er hatte bereits zuvor mehrfach eine derartige Anweisung gegeben und war zunehmend ungeduldig geworden, als die ihm unterstellten Bediensteten seine Weisungen nicht befolgten. Die Drohung erfolgte in einer sehr angespannten und emotional aufgeladenen Atmosphäre unter Umständen, in denen die Polizeibeamten unter starkem Druck standen, da sie glaubten, F.s Leben sei in großer Gefahr.

107. In diesem Zusammenhang akzeptiert der Gerichtshof die Beweggründe für das Verhalten der Polizeibeamten und erkennt an, dass sie in dem Versuch handelten, das Leben eines Kindes zu retten. Es muss jedoch unterstrichen werden, dass im Hinblick auf den Inhalt von Artikel 3 und die langjährige Spruchpraxis des Gerichtshofs (siehe Rdnr. 87) das Verbot der Misshandlung einer Person unabhängig vom Verhalten des Opfers bzw. den Beweggründen der Behörden gilt. Folter bzw. unmenschliche oder erniedrigende Behandlung kann auch dann nicht angewendet werden, wenn das Leben einer Person in Gefahr ist. Davon darf nicht einmal im Fall eines öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht, abgewichen werden. Artikel 3, dessen Wortlaut eindeutig gefasst ist, erkennt an, dass jeder Mensch ein absolutes und unveräußerliches Recht hat, unter keinen Umständen, auch nicht den schwierigsten, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen zu werden. Die philosophische Grundlage, die den absoluten Charakter des in Artikel 3 verankerten Rechts untermauert, gestattet keine Ausnahmen, Rechtfertigungen oder Interessenabwägungen, und zwar ungeachtet des Verhaltens der betreffenden Person und der Art der in Rede stehenden Straftat.

108. Im Hinblick auf die maßgeblichen Faktoren zur Charakterisierung der Behandlung, welcher der Beschwerdeführer unterworfen wurde, ist der Gerichtshof überzeugt, dass die realen und unmittelbaren Drohungen, die gegen ihn gerichtet wurden, um Informationen von ihm zu erlangen, das Mindestmaß an Schwere erreichten, um festzustellen, dass die beanstandeten Handlungen in den Anwendungsbereich des Artikels 3 fallen. Er weist erneut darauf hin, dass nach seiner eigenen Rechtsprechung (siehe Rdnr. 91), in der auch auf die Definition von Folter in Artikel 1 des Anti-Folter-Übereinkommens der Vereinten Nationen Bezug genommen wird (siehe Rdnrn. 90 und 64), und nach den Auffassungen anderer internationaler Menschenrechts-Überwachungsorgane (siehe Rdnrn. 66-68), auf die auch der Redress Trust Bezug genommen hat, auch eine Folterandrohung Folter darstellen kann, da das Wesen der Folter sowohl körperliche Schmerzen als auch seelisches Leiden umfasst. Insbesondere die Angst vor körperlicher Folter kann an sich seelische Folter darstellen. Es scheint jedoch breite Übereinstimmung darin zu bestehen – und der Gerichtshof ist ebenfalls dieser Auffassung –, dass die Frage, ob in einem konkreten Fall eine Drohung mit körperlicher Folter entweder als psychische Folter oder als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung einzustufen ist, von den Gesamtumständen des jeweiligen Falls abhängt, insbesondere davon, wie stark der ausgeübte Druck und wie groß das verursachte seelische Leiden war. Wird der Fall des Beschwerdeführers den Fällen gegenübergestellt, in denen der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung das Vorliegen von Folter festgestellt hat, so gelangt er zu der Auffassung, dass die beim Beschwerdeführer angewandte Vernehmungsmethode unter den Umständen seines Falls zwar schwerwiegend genug war, um eine nach Artikel 3 verbotene unmenschliche Behandlung darzustellen, sie aber nicht das Maß an Grausamkeit hatte, um die Schwelle zur Folter zu erreichen.“

(2) Entgegen der Auffassung des beklagten Landes beruht dieses Urteil des EGMR nicht auf unzutreffenden Sachverhaltsannahmen.

(a) Die vom EGMR unter Rn. 100 getroffene Feststellung, dem Kläger sei am Morgen des 1. Oktober 2002 von der Polizei angedroht worden, ihm würden durch einen spe-ziell ausgebildeten Polizeibeamten, der bereits in einem Hubschrauber unterwegs sei, unter ärztlicher Aufsicht auf nicht nachweisbare Art unerträgliche Schmerzen zugefügt, falls er den Aufenthaltsort des entführten Kindes weiterhin verschweige, entspricht dem Ergebnis der im vorliegenden Rechtsstreit durchgeführten Beweisaufnahme.

(b) Die rechtliche Einschätzung des EGMR, diese Schmerzandrohung sei unmenschlich im Sinne des Art. 3 EMRK gewesen, beruht nicht auf der Annahme einer - im vorliegenden Rechtsstreit nicht festgestellten - Fesselung des Klägers:

Der EGMR hat unter Rn. 92 des Urteils ausgeführt, er nehme einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK nur auf der Grundlage von Tatsachen an, die „über jeden vernünftigen Zweifel hinaus“ bewiesen sind. Unter Rn. 100 stellt der EGMR fest, nach diesem Beweismaßstab sei erwiesen, dass dem Kläger „angedroht wurde, ihm würden auf die in den Rdnrn. 94 und 95 beschriebene Weise unerträgliche Schmerzen zugefügt, um ihn zur Preisgabe von F.s Aufenthaltsort zu veranlassen“. Soweit der EGMR (unter Rn. 95 und 106 des Urteils) die vom Kläger behauptete Fesselung mit Handschellen erwähnt, verdeutlichen die gewählten Formulierungen „anscheinend“ und „offenbar“, dass er insoweit nicht von einer nach dem vorerwähnten Beweismaßstab erwiesenen Tatsache ausgeht.

