VG Würzburg, Urteil vom 02.03.2012 - W 2 K 11.30289
Fundstelle
openJur 2012, 121716
  • Rkr:
Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

I.

Der zur Person nicht ausgewiesene Kläger, nach seinen eigenen Angaben ein am … 1979 geborener afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volkszugehörigkeit und sunnitisch-moslemischen Glaubens, beantragte am 18. Mai 2011 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) die Gewährung politischen Asyls.

Im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt am 9. Juni 2011 gab der Kläger an, er sei mit seiner Frau und seinen drei Kindern gemeinsam aus Afghanistan ausgereist. In der Türkei seien sie getrennt worden. Seine Familie befinde sich derzeit in Würzburg. Er sei mit einem bulgarischen Reisepass nach Deutschland eingereist, den der Schleuser in Griechenland besorgt habe.

In Afghanistan habe er in der Provinz Kunduz in Chardara gewohnt. Seine Eltern seien bei einem Raketenangriff ums Leben gekommen. Ein Onkel mütterlicherseits habe ihn, den Kläger, aufgezogen. Dieser lebe noch in Afghanistan, zudem zwei Cousins väterlicherseits. In Afghanistan habe er eigene Grundstücke landwirtschaftlich bewirtschaftet und zudem als Fahrer gearbeitet.

Von Kunduz sei er mit dem Pkw nach Kabul gefahren, wo er sich fünf Tage lang aufgehalten habe; anschließend sei er in den Iran geflogen und auf dem Landweg in die Türkei gereist. Beim Grenzübertritt nach Griechenland sei er von seiner Familie getrennt worden. Er habe sich sieben Monate lang in Athen aufgehalten und sei von dort nach Deutschland geflogen. Die Reise habe er durch den Verkauf seines Hauses und Teile seiner Grundstücke finanziert.

Er begehre deshalb die Gewährung politischen Asyls, weil die Arbaki Group Menschen bedrohe und entführe. Seine beiden Cousins seien ein Teil dieser Gruppe gewesen und hätten Geld erpresst. Nach dem Tod von deren Vater, seines, des Klägers, Onkels, hätten sie auch von deren Mutter und von ihm, dem Kläger, Geld erpressen wollen. Er habe jedoch kein Geld gehabt. Sie hätten daraufhin einen Sohn des Klägers vergiftet und einen anderen Sohn entführt. Diesen hätten die Dorfbewohner befreien können. Die Gruppe habe ihn jedoch weiterhin bedroht. Er habe sich mit seinem Onkel besprochen und sich zur Ausreise entschieden. Zum Schein habe er von seinem Cousin Zeit erbeten. In dieser Zeit habe er das Grundstück verkauft und sei ausgereist. Die Erpressungshandlung habe sich über ein Jahr lang hingezogen. Er habe nicht in einen anderen Teil Afghanistans ziehen können, weil er als Landwirt auf seine Grundstücke angewiesen sei; zudem wäre er überall in Afghanistan gefunden worden. Die beiden Cousins hießen N… und S…. Genauere Angaben zu der Gruppe könne er nicht machen. Es gebe sie allerdings seit etwa zwei Jahren. Sie agiere überall in Afghanistan, jedoch vermehrt in den Nordprovinzen.

Mit Bescheid vom 5. August 2011 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde unter Abschiebungsandrohung nach Afghanistan zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung aufgefordert. Auf die Gründe des Bescheides wird Bezug genommen.

II.

Gegen den am 10. August 2011 zugestellten Bescheid ließ der Kläger am 12. August 2011 Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erheben und beantragen:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 5. August 2011 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen bzw. festzustellen, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen;

hilfsweise festzustellen, dass bei dem Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis Abs. 7 AufenthG vorliegen.

