BVerfG, Beschluss vom 28.03.2002 - 2 BvL 2/01
Fundstelle
openJur 2012, 133276
  • Rkr:
Tenor

Die Vorlage ist unzulässig.

Gründe

I.

Eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG setzt voraus, dass es für die im Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung auf die Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm ankommt. Bei der Prüfung der Entscheidungserheblichkeit gilt ein strenger Maßstab, weil der Richter mit der Aussetzung und Vorlage zunächst eine Entscheidung zur Sache verweigert. Der verfassungsrechtliche Justizgewährungsanspruch fordert vom Richter, das Verfahren so zu behandeln, dass eine Verzögerung durch die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts nach Möglichkeit vermieden wird (BVerfGE 78, 165 <178>; 86, 71 <76 f.>).

Daher muss das Gericht in der Begründung der Vorlage im Einzelnen angeben, weshalb seine Entscheidung von der Gültigkeit der beanstandeten Vorschrift abhängt und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm sie unvereinbar ist, § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Der Vorlagebeschluss muss aus sich heraus, ohne Beiziehung der Akten, verständlich sein und mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lassen, dass das vorlegende Gericht bei Gültigkeit der Regelung zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit und wie es dieses Ergebnis begründen würde (vgl. BVerfGE 35, 303 <306>; 68, 311 <316>; 69, 185 <187>; 74, 236 <242>; 78, 1 <5>; 88, 70 <73 f.>). Dabei verlangt § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG auch, dass das vorlegende Gericht die Tatsachen mitteilt, auf die sich sein Standpunkt zur Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage stützt (BVerfGE 66, 265 <268 f.>; 80, 68 <71>), und sich unter Berücksichtigung der in Rechtsprechung und Literatur entwickelten Rechtsauffassungen eingehend mit der Rechtslage auseinander setzt (vgl. BVerfGE 47, 109 <114 f.>; 65, 308 <316>; 74, 236 <242>; 78, 1 <5>; 88, 70 <74>).

II.

Diesen Anforderungen wird der Vorlagebeschluss in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.

1. Zur Darlegung der Entscheidungserheblichkeit gehört auch eine Auseinandersetzung mit der inneren Tatseite, wenn diese erörterungsbedürftig ist (BVerfGE 35, 303 <306>; 51, 401 <403 f.>; 77, 364 <368>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. September 2000 - 2 BvL 6/00 -, NStZ 2001, S. 261). Anlass zur Erörterung der Frage, ob der Angeschuldigten in einem noch zu eröffnenden Hauptverfahren mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Vorsatz im Sinne des § 153 StGB nachgewiesen werden kann (vgl. § 203 StPO), bestand hier deshalb, weil das Amtsgericht in einer an die Staatsanwaltschaft mit der Anregung einer Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO gerichteten Anfrage insoweit Bedenken geäußert und darauf hingewiesen hatte, dass die Angeschuldigte auch schlicht den Tag verwechselt, also nur irrtümlich eine - möglicherweise - objektiv unzutreffende Aussage gemacht haben kann. Vor diesem Hintergrund hätte das Amtsgericht seine in dem Vorlagebeschluss vertretene Auffassung, ihre Verurteilung sei mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten, näher begründen müssen, zumal auch die Anklageschrift keine Ausführungen zur subjektiven Tatseite enthält.

2. Der Grundgedanke des Art. 100 Abs. 1 GG, die Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers im Verhältnis zur Rechtsprechung zu wahren, gebietet es ferner, dass das Gericht sich seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Norm in Auseinandersetzung mit den Gründen bildet, die im Gesetzgebungsverfahren für eine bestimmte Regelung maßgeblich waren (BVerfGE 77, 259 <262>; 78, 201 <204>; 81, 275 <277>; 86, 71 <77>).