Unter Rn. 106 des Urteils vom 1. Juni 2010 stellt der EGMR fest, „dass die Drohungen mit vorsätzlicher und unmittelbar bevorstehender Misshandlung in einem Kontext erfolgten, in dem sich der Beschwerdeführer - der offenbar mit Handschellen gefesselt war - im Gewahrsam von Polizeibeamten und damit in einer verletzlichen Lage befand“. Hiernach hat der EGMR als maßgeblichen Umstand für die rechtliche Bewertung der streitgegenständlichen Schmerzandrohung berücksichtigt, dass sich der Kläger in polizeilichem Gewahrsam und damit in einer verletzlichen Lage befand.

Dies entspricht dem - auch mit Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG verfolgten - Ziel des Art. 3 EMRK, den Schutz insbesondere festgenommener Personen vor Misshandlungen zu verbessern (vgl. etwa Graf/Valerius, StPO, Stand 1. Mai 2012, Art. 3 EMRK Rn. 1). Dass es dem EGMR maßgeblich darauf ankam, dass sich der Kläger in Gewahrsam befand, folgt bereits aus der Formulierung des zitierten Satzes, der die vom Kläger geltend gemachte Fesselung nur in Parenthese und mit dem einschränkenden Zusatz „offenbar“ erwähnt.

Nach den vom EGMR unter Rn. 87 ff. seines Urteils wiedergegebenen Obersätzen spricht es für die Bewertung einer Behandlung als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne des Art. 3 EMRK, wenn sie vorsätzlich erfolgte und den Betroffenen dazu gebracht hat, gegen seinen Willen zu handeln. Beides war hier der Fall: Der EGMR hat (unter Rn. 102 ff. des Urteils) bei seiner Bewertung berücksichtigt, dass die streitgegenständliche Schmerzandrohung keine spontane Handlung war, sondern „vorsätzlich und absichtlich geplant und kalkuliert“, dass sie den Kläger, der zuvor Angaben zum Aufenthaltsort des entführten Kindes verweigerte, zur Aufgabe seines Schweigens gebracht habe, und ihm dies in einem besonderen Kontext widerfuhr, nämlich in polizeilichem Gewahrsam. Diese Umstände hielt der EGMR auch unter Berücksichtigung der nur etwa zehnminütigen Dauer der Vernehmung und der achtenswerten Beweggründe der handelnden Polizeibeamten für so schwerwiegend, dass er die Behandlung des Klägers als unmenschlich im Sinne des Art. 3 EMRK bewertete. Hiernach kann nicht angenommen werden, dass der EGMR die streitgegenständliche Schmerzandrohung bei fehlender Fesselung des Klägers nicht als unmenschliche Behandlung angesehen hätte. Eine - vom EGMR gar nicht festgestellte - Fesselung war für die Beurteilung nicht maßgeblich.

cc. (1) Das Verhalten der Zeugen A und B erfüllte den objektiven Tat-bestand einer Aussageerpressung im Sinne des § 343 Abs. 1 StGB. Nach der vom Senat geteilten Auffassung der Strafkammer des Landgerichts fehlte es jedoch am subjektiven Tatbestand dieser Strafnorm, weil die beiden Zeugen nicht zum Zwecke der Aussagegewinnung in dem gegen den Kläger geführten Ermittlungsverfahren handelten, sondern ausschließlich zur Rettung des entführten Kindes (vgl. S. 41 des Umdrucks des Strafurteils vom 20. Dezember 2004 sowie S. 4 ff. des Abschlussvermerks der Staatsanwaltschaft in dem Strafverfahren 5/27 Kls 7570 Js 203814/03, Anlage 3 der Berufungsbegründung, Band VII Blatt 1814 ff. der Akten).

(2) Der Zeuge B hat sich durch die streitgegenständliche Schmerzandrohung einer Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 StGB schuldig gemacht, der Zeuge A - durch Erteilung der entsprechenden Anweisung - der Verleitung eines Untergebenen zu einer Nötigung im Amt im Sinne des § 357 Abs. 1 StGB.

(3) Die beiden Zeugen handelten insoweit vorsätzlich (vgl. S. 30 des Umdrucks des Strafurteils vom 20. Dezember 2004 sowie S. 8, 19 des Abschlussvermerks der Staats-anwaltschaft in dem Strafverfahren 5/27 Kls 7570 Js 203814/03, Anlage 3 der Berufungsbegründung, Band VII Blatt 1818, 1829 der Akten).

(4) Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe standen ihnen insoweit nicht zur Seite; insbesondere fehlte es an einer polizeirechtlichen Ermächtigungsgrundlage für die Schmerzandrohung.

(a) Soweit der Zeuge A seine Anordnung durch die im Hessischen Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) vorgesehene Regelung über den unmittelbaren Zwang (§ 52 HSOG) gedeckt sah, heißt es in Absatz 2 der betreffenden Vorschrift ausdrücklich:

„Unmittelbarer Zwang zur Abgabe einer Erklärung ist ausgeschlossen“.

Außerdem stellt § 12 Abs. 4 HSOG klar, dass die Polizeibehörden bei der Befragung von Personen § 136 a StPO zu beachten, d. h. strafprozessual verbotene Verneh-mungsmethoden zu unterlassen haben. Die Gesetzeslage ist eindeutig (vgl. S. 38 des gegen die Zeugen A und B ergangenen Strafurteils).

(b) Eine Rechtfertigung der Schmerzandrohung gemäß §§ 32, 34 StGB oder nach den Grundsätzen des übergesetzlichen Notstandes scheidet schon deshalb aus, weil eine gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstoßende Behandlung kein angemessenes Mittel im Sinne der genannten Vorschriften und Grundsätze sein kann (vgl. im Einzelnen S. 30 ff. des vorgenannten Strafurteils sowie S. 9 ff. des Abschlussvermerks der Staatsanwaltschaft in dem Strafverfahren 5/27 Kls 7570 Js 203814/03, Anlage 3 der Berufungsbegründung, Band VII Blatt 1819 ff. der Akten).