Zur Begründung wurde auf das Vorbringen des Klägers vor dem Bundesamt Bezug genommen und ausgeführt, dass sich bei der Anhörung wohl aufgrund des starken Dialekts des Klägers ein paar Ungenauigkeiten eingeschlichen hätten. Richtig sei, dass die Gruppe versucht habe, seine beiden Söhne zu betäuben und zu entführen. Hierbei seien sie durch die Dorfbewohner gestört worden bzw. die Dorfbewohner hätten sie befreien können. Die beiden Söhne seien zwei Tage lang im Krankenhaus gewesen. Der Entführungsversuch habe die beiden älteren Söhne des Klägers betroffen. Der Kläger habe nunmehr seine Familie in Würzburg wieder getroffen.

In der Provinz Kunduz komme es zu zahlreichen Übergriffen durch die Arbaki Group, denen die Bewohner schutzlos ausgeliefert seien. Der Kläger sei somit einer unmittelbaren individuellen Verfolgung durch nicht staatliche Akteure ausgesetzt gewesen. Eine inländische Fluchtalternative sei für den Kläger offensichtlich nicht gegeben. Zwar habe dessen Ehefrau verwandtschaftliche Beziehungen in Kabul, diese könnten jedoch nur mit Mühe ihr eigenes Existenzminimum sicherstellen. Der Kläger müsse bei einer Rückkehr nach Kabul seine gesamte Familie ernähren, was unmöglich sei.

Die Beklagte beantragte,

die Klage abzuweisen.

Der Vertreter des öffentlichen Interesses äußerte sich nicht.

Mit Beschluss vom 27. Januar 2012 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Verschiedene Erkenntnismaterialien wurden zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.

Mit Beschluss vom 30. Januar 2012 lehnte das Gericht den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab.

Im Übrigen wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 29. Februar 2012, auf das weitere schriftsätzliche Vorbringen der Beteiligten, auf den Inhalt der einschlägigen Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie auf die Niederschrift über die Anhörung der Ehefrau des Klägers vom 5. April 2011 Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage, über die auch in Abwesenheit von Beteiligten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet. Der angegriffene Bescheid des Bundesamtes vom 5. August 2011 ist rechtmäßig; dem Kläger stehen die geltend gemachten Ansprüche nicht zu (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Dem Kläger kann die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden.

Rechtsgrundlage für die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylVfG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Abs. 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist Flüchtling in diesem Sinn, wenn er gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK –) in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG genannten Bedrohungen ausgesetzt ist. Hiernach darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Mit dieser Regelung wurde die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie – QRL –) umgesetzt. Nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG kann eine Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen. Hierbei kann es sich auch um Organisationen ohne Gebietsgewalt, Gruppen oder auch Einzelpersonen handeln, von denen eine Verfolgung i.S. des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ausgeht.

Gemessen an diesen Maßstäben hat die Klagepartei vor ihrer Ausreise keine solche Verfolgung erlitten, insbesondere befindet sie sich nicht in asylerheblicher Weise aus Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb ihres Heimatlandes.

Auf der Grundlage des klägerischen Vortrags geht das Gericht davon aus, dass der Kläger nicht durch die Arbaki Group verfolgt worden ist. Hierbei handelt es sich um eine Stammesmiliz, die in Teilen Afghanistans tätig ist. Denn der Kläger hat die Verbindungen seiner Cousins zur Arbaki Group nicht glaubhaft machen können; insbesondere ist nicht erkennbar, dass die geschilderte Erpressung von der Arbaki Group ausgeht. Vielmehr hat der Kläger dargelegt, seine Cousins hätten aus Geldnot gehandelt, die auf Spielschulden basiere. Zudem hat er in seinen Schilderungen nicht dargetan, dass auch noch andere Personen, die der Arbaki Group angehörten, an den Aktionen gegen ihn und seine Familie beteiligt gewesen seien. Hieraus ergibt sich, dass die geschilderten Verfolgungshandlungen nicht der Arbaki Group zuzuordnen sind. Ein möglicher familiärer Konflikt unterfällt nicht dem § 60 Abs. 1 AufenthG.