Dies ist in dem Vorlagebeschluss nicht geschehen. Die Überzeugung des Amtsgerichts, die - seines Erachtens - als sachlicher Grund für eine verjährungsrechtliche Ungleichbehandlung von "Nach-Wende-Taten" in alten und neuen Bundesländern allein in Betracht kommende Belastung der in den neuen Ländern noch im Aufbau befindlichen Justiz mit der Aufarbeitung der DDR-Kriminalität und vereinigungsbedingten Straftaten könne die Einbeziehung der Fälle "gewöhnlicher Alltagskriminalität" in die verjährungsverlängernde Regelung des Art. 315a Abs. 2 EGStGB nicht rechtfertigen, übersieht, dass von der Überlastung der Strafverfolgungsbehörden in den neuen Bundesländern alle Straftäter, also auch "Alltagskriminelle", profitiert haben. Zu verhindern, dass Straftätern - gleich welcher Deliktsgruppe - aus den vereinigungsbedingten Schwierigkeiten der Justiz in den neuen Bundesländern "sachlich nicht gerechtfertigte Vorteile in Form einer Verfahrenseinstellung wegen Verjährung erwachsen", war ein wesentlicher Grund für die verjährungsverlängernde Regelung des Art. 315a Abs. 2 EGStGB, wie bereits aus der Begründung des Gesetzentwurfs des Landes Mecklenburg-Vorpommern (BRDrucks 147/92, S. 3 ff.) hervorgeht. Darin wurde unter anderem darauf hingewiesen, dass die Kriminalität Jugendlicher und Heranwachsender in den neuen Ländern als Ausdruck sozialer Probleme erheblich an Bedeutung gewonnen habe (a.a.O., S. 3). Auch wurde erörtert, ob die mit der vorgesehenen Verjährungsregelung verbundene Ungleichbehandlung von im Beitrittsgebiet begangenen gegenüber im gleichen Zeitraum im alten Bundesgebiet begangenen Taten mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar sei. Hierzu heißt es in der genannten Entwurfsbegründung wörtlich: "Durch die beabsichtigten Regelungen soll nachgerade die faktische Ungleichheit zwischen der Strafverfolgung in den neuen und in den alten Bundesländern, die daraus resultiert, dass die Strafverfolgungseffizienz in den neuen Bundesländern vereinigungsbedingt hinter der der alten Bundesländer zurückbleibt, ausgeglichen werden" (BRDrucks 147/92, S. 6). Die Begründung des Gesetzentwurfs des Bundesrats (BRDrucks 319/93 <Beschluss>, S. 3 ff.) enthält darüber hinaus den Hinweis, der Gleichheitssatz mache die vorgesehene Regelung geradezu notwendig. Hiermit hätte sich das Amtsgericht auseinander setzen müssen.

Eine Befassung mit den Gesetzesmaterialien lässt auch die weitere Annahme des Amtsgerichts vermissen, dass bei Erlass des 3. Verjährungsgesetzes für eine unterschiedliche Verjährungsregelung in den alten und in den neuen Bundesländern kein sachlicher Grund mehr bestanden habe, weil zu dieser Zeit der Aufbau der Justiz in den neuen Ländern schon abgeschlossen gewesen sei. Der Gesetzgeber ist ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs (BTDrucks 13/8962, S. 3) und der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestags (BTDrucks 13/9252, S. 4 ff.) davon ausgegangen, dass die Aufarbeitung von DDR-Regierungs- und vereinigungsbedingter Wirtschaftskriminalität noch nicht abgeschlossen, die Justiz in den neuen Bundesländern aber nach wie vor in einer Notsituation und trotz großer Anstrengungen an ihre Grenzen gestoßen sei. Wenn das Amtsgericht diese gesetzgeberische Einschätzung für unzutreffend hält, hätte es dies in seinem Vorlagebeschluss eingehend begründen müssen.

3. Die weitere Argumentation des Amtsgerichts, der Gesetzgeber habe in Art. 315a Abs. 2 EGStGB mit dem Tatort ein ungeeignetes Differenzierungskriterium gewählt, weil es bei vielen Straftaten mehrere Tatorte gebe, die unter Umständen zur Anwendbarkeit unterschiedlicher Verjährungsregelungen führen könnten, lässt außer Acht, dass der Gesetzgeber nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Ordnung von Massenerscheinungen nicht um die differenzierende Berücksichtigung aller denkbaren Fälle besorgt sein muss. Er ist vielmehr berechtigt, von einem Gesamtbild auszugehen, das sich aus den ihm vorliegenden Erfahrungen ergibt. Auf dieser Grundlage kann er generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen verwenden, ohne allein schon wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen den Gleichheitssatz zu verstoßen (BVerfGE 11, 245 <253 f.>; 84, 348 <359 f.>; 87, 234 <255 f.>). Zur Begründung eines Gleichheitsverstoßes hätte der Vorlagebeschluss deshalb im Einzelnen dartun müssen, dass die mit der in Art. 315a Abs. 2 EGStGB vorgenommenen Generalisierung (Abstellen auf den Tatort) nach Ansicht des Amtsgerichts verbundenen Ungerechtigkeiten und Härten nicht nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und auch unter Beachtung praktischer Erfordernisse vermeidbar wären. Auch hieran fehlt es.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.