(c) Die Zeugen A und B befanden sich auch nicht in einem ihr Handeln gemäß § 17 StGB entschuldigenden Verbotsirrtum, da sie mit der Möglichkeit rechneten, Unrecht zu tun, und dies billigend in Kauf nahmen (vgl. S. 39 des gegen die beiden Zeugen ergangenen Strafurteils). Wollte man abweichend hiervon annehmen, die beiden Zeugen hätten ihr Handeln irrtümlich für gerechtfertigt gehalten - wie vom beklagten Land erstinstanzlich geltend gemacht -, wäre dieser Irrtum jedenfalls bei gehöriger Gewissensanspannung vermeidbar gewesen (vgl. S. 16 f. des Abschlussvermerks der Staatsanwaltschaft in dem Strafverfahren 5/27 7570 Js 203814/03, Anlage 3 der Berufungsbegründung, Band VII Blatt 1826 f. der Akten).

g. Durch die Verstöße gegen Art. 1 Abs. 1, 104 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 3 EMRK, § 136 a StPO und § 240 Abs. 1 bzw. § 357 Abs. 1 StGB haben die Zeugen A und B ihre Amtspflichten im Sinne des § 839 Abs. 1 BGB verletzt.

h. Diese Amtspflichtverletzung erfolgte nicht nur - wie scheinbar vom Landgericht angenommen (vgl. S. 18 oben des Urteils) - fahrlässig, sondern vorsätzlich im Sinne des § 276 Abs. 1 BGB:

aa. Zwar setzt Vorsatz im Sinne dieser Vorschrift nach der im Zivilrecht herrschenden Vorsatztheorie grundsätzlich das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit voraus, so dass ein - vorwerfbarer - Verbotsirrtum nur einen Fahrlässigkeitsvorwurf begründet (vgl. Bundes-gerichtshof, Urteil vom 10. Juli 1984, NJW 1985, S. 134, 135; Staudinger/Löwisch/ Caspers, BGB, 2009, § 276 Rn. 25; Bamberger/Roth/Unberath, BGB, Stand 1. März 2011, § 276 Rn. 13; MünchKommBGB/Papier, 5. Auflage 2009, § 839 Rn. 285). Besteht die Amtspflichtverletzung aber in einem Verstoß gegen das Strafrecht, wo nach der sogenannten Schuldtheorie nur ein unvermeidbarer Verbotsirrtum entlastet (§ 17 StGB), so gilt dasselbe auch im Zivilrecht; in diesen Fällen schließt der fahr-lässige Verbotsirrtum einen Vorsatz nicht aus (vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 10. Juli 1984, NJW 1985, S. 134, 135 zu § 823 Abs. 2 BGB).

bb. Hiernach haben die Zeugen A und B ihre Amtspflichten selbst dann vorsätzlich im Sinne des § 276 Abs. 1 BGB verletzt, wenn sie ihr Handeln - abweichend von den Feststellungen der Strafkammer - irrtümlich für gerechtfertigt gehalten haben sollten. Denn ein solcher Irrtum wäre, wie bereits unter f. cc. (4) (c) ausgeführt, jedenfalls vermeidbar gewesen.

i. Dem Kläger steht wegen der Verletzung seiner Menschenwürde gegen das beklagte Land gemäß Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. § 839 Abs. 1 BGB, Art. 34 GG ein Anspruch auf Geldentschädigung zu.

aa. Nach der vom Senat geteilten Auffassung des Bundesgerichtshofs (vgl. Urteil vom 4. November 2004, NJW 2005, S. 58, 59) begründet eine Verletzung der Menschen-würde nicht in jedem Fall einen Anspruch auf Geldentschädigung, sondern nur dann, wenn die Beeinträchtigung nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen werden kann. Dies hängt insbesondere von der Bedeutung und Tragweite des Eingriffs, aber auch von Anlass und Beweggrund des Handelnden und dem Grad seines Verschuldens ab (ebenda m. w. N.). Auch eine gemäß Art. 41 EMRK entschädigungspflichtige unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK wird nur dann bejaht, wenn sie ein Mindestmaß an Schwere erreicht. Die Beurteilung dieses Mindest-maßes ist abhängig von den Umständen des Einzelfalls, etwa der Dauer der Behandlung, ihren körperlichen oder seelischen Folgen oder von Geschlecht, Alter oder Gesundheitszustand des Opfers. Auch ein dem Anliegen des Betroffenen Rechnung tragendes Urteil kann eine ausreichende Wiedergutmachung darstellen und eine weiter-gehende Entschädigung in Geld für den erlittenen immateriellen Schaden entbehrlich machen (ebenda m. w. N.). So hat der Bundesgerichtshof die zweitätige menschenunwürdige Unterbringung eines Strafgefangenen wegen akuter Überbelegung, die bereits von einer Strafvollstreckungskammer für rechtswidrig erklärt worden war, nicht für entschädigungspflichtig gehalten (ebenda).

bb. Nach dem bereits erwähnten Urteil des EGMR vom 1. Juni 2010 (22978/05, juris) hat die streitgegenständliche Behandlung des Klägers die Erheblichkeitsschwelle des Art. 3 EMRK überschritten (siehe oben f. bb. (1)) und durch die zwischenzeitlich ergangenen innerstaatlichen Entscheidungen keine genügende Kompensation erfahren (vgl. S. 36 ff. des Umdrucks, juris Rn. 109 ff.; anders noch das Urteil der Kammer der Fünften Sektion des EGMR vom 30. Juni 2008, Nr. 22978/05, NStZ 2008, S. 699 ff., juris). Dies hat der EGMR wie folgt begründet (vgl. juris Rn. 115 ff.):

„2. Ist die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers entfallen?

...

(c) Würdigung durch den Gerichtshof

(i) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze

115. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es primär den innerstaatlichen Behörden obliegt, Wiedergutmachung für Verstöße gegen die Konvention zu leisten. Dabei ist die Frage, ob ein Beschwerdeführer geltend machen kann, Opfer der behaupteten Verletzung zu sein, in allen Stadien des Verfahrens nach der Konvention relevant ... Eine Entscheidung oder Maßnahme zugunsten des Beschwerdeführers reicht nicht grundsätzlich aus, um ihm die Opfereigenschaft im Sinne von Artikel 34 der Konvention abzuerkennen, es sei denn, die innerstaatlichen Behörden haben die Konventionsverletzung ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt und sodann Wiedergutmachung geleistet ...