Kann der Schutzsuchende kein Bleiberecht auf der Grundlage von Art. 16a GG oder § 60 Abs. 1 AufenthG finden, sind hilfsweise geltend gemachte Abschiebungsverbote zu prüfen. Hierbei ist in erster Linie der subsidiäre Schutz auf der Grundlage der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 304 v. 30.09.2004, S. 2 – 2, ABl. L 304 v. 30.09.2004, S. 12 – 23) – Qualifikationsrichtlinie (QRL) – zu überprüfen. Die diesbezüglichen Inhalte der Qualifikationsrichtlinie wurden mit den Vorschriften des § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 25. Februar 2008 (BGBl. I, S. 162), zuletzt geändert durch Art. 4 Abs. 5 des Gesetzes vom 30. Juli 2009 (BGBl. I, S. 2437) – Aufenthaltsgesetz (AufenthG) – ins nationale Recht umgesetzt.

Nach § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Der Wortlaut dieser Vorschrift entspricht vollständig Art. 3 EMRK und teilweise dem früheren § 53 AuslG; deshalb kann zur Auslegung auf die diesbezügliche Rechtsprechung und Literatur verwiesen werden (Hailbronner, Ausländerrecht, § 60 AufenthG, RdNr. 107). Es müssen konkrete Anhaltspunkte oder stichhaltige Gründe dafür geltend gemacht werden, dass der Schutzsuchende im Fall seiner Abschiebung einem echten Risiko oder einer ernsthaften Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre (Hailbronner, a.a.O., § 60 AufenthG, RdNr. 108). Hierbei ist ein besonderer Schweregrad und ein Element der Menschenwürdeverletzung erforderlich, um die Behandlung als unmenschlich im Sinne der Vorschrift zu qualifizieren (Hailbronner, a.a.O., § 60 AufenthG, RdNr. 111).

Zwar geht das Gericht davon aus, dass es sich bei dem Vorbringen des Klägers hinsichtlich der Erpressungshandlungen seiner Cousins um einen tatsächlich erlebten Sachverhalt handeln könnte. Aber selbst wenn dies so wäre, wäre der Kläger bei einer Rückkehr nach Kunduz nicht in der Gefahr einer erneuten Erpressung. Dies ergibt sich daraus, dass die Cousins gemäß dem klägerischen Vortrag darauf aus waren, Geld zur Begleichung ihrer Spielschulden zu erhalten; eine anderweitige Motivation hat er nicht dargelegt. De Kläger hat jedoch erläutert, er habe sein Haus und sein Grundstück verkauft, um die Ausreise zu finanzieren. Hieraus folgt, dass beim Kläger nach einer Rückkehr nach Afghanistan nichts mehr zu holen ist. Jeglicher Erpressungsversuch mit dem Ziel, größere Geldbeträge zu erhalten, ist damit von vornherein zwecklos. Deswegen sind erneute Erpressungshandlungen durch die Cousins ausgeschlossen. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass nach den Angaben des Klägers die Cousins zunächst versucht haben, Geld bei deren Mutter zu erpressen. Nachdem diese ihr Grundstück verkauft und das Geld anderweitig verwendet hat, haben die Cousins ihre Zielrichtung geändert. Dies ist ein zusätzlicher Beleg dafür, dass auch der Kläger in Zukunft von den Cousins nicht mehr behelligt werden wird. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG sind damit nicht gegeben.

Nach § 60 Abs. 3 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, wenn dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe besteht. Hier müssen ernsthafte Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Schutzsuchende konkret wegen einer Straftat gesucht wird, derentwegen individuell die Todesstrafe verhängt werden kann (Hailbronner, a.a.O., § 60 AufenthG, RdNr. 137). Hierfür bestehen im vorliegenden Fall keinerlei Anhaltspunkte.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Diese Vorschrift ist in Umsetzung von § 15c QRL geschaffen worden. Die Tatbestandsvoraussetzung von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist daher im Licht des Art. 15c QRL zu sehen, wonach als ernsthafter Schaden eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gilt. Die Regelung umfasst also subsidiäre Schutzgewährung in Fällen willkürlicher Gewalt im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten, nicht dagegen aber aus anderen Gründen wie z.B. krankheitsbezogenen Abschiebungshindernissen oder allgemeinen wirtschaftlichen Notlagen im Herkunftsland, die nicht auf einem bewaffneten Konflikt beruhen.

Ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt liegt jedenfalls dann vor, wenn bewaffnete Konflikte im Hoheitsgebiet eines Staates zwischen dessen Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten Gruppen stattfinden, die unter verantwortlicher Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebietes des Staates ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen können. Demgegenüber liegt ein Konflikt i.S. des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht vor bei Fällen innerer Unruhen oder Spannungen wie Tumulte oder vereinzelt auftretende Gewalttaten. Für die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegenden Konflikte ist die Annahme eines Konflikts i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht von vornherein ausgeschlossen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerilla-Kämpfe. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein gewisses Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen (vgl. zur gesamten Problematik: BVerwGE 136, 360 m.w.N.).

Im Rahmen eines derartigen Konflikts muss für den Schutzsuchenden eine erhebliche individuelle Gefahr infolge willkürlicher Gewalt bestehen. Hierbei ist zu prüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende und damit allgemeine Gefahr in der Person des Schutzsuchenden so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG darstellt. Denn normalerweise hat ein derartiger bewaffneter Konflikt nicht eine solche Gefahrendichte, dass alle Bewohner des betroffenen Gebiets ernsthaft persönlich betroffen sein werden. Allerdings kann der bewaffnete Konflikt ein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land/die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dies bleibt allerdings außergewöhnlichen Situationen vorbehalten, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind (BVerwG v. 24.06.2008 Az. 10 C 43.07 <juris>; Gerichtshof der Europäischen Union vom 17.02.2009 Az. RS C-465/07, Elgafaji, ABL EU 2009, Nr. C 90,4). Liegen demgegenüber Gefahr erhöhende persönliche Umstände vor, die den Schutzsuchenden von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffenen erscheinen lassen, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt. Solche persönlichen Umstände können sich z.B. aus dem Beruf des Schutzsuchenden als Arzt oder Journalist ergeben, ebenso aber aus seiner religiösen und ethnischen Zugehörigkeit, aufgrund derer der Schutzsuchende zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten ausgesetzt ist. Hierbei ist jedenfalls annäherungsweise eine quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betroffenen Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Anzahl der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die gegen Leib oder Leben der Zivilpersonen verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung erforderlich (BVerwG v. 27.04.2010 a.a.O. RdNr. 33).

Im Rahmen der Prüfung des § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist die Anwendung der Beweiserleichterung des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 QRL in Erwägung zu ziehen. Hierbei handelt es sich um eine widerlegliche gesetzliche Vermutung. Sie greift dann ein, wenn der Schutzsuchende im Herkunftsland im Zusammenhang mit der Begründung des nunmehrigen Schutzbegehrens bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder unmittelbar davon bedroht gewesen ist. Dabei kommt es auf einen inneren Zusammenhang zwischen der Schädigung und der Ausreise an (BVerwG v. 27.04.2010 a.a.O. RdNr. 27). Etwas anderes gilt nur, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Schutzsuchende erneut von einem Schaden bedroht wird.

Schutz auf Grundlage des § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG kann allerdings nicht gewährt werden, wenn für den Schutzsuchenden in einem Teil des Herkunftslandes keine tatsächliche Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden und dieser auf eine landesinterne Schutzalternative verwiesen werden kann. Dies ergibt sich aus § 60 Abs. 11 AufenthG, der im Rahmen des § 60 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG die Vorschrift des Art. 8 QRL für anwendbar erklärt.

Demgegenüber kommt die in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG getroffene Regelung, die den schutzsuchenden Ausländer im Fall allgemeiner Gefahren auf die Aussetzung von Abschiebungen durch ausländerbehördliche Erlasse verweist, in richtlinienkonformer Auslegung im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht zur Anwendung (BayVGH v. 03.02.2011 Az. 13a B 10.30394 RdNr. 18 <juris>).