116. Was eine angemessene und hinreichende Wiedergutmachung anbelangt, um einer Verletzung eines Konventionsrechts auf innerstaatlicher Ebene abzuhelfen, hat der Gerichts-hof im Allgemeinen die Auffassung vertreten, dass dies von den Gesamtumständen des Falls abhängt, wobei insbesondere die Art der festgestellten Konventionsverletzung zu berücksichtigen ist ... In Fällen vorsätzlicher Misshandlung durch Amtsträger unter Verstoß gegen Artikel 3 hat der Gerichtshof wiederholt festgestellt, dass zwei Maßnahmen notwendig sind, um hinreichend Wiedergutmachung zu leisten. Zum einen müssen die staatlichen Behörden gründliche und wirksame Ermittlungen durchgeführt haben, die geeignet waren, zur Identifizierung und Bestrafung der Verantwortlichen zu führen ... Zum anderen ist dem Beschwerdeführer gegebenenfalls eine Entschädigung zuzuerkennen ... oder er muss zumindest die Möglichkeit haben, eine Entschädigung für den Schaden zu beantragen und zu erlangen, den er infolge der Misshandlung erlitten hat ...

117. Was das Erfordernis gründlicher und wirksamer Ermittlungen anbelangt, weist der Gerichtshof erneut auf Folgendes hin: Wenn eine Person in vertretbarer Weise geltend macht, von der Polizei oder anderen Amtsträgern unrechtmäßig und unter Verstoß gegen Artikel 3 schwerwiegend misshandelt worden zu sein, verlangt diese Bestimmung in Verbin-dung mit der allgemeinen Verpflichtung des Staates aus Artikel 1 der Konvention, „...allen [seiner] Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in [der Konvention]... bestimmten Rechte und Freiheiten [zuzusichern]“, in der Folge, dass wirksame amtliche Ermittlungen stattfinden. Derartige Ermittlungen sollten ebenso wie Ermittlungen im Hinblick auf Artikel 2 geeignet sein, zur Identifizierung und Bestrafung der Verantwortlichen zu führen ... : Voraussetzung dafür, dass Ermittlungen in der Praxis wirksam sind, ist, dass der Staat Strafvorschriften erlassen hat, mit denen gegen Artikel 3 verstoßende Praktiken unter Strafe gestellt werden ...

118. Was das Erfordernis einer Entschädigung anbelangt, um einem Verstoß gegen Artikel 3 auf innerstaatlicher Ebene abzuhelfen, hat der Gerichtshof wiederholt festgestellt, dass der Staat neben gründlichen und wirksamen Ermittlungen dem Beschwerdeführer gegebenen-falls eine Entschädigung zuerkannt oder ihm zumindest die Möglichkeit gegeben haben muss, eine Entschädigung für den Schaden zu beantragen und zu erlangen, den er infolge der Misshandlung erlitten hat .... Der Gerichtshof hatte bereits im Zusammenhang mit anderen Artikeln der Konvention Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass die Opfereigenschaft eines Beschwerdeführers von der Höhe der auf innerstaatlicher Ebene zuerkannten Entschädigung abhängen kann, wobei der vor dem Gerichtshof gerügte Sachverhalt Berücksichtigung findet ... Diese Feststellung gilt sinngemäß für Rügen bezüglich eines Verstoßes gegen Artikel 3.

119. In Fällen vorsätzlicher Misshandlung kann dem Verstoß gegen Artikel 3 nicht allein dadurch abgeholfen werden, dass dem Opfer eine Entschädigung zuerkannt wird. Dies hat folgenden Grund: Könnten die Behörden im Falle einer vorsätzlichen Misshandlung durch Amtsträger ihre Reaktion auf die bloße Zahlung einer Entschädigung beschränken, während ausreichende Schritte zur strafrechtlichen Verfolgung und Bestrafung der Verantwortlichen ausbleiben, so wäre es in bestimmten Fällen möglich, dass Amtsträger praktisch straflos die Rechte von Personen, die ihrer Kontrolle unterstehen, missbrauchen; damit wäre das all-gemeine gesetzliche Verbot von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung trotz seiner grundlegenden Bedeutung in der Praxis wirkungslos ...

(ii) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache

120. Der Gerichtshof hat also zunächst festzustellen, ob die innerstaatlichen Behörden die Konventionsverletzung ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt haben. Er stellt in diesem Zusammenhang fest, dass das Landgericht Frankfurt am Main in seiner Entscheidung vom 9. April 2003 im Rahmen des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer ausdrücklich festgestellt hat, dass die Drohung, ihm Schmerzen zuzufügen, um eine Aus-sage von ihm zu erlangen, nicht nur eine nach Artikel 136 a StPO verbotene Vernehmungsmethode dargestellt habe. Die Drohung habe auch gegen Artikel 3 der Konvention verstoßen, der dieser Bestimmung der StPO zugrunde liege (siehe Rdnr. 26). Ebenso befand das Bundesverfassungsgericht unter Bezugnahme auf den vom Landgericht festgestellten Verstoß gegen Artikel 3, dass die Menschenwürde des Beschwerdeführers und das Verbot der Misshandlung von Gefangenen (Artikel 1 und Artikel 104 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz) verletzt worden seien (siehe Rdnr. 42). Darüber hinaus befand das Landgericht Frankfurt am Main in seinem Urteil gegen die Polizeibeamten vom 20. Dezember 2004, dass derartige Vernehmungsmethoden keine gerechtfertigten Notstandshandlungen gewesen seien, denn „Notstand“ sei keine Rechtfertigung für einen Verstoß gegen den in Artikel 1 Grundgesetz festgeschriebenen absoluten Schutz der Menschenwürde, der auch den Kerngedanken von Artikel 3 der Konvention darstelle (siehe Rdnr. 48). In Anbetracht dessen ist die Große Kammer, die insoweit mit den Feststellungen der Kammer übereinstimmt, überzeugt, dass die zur Entscheidung über diese Frage berufenen innerstaatlichen Gerichte ausdrücklich und unmissverständlich anerkannt haben, dass die Vernehmung des Beschwerdeführers gegen Artikel 3 der Konvention verstoßen hat.

121. Bei der Beurteilung, ob die innerstaatlichen Behörden dem Beschwerdeführer darüber hinaus eine angemessene und hinreichende Wiedergutmachung für den Verstoß gegen Artikel 3 geleistet haben, muss der Gerichthof zunächst feststellen, ob sie in Übereinstimmung mit den Erfordernissen seiner Rechtsprechung gründliche und wirksame Ermitt-lungen gegen die Verantwortlichen geführt haben. Hierbei hat der Gerichtshof bislang mehrere Kriterien berücksichtigt. Wichtige Faktoren für wirksame Ermittlungen, die als Maßstab für die Entschlossenheit der Behörden zur Identifizierung und strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen gelten, sind zunächst Unverzüglichkeit ... und Zügigkeit (...) Darüber hinaus ist das Ergebnis der Ermittlungen und des anschließenden Strafverfahrens, einschließlich der verhängten Sanktion und Disziplinarmaßnahmen, als entscheidend angesehen worden. Das Ergebnis ist wesentlich, um sicherzustellen, dass die Abschreckungs-wirkung der geltenden Rechtsordnung und die Bedeutung der Rolle, die sie bei der Verhütung von Verstößen gegen das Verbot von Misshandlung spielen muss, nicht unterlaufen werden ...

122. Der Gerichtshof stellt in der vorliegenden Rechtssache fest, dass die strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Polizeibeamten A. und B. etwa vier Monate nach der Vernehmung des Beschwerdeführers vom 1. Oktober 2002 eingeleitet wurden (siehe Rdnr. 23) und dass die Beamten ungefähr zwei Jahre und drei Monate später rechtskräftig verurteilt wurden.

Der Gerichtshof stellt zwar fest, dass das Landgericht Frankfurt am Main aufgrund vieler Faktoren, unter anderem wegen der langen Verfahrensdauer (siehe Rdnr. 50), ihre Strafe gemildert hat; er ist aber dennoch bereit zu akzeptieren, dass die Ermittlungen und das Strafverfahren unverzüglich und zügig genug durchgeführt wurden, um den Maßstäben der Konvention zu genügen.

123. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Polizeibeamten wegen ihres gegen Artikel 3 verstoßenden Verhaltens während der Vernehmung des Beschwerdeführers nach den Bestimmungen des deutschen Strafrechts der Nötigung bzw. Anstiftung zur Nötigung für schuldig befunden wurden. Der Gerichtshof nimmt jedoch zur Kenntnis, dass sie für diesen Verstoß lediglich zu sehr milden und zur Bewährung ausgesetzten Geldstrafen verurteilt wurden. Der Gerichtshof erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass es nicht seine Aufgabe ist, über die Schwere der Schuld des Einzelnen zu entscheiden ... oder die angemessene Strafe für einen Straftäter zu bestimmen, denn es handelt sich hierbei um Angelegenheiten, die in die ausschließliche Zuständigkeit der innerstaatlichen Strafgerichte fallen. Nach Artikel 19 der Konvention und in Übereinstimmung mit dem Grundsatz, dass mit der Konvention nicht theoretische oder illusorische, sondern praktische und effektive Rechte garantiert werden sollen, hat der Gerichtshof jedoch sicherzustellen, dass die Verpflichtung eines Staates, die Rechte der seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Personen zu schützen, angemessen erfüllt wird ... Daraus folgt, dass der Gerichtshof zwar die Rolle der innerstaatlichen Gerichte bei der Wahl angemessener Sanktionen für Misshandlungen durch Amtsträger anerkennt, seine Überwachungsfunktion jedoch beibehalten und in Fällen eingreifen muss, in denen eine offensichtliche Unverhältnismäßigkeit zwischen der Schwere der Tat und der verhängten Strafe besteht. Andernfalls würde die Verpflichtung der Staaten, wirksame Ermittlungen durchzuführen, einen großen Teil ihrer Bedeutung verlieren ....

124. Der Gerichtshof verkennt nicht, dass das Landgericht Frankfurt am Main bei der Festsetzung der Strafen von A. und B. eine Reihe mildernder Umstände berücksichtigt hat (siehe Rdnr. 50). Er akzeptiert, dass die vorliegende Beschwerde nicht mit anderen Fällen vergleichbar ist, in denen es um willkürliche und schwerwiegende Brutalität durch Amtsträger ging, die diese anschließend zu vertuschen versuchten, und in denen der Gerichtshof der Auffassung war, dass die Verhängung vollstreckbarer Freiheitsstrafen angemessener gewesen wäre ... Nichtsdestotrotz kann die Verhängung von fast als symbolisch zu bezeichnenden Geldstrafen von 60 bzw. 90 Tagessätzen in Höhe von 60 bzw. 120 Euro, die zudem noch zur Bewährung ausgesetzt wurden, nicht als angemessene Reaktion auf einen Verstoß gegen Artikel 3 angesehen werden, auch wenn die Sache im Kontext der Strafzumessungspraxis des beschwerdegegnerischen Staates betrachtet wird.

Eine solche Bestrafung, die offensichtlich außer Verhältnis zu einem Verstoß gegen eines der Kernrechte der Konvention steht, hat nicht die erforderliche Abschreckungswirkung, um in der Zukunft in schwierigen Situationen weitere Verstöße gegen das Misshandlungsverbot zu verhindern.

125. Was die disziplinarischen Sanktionen anbelangt, die verhängt wurden, nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass A. und B. im Verlauf des Ermittlungsverfahrens und des Strafprozesses beide auf Stellen versetzt wurden, die nicht mehr mit einer unmittelbaren Beteiligung an der Ermittlung von Straftaten verbunden waren (siehe Rdnr. 50). A. wurde später zum Polizeipräsidium für Technik, Logistik und Verwaltung versetzt und zu dessen Leiter ernannt (siehe Rdnr. 52). Der Gerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auf seine wiederholt getroffene Feststellung, dass es in Fällen, in denen Amtsträgern Misshandlung vorgeworfen wird, wichtig ist, diese, solange gegen sie ermittelt wird oder sie vor Gericht stehen, vom Dienst zu suspendieren und im Falle einer Verurteilung zu entlassen ... Auch wenn der Gerichtshof akzeptiert, dass der vorliegende Sachverhalt nicht mit den hier zitierten Fällen vergleichbar ist, stellt er dennoch fest, dass A.s anschließende Ernennung zum Leiter einer Polizeibehörde schwerwiegende Zweifel aufkommen lässt, ob die Reaktion der Behörden die Schwere eines Verstoßes gegen Artikel 3 – dessen er für schuldig befunden worden war – angemessen widerspiegelt.