Wie oben dargelegt, liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 und zudem des § 60 Abs. 3 AufenthG nicht vor. Aber auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG sind nicht gegeben.

Nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (vom 28.10.2009, 27.07.2010 und 09.02.2011) finden in weiten Teilen des Landes mit Schwerpunkt Süden, Südwesten, Südosten, Osten und Teilen des Nordens gewalttätige Auseinandersetzungen statt. Die Lage ist weder sicher noch stabil. In den letzten Jahren war ein deutlicher Anstieg sicherheitsrelevanter Zwischenfälle zu verzeichnen, wobei im Bericht vom 9. Februar 2011 von diesbezüglichen Anzeichen für eine Trendwende berichtet wird. Die Sicherheitslage wird in den einzelnen Regionen unterschiedlich dargestellt. Dem Raum Kabul wird eine diesbezügliche Verbesserung bescheinigt; im Süden und Südosten, insbesondere in den Regionen Helmand, Kandahar, Uruzgan, Kunar, Nuristan und Khost ereignen sich vielfach Kämpfe. Gleichwohl sieht das Auswärtige Amt Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Der Westen und der Norden des Landes sind vergleichsweise ruhig. Einer möglichen Gefährdung können nur diejenigen Personen ausweichen, die andernorts entsprechend familiär und sozial vernetzt sind.

Der UNHCR fordert subsidiären Schutz für Personen aus Gegenden, in denen verschiedene Ausprägungen willkürlicher Gewalt anzutreffen sind. Verschiedene im Einzelnen genannte Provinzen werden als unsicher eingestuft (Bericht vom 06.10.2008). In der Stellungnahme vom 30. November 2009 an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof mit Anlage wird von einem sich intensivierenden bewaffneten Konflikt mit damit einhergehenden schwerwiegenden und weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen berichtet. Im Jahr 2008 und bis zum Mai 2009 stieg die Anzahl ziviler Opfer deutlich an. Der Süden und Südosten ist am stärksten von schweren Kämpfen betroffen. Besonderer Schutzbedarf ist bei verschiedenen im Einzelnen genannten Gruppen anzunehmen.

Amnesty International (Report 2011 und 2010) berichtet von bewaffneten Auseinandersetzungen und damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen zunehmend im gesamten Land. Die Zahl der von aufständischen Gruppen getöteten Zivilpersonen hat deutlich zugenommen. Gemäß der Auskunft an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof (vom 20.12.2010) hat sich die Sicherheitslage landesweit erneut dramatisch verschlechtert.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Updates vom 21.08.2008, 26.02.2009, 11.08.2009, 06.10.2009, 11.08.2010 und 23.08.2011) berichtet von einer dramatischen Verschlechterung der Sicherheitslage in 2010 und 2011 im ganzen Land, insbesondere im Süden. Helmand, Kandahar, Kunar und Teile von Ghazni und Khost werden als Gebiete genereller Gewalt eingestuft. Viele im Einzelnen genannten Gruppen sind besonders gefährdet. Hierzu gehören z.B. Frauen, Kinder, Lehrer, Regierungsbeamte, Sicherheitskräfte und Angehörige ethnischer Minderheiten.

Nach dem Bericht von D-A-CH Kooperation Asylwesen vom 21. März 2011 ist die Sicherheitslage regional sehr unterschiedlich. Neben Gebieten mit hohen Anschlagszahlen befinden sich Gebiete, in denen es kaum zu Gewalt kommt.

UNAMA gibt in Halbjahresberichten und Jahresberichten (Afghanistan Midyear Report 7/2009, 8/2010, 7/2011; Annual Report 1/2009, 1/2010, 3/2011) die Anzahl der getöteten und verletzten Zivilisten an. Hierbei ist eine deutliche Steigerung im Verlauf der letzten zwei Jahre zu verzeichnen.

Das ANSO stellt in vierteljährlichen Berichten (zuletzt 1/2011 und 2/2011) die Entwicklung des Konflikts dar und beurteilt die Sicherheitslage in den afghanischen Provinzen auf einer fünfstufigen Skala von low insecurity bis extremly insecure. Insbesondere zwölf verschiedene Provinzen im Süden, Südosten und Osten des Landes werden als extremly insecure beurteilt, während es im Jahr 2009 noch sechs waren.