126. Was das zusätzliche Erfordernis einer Entschädigung zur Wiedergutmachung eines Verstoßes gegen Artikel 3 auf innerstaatlicher Ebene anbelangt, stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, eine Entschädigung für den Schaden zu beantragen, den er infolge des Verstoßes gegen Artikel 3 erlitten hat. Anscheinend ist sein Prozesskostenhilfeantrag für eine solche Amtshaftungsklage nach einer Verweisung jedoch seit über drei Jahren anhängig, weshalb bislang noch keine Anhörung stattgefunden hat und hinsichtlich seiner Klage noch kein Urteil in der Hauptsache ergangen ist. Der Gerichtshof merkt hierzu an, dass er in der Praxis Entschädigungen für immateriellen Schaden nach Artikel 41 der Konvention in Abhängigkeit von der Schwere eines Verstoßes gegen Artikel 3 zugesprochen hat ....

127. In jedem Fall ist er der Auffassung, dass angemessene und hinreichende Wiedergutmachung für einen Konventionsverstoß nur unter der Bedingung geleistet werden kann, dass ein Antrag auf Entschädigung als solcher ein wirksamer, angemessener und zugänglicher Rechtsbehelf bleibt. Der Rechtsbehelf wird insbesondere durch übermäßige Ver-zögerungen bei einer Entschädigungsklage unwirksam .... Die Tatsache, dass die innerstaatlichen Gerichte bezüglich der Entschädigungsklage des Beschwerdeführers über drei Jahre keine Entscheidung in der Hauptsache erlassen haben, lässt schwerwiegende Zweifel an der Wirksamkeit des Amtshaftungsverfahren unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache aufkommen. Die Behörden scheinen nicht entschlossen zu sein, über eine angemessene Wiedergutmachung, die dem Beschwerdeführer zu leisten ist, zu entscheiden und haben somit nicht angemessen und effizient auf den in Rede stehenden Verstoß gegen Artikel 3 reagiert.

128. Der Gerichtshof nimmt ferner den Vortrag des Beschwerdeführers zur Kenntnis, wonach eine Wiedergutmachung für den Verstoß der Behörden gegen Artikel 3 nur hätte geleistet werden können, wenn in seinem Prozess auch ein Verwertungsverbot für alle Beweismittel bestanden hätte, die unmittelbar infolge dieses Verstoßes erlangt wurden.

Er merkt an, dass er in seiner aktuellen Rechtsprechung im Allgemeinen die Auffassung vertreten hat, dass die Einhaltung der Erfordernisse, Ermittlungen durchzuführen und eine Entschädigung zu leisten, sowohl notwendig als auch hinreichend sind, um feststellen zu können, dass ein beschwerdegegnerischer Staat in Fällen von Misshandlung durch Amts-träger unter Verstoß gegen Artikel 3 angemessene Wiedergutmachung auf innerstaatlicher Ebene leistet (siehe Rdnrn. 116-119). Er hat jedoch auch festgestellt, dass die Frage, welche Wiedergutmachungsmaßnahmen angemessen und hinreichend sind, um einem Verstoß gegen ein Konventionsrecht abzuhelfen, von den Gesamtumständen des Falls abhängt (siehe Rdnr. 116). Er schließt daher die Möglichkeit nicht aus, dass in Fällen, in denen der Einsatz einer nach Artikel 3 verbotenen Ermittlungsmethode zu Nachteilen für einen Beschwerdeführer in einem Strafverfahren gegen ihn geführt hat, eine angemessene und hinreichende Wiedergutmachung für diesen Verstoß neben den vorgenannten Erfordernissen auch noch Restitutionsmaßnahmen erfordern kann, die das Problem der fortdauernden Auswirkung dieser verbotenen Ermittlungsmethoden auf den Prozess behandeln, insbesondere ein Verwertungsverbot für die durch den Verstoß gegen Artikel 3 erlangten Beweise.

129. In der vorliegenden Rechtssache hat der Gerichtshof über diese Frage jedoch nicht zu entscheiden und braucht daher zu diesem Zeitpunkt nicht zu prüfen, ob die verbotene Vernehmungsmethode im Ermittlungsverfahren eine fortdauernde Auswirkung auf den Prozess gegen den Beschwerdeführer hatte und zu Nachteilen für ihn geführt hat.

Im Hinblick auf die vorstehenden Feststellungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die verschiedenen von den innerstaatlichen Behörden ergriffen Maßnahmen das in seiner Rechtsprechung festgelegte Erfordernis der Wiedergutmachung jedenfalls nicht vollständig erfüllt haben. Folglich hat der beschwerdegegnerische Staat dem Beschwerdeführer keine hinreichende Wiedergutmachung für seine gegen Artikel 3 verstoßende Behandlung geleistet.

130. Daraus folgt, dass der Beschwerdeführer immer noch behaupten kann, im Sinne von Artikel 34 der Konvention Opfer eines Verstoßes gegen Artikel 3 zu sein.“

cc. Diese Bewertung des EGMR beruht entgegen der Auffassung des beklagten Landes nicht auf unzutreffenden Sachverhaltsannahmen.

(1) Die Erheblichkeitsschwelle des Art. 3 EMRK sah der EGMR nicht wegen einer - im vorliegenden Rechtsstreit nicht erwiesenen - Fesselung des Klägers als über-schritten an; insoweit kann auf die Ausführungen unter f. bb. (2) verwiesen werden.

(2) Soweit der EGMR (unter Rn. 126 f. des Urteils) eine ausreichende Wiedergut-machung des Konventionsverstoßes - auch - wegen der Verzögerung des vorliegenden Amtshaftungsverfahrens verneint hat, beruht dies nicht auf der irrtümlichen Annahme, das Prozesskostenhilfeverfahren sei bei Erlass des Urteils vom 1. Juni 2010 noch anhängig gewesen, sondern auf der - zutreffenden - Feststellung des EGMR, dass inner-halb von drei Jahren noch „keine Entscheidung in der Hauptsache“ ergangen war (so ausdrücklich Rn. 127 des Urteils).

dd. Die unter bb. wiedergegebene rechtliche Bewertung des EGMR ist entgegen der Auffassung des beklagten Landes für den Senat bindend.

(1) Da Art. 3 EMRK und Art. 104 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG denselben Schutzzweck haben, folgt aus dem Urteil des EGMR vom 1. Juni 2010 der Sache nach, dass die Beeinträchtigung der Menschenwürde des Klägers durch die streitgegenständliche Vernehmung bislang unzureichend kompensiert wurde und somit fortbesteht.

Dies legt die Annahme des Landgerichts, dem Kläger sei zum Ausgleich dieser fort-bestehenden Beeinträchtigung eine Geldentschädigung aus Art. 1 Abs. 1 GG i. v. m. § 839 Abs. 1 BGB zuzubilligen, jedenfalls nahe.

(2) Das Urteil des EGMR hat insoweit zwar keine unmittelbar formale Bindungswirkung, jedoch ist die Menschenrechtskonvention in ihrer Auslegung durch den EGMR von deutschen Gerichten gemäß Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) zu berücksichtigen. Diese Bindungswirkung hat das Bundes-verfassungsgericht in seinem grundlegenden Beschluss vom 14. Oktober 2004 (vgl. BVerfGE 111, S. 307 ff. = NJW 2004, S. 3407 ff.) im Einzelnen beschrieben:

(a) Die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle sind völkerrechtliche Verträge. Diesen hat der Bundesgesetzgeber mit förmlichem Gesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 GG zugestimmt und sie damit im Rang eines Bundesgesetzes in das deutsche Recht transformiert. Damit sind sie von deutschen Gerichten wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden. Eine Konventionsverletzung kann also nicht unmittelbar mit einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht gerügt werden (vgl. NJW 2004, S. 3408).

(b) Jedoch bilden die Gewährleistungen der EMRK und die Rechtsprechung des EGMR auf der Ebene des Verfassungsrechts Auslegungshilfen zur Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes. Einschlägige EGMR-Entscheidungen und die darin berücksichtigten Aspekte sind grundsätzlich in die verfassungsrechtliche Würdigung einzubeziehen. Hat der EGMR in einem Beschwerdeverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland einen Konventionsverstoß festgestellt und dauert dieser Verstoß an, so müssen sich die innerstaatlichen Gerichte mit der EGMR-Entscheidung erkennbar auseinandersetzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung gleichwohl nicht folgen, etwa weil sie - wie im Privatrecht - mehrpolige Grundrechtsverhältnisse auszugestalten haben. Dabei ist auch von Bedeutung, wie sich die Berücksichtigung der Entscheidung im System des jeweiligen Rechtsgebiets dar-stellt. Im Rahmen von Auslegungs- und Abwägungsspielräumen haben deutsche Gerichte der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben. Bei einem zwischenzeitlich veränderten Sachverhalt ist zu ermitteln, worin der spezifische Konventionsverstoß nach Auffassung des EGMR gelegen hat und warum die Sachverhalts-änderung der Anwendung auf den Fall zwingend entgegensteht. Versäumt ein Gericht die gebotene Auseinandersetzung mit einer EGMR-Entscheidung, so kann es hierdurch gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen; dies kann mit einer Verfassungsbeschwerde gerügt werden (vgl. NJW 2004, S. 3408 ff., 3410 f.).

(c) Zudem entfalten EGMR-Urteile gegenüber der beteiligten Vertragspartei materielle Rechtskraft (vgl. Art. 34, 42, 44 EMRK). Durch Nichtbeendigung eines vom EGMR als konventionswidrig festgestellten Verhaltens gegenüber dem Beschwerdeführer würde sie erneut die EMRK verletzen (vgl. NJW 2004, S. 3409).

(3) Nach diesen Grundsätzen ist der Senat gemäß Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG an die Wertung des EGMR, dass der Kläger wegen der Verletzung seiner Menschenwürde noch keine ausreichende Wiedergutmachung erfahren hat, gebunden.

(a) Eine Veränderung der Tatsachengrundlage oder sonstige Umstände, die einer Umsetzung dieser Wertung in Anwendung der vom Bundesgerichtshof entwickelten Grundsätze über die Geldentschädigung bei Verletzung der Menschenwürde zwingend entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich. Die besonderen Umstände des Falles, die das Verhalten der Zeugen A und B in mildem Licht erscheinen lassen und deren moderate strafrechtliche Verurteilung erklären, hat der EGMR bei seiner Bewertung bereits berücksichtigt.

(b) Soweit sich das beklagte Land auf eine dem Urteil des EGMR vom 1. Juni 2010 beigefügte abweichende Meinung (von Richter Casadevall, dem sich weitere Richter angeschlossen haben, vgl. S. 79 ff. des Umdrucks, juris nach Rn. 199; ebenso das vorangegangene Urteil der Kammer der Fünften Sektion des EGMR vom 30. Juni 2008, NStZ 2008, S. 699 ff., juris) beruft, wonach die Beeinträchtigung des Klägers durch die bereits ergangenen innerstaatlichen Entscheidungen hinreichend ausgeglichen sei, hat die Mehrheit der Richter der Großen Kammer des EGMR dies ausdrücklich anders entschieden. Wollte der Senat hiervon abweichen, würde das vom EGMR als konventionswidrig festgestellte Verhalten der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem Kläger nicht - wie nach der EMRK geboten - beendet und die EMRK erneut verletzt.

(4) Der EGMR verlangt bei einem vorsätzlichen Verstoß gegen Art. 3 EMRK spürbare Folgen für die Beteiligten, um einen effektiven Schutz dieses Kernrechts der Konvention zu gewährleisten und Amtsträger von künftigen Verstößen abzuschrecken (vgl. Rn. 119, 123 ff. des Urteils); es sei wichtig, einen Amtsträger, der wegen einer Misshandlung im Sinne des Art. 3 EMRK strafrechtlich verurteilt wurde, zu entlassen (so ausdrücklich Rn. 125 des Urteils).

(a) Die gegen die Zeugen A und B verhängten Geldstrafen, die gemäß § 59 StGB als so genannte Verwarnung mit Strafvorbehalt „zur Bewährung ausgesetzt“ wurden, stehen nach Auffassung des EGMR „offensichtlich außer Verhältnis“ zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK, bilden insoweit also keine angemessene Sanktion.

(b) Die Zeugen A und B wurden trotz ihrer strafrechtlichen Verurteilung wegen einer Misshandlung im Sinne des Art. 3 EMRK nicht aus dem Dienst entlassen; der Zeuge A wurde - wie der EGMR unter Rn. 125 des Urteils kritisiert - sogar befördert. Weitere disziplinarische Maßnahmen gegen die beiden Zeugen sind wohl auch nicht mehr zu erwarten.

(c) Eine unter Rn. 128 des EGMR-Urteils erwähnte Wiedergutmachung der Folter-drohung durch ein - auch Sachbeweise umfassendes - Verwertungsverbot in dem gegen den Kläger geführten Strafverfahren scheidet nach dessen rechtskräftiger Ver-urteilung und der Nichtannahme seiner hiergegen eingelegten Verfassungs-beschwerde aus.

(d) Hiernach verbleibt als mögliche Sanktion nur noch eine Entschädigung in Geld. Diese bildet - insbesondere im Vergleich zu einem umfassenden strafprozessualen Beweisverwertungsverbot - eine eher schwache Kompensation.

(e) Vor diesem Hintergrund erscheint der vom Landgericht ausgeurteilte Betrag von 3.000,00 Euro gering. Er bildet - insbesondere im Vergleich zu einer Kompensation durch ein umfassendes strafprozessuales Beweisverwertungsverbot - allenfalls eine symbolische Entschädigung; so hat der Kläger sie auch verstanden.

ff. Die vom Landgericht gemäß § 287 Abs. 1 ZPO vorgenommene Schätzung der Höhe der dem Kläger wegen der streitgegenständlichen Geschehnisse vom beklagten Land zu zahlenden Geldentschädigung ist nicht zu beanstanden. Der Senat schließt sich dieser Schätzung aufgrund eigener Würdigung an. Hiernach verbleibt es bei dem vom Landgericht ausgeurteilten Betrag.

j. Aus den vorstehenden Gründen erweist sich auch der vom beklagten Land im Berufungsverfahren erhobene Einwand, der vorliegende Rechtsstreit sei wegen des zwischenzeitlich über das Vermögen des Klägers geführten Verbraucherinsolvenz-verfahrens gemäß § 240 ZPO unterbrochen, als unbegründet.

aa. Gemäß § 36 Abs. 1 InsO gehören Gegenstände, die nicht der Zwangsvollstreckung unterliegen, nicht zur Insolvenzmasse. Nach der vom Senat geteilten Auffassung des Bundesgerichtshofs (vgl. Urteil vom 24. März 2011, NJW 2011, S. 2296, 2298; siehe auch Beschluss vom 5. Mai 2011, NJW-RR 2011, S. 959 ff.) ist ein Anspruch gemäß §§ 399 BGB, 851 Abs. 1 ZPO nicht übertragbar und damit unpfändbar, wenn die Leistung an einen Dritten nicht ohne Veränderung ihres Inhalts erfolgen kann. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Leistung derart mit der Person des Gläubigers verknüpft ist, dass die Leistung an eine andere Person - etwa an den Insolvenzverwalter zur Masse - als eine andere Leistung erscheinen würde (vgl. Urteil vom 24. März 2011, NJW 2011, S. 2296, 2298).

bb. So liegt der Fall hier.

Der Kläger kann von dem beklagten Land eine Geldentschädigung verlangen, weil die Verletzung seiner Menschenwürde bei der Vernehmung vom 1. Oktober 2002 ohne eine solche Entschädigung keine ausreichende Wiedergutmachung erführe (siehe oben i). Der Senat hätte die Entschädigung nicht zugesprochen, wenn sie nicht vom Kläger selbst, sondern vom Insolvenzverwalter für die Masse geltend gemacht worden wäre. Denn die Insolvenzgläubiger des Klägers haben dadurch, dass dieser in seinen Menschenrechten verletzt wurde, weder materielle noch immaterielle Einbußen erlitten, die ausgeglichen werden sollten; daher würde eine Auszahlung des zuerkannten Betrags an die Masse den Leistungsinhalt grundlegend verändern (vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 24. März 2011, NJW 2011, S. 2296, 2299 zu einem Entschädigungsanspruch gemäß Art. 41 EMRK). Der Zahlungsanspruch des Klägers ist daher gemäß § 399 BGB nicht übertragbar und damit nach § 851 Abs. 1 ZPO unpfändbar.

cc. Somit wurde der vorliegende Rechtsstreit von der Eröffnung eines Verbraucher-insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers und einem später angeordneten Nachtragsverteilungsverfahren nicht berührt, insbesondere nicht gemäß § 240 ZPO unterbrochen. Der formell rechtskräftige Beschluss, die Nachtragsverteilung der streitgegenständlichen Entschädigungsforderung anzuordnen, entfaltet hinsichtlich der vorstehend geschilderten materiellen Rechtslage keine präjudizielle Bindungswirkung.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10 Satz 1 und 2, 711 Satz 1, 713 ZPO.

3. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Soweit das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 19. Februar 2008 (NJW 2007, S. 1060, 1062) wegen der Singularität des vorliegenden Falles eine höchstrichterliche Klärung der Entschädigungsfrage für erforderlich gehalten hat, ist eine solche Klärung durch das zwischenzeitlich ergangene EGMR-Urteil vom 1. Juni 2010 mit bindender Wirkung erfolgt. Der Senat hat die in diesem Urteil getroffenen Wertungen in Anwendung der vom Bundesgerichtshof entwickelten Grundsätze über die Geldentschädigung bei Verletzung der Menschenwürde sowie der Unpfändbarkeit von Entschädigungsansprüchen mit besonderer persönlicher Genugtuungsfunktion umgesetzt. Hiernach erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht, § 543 Abs. 2 ZPO.