Dr. M… D… berichtet in seinen Stellungnahmen an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof (vom 23.01.2006, 04.12.2006, 03.12.2008 und 07.10.2010) von im Einzelnen genannten Anschlägen von Taliban-Kämpfern in Kabul und von besonders schweren bewaffneten Konflikten in der Provinz Logar, bei denen viele Zivilisten ums Leben kommen.

Die Bewertung dieser Auskunftslage ergibt, dass in erheblichen Teilen Afghanistans von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ausgegangen werden muss. Die in diesem Rahmen stattfindenden Auseinandersetzungen sind als willkürliche Gewalt einzustufen. Hierbei ist es unerheblich, wie dieser Begriff zu verstehen ist (vgl. BVerwG vom 24.06.2008 Az. 10 C 43/07 <juris>, RdNr. 36; EuGH vom 17.02.2009 Az. Rs C-465/07 Abl. EU vom 18.04.2009 C 90/4 RdNr. 35). Einerseits wird er verstanden als nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterscheidende unterschiedslose Angriffe sowie als Anschläge, die nicht auf die bekämpfte Konfliktpartei gerichtet sind, sondern die Zivilbevölkerung treffen sollen, ferner als Gewaltakte, bei denen die Mittel und Methoden in unverhältnismäßiger Weise die Zivilbevölkerung treffen. Nach anderer Ansicht soll das Merkmal der willkürlichen Gewalt definiert werden als wahllos stattfindende Gewalt gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität.

Wie die genannten Auskünfte ergeben, halten sich die Konfliktparteien mit Ausnahme der internationalen Truppen nicht an die Regeln des humanitären Völkerrechts. Sie unterscheiden nicht zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten. Die unterschiedlichen Milizen sowie die Taliban suchen gerade nicht den Kampf mit den regulären Truppen. Vielmehr agieren sie z.B. mit Sprengstoffanschlägen gerade gegen die Zivilbevölkerung, um hier ihre Opfer zu finden. Zudem tarnen sie sich als Zivilisten und provozieren hierdurch Angriffe der Gegenseite, die als Folge auch Unschuldige treffen. Damit liegen unterschiedslose Angriffe vor. Die fehlende Zielgerichtetheit der Angriffe ergibt sich daraus, dass gerade Angriffe auf Zivilpersonen und humanitäre Organisationen ein allgemeines Klima der Angst hervorrufen sollen. Hierzu werden Attentate eingesetzt, die möglichst viele Opfer zur Folge haben sollen.

Allerdings ist die Lage hinsichtlich der unterschiedlichen Provinzen differenziert zu sehen. Nicht in allen Teilen Afghanistans ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in diesem Sinne auszugehen, bei denen wahllos stattfindende Gewalt insbesondere die Zivilbevölkerung stark in Mitleidenschaft zieht (bejahend: HessVGH vom 11.12.2008 Az. 8 A 611/08.A <juris> für die Provinz Paktia; VG Kassel vom 01.07.2009 Az. 3 K 206/09.KS.A <juris> für den Süden und Südosten des Landes; VG Ansbach vom 03.03.2011 Az. AN 11 K 10.30505 <juris> für die Provinz Helmand; VG Augsburg vom 10.06.20011 Az. AU 6 K 10.30644 <juris> für die Provinz Kandahar; VG Gießen vom 20.06.2011 Az. 2 K 499/11.GI.A, Asylmagazin 2011, 235 insbesondere für die Provinz Maidan-Wardak, aber auch allgemein für das ganze Land; verneinend: VG Osnabrück vom 16.06.2009 Az. 5 A 48/09 <juris> für die Stadt Herat; VG Kassel vom 01.07.2009 Az. 3 K 206/09.KS.A <juris> für den Großraum Kabul; VG des Saarlandes vom 26.11.2009 Az. 5 K 623/08 <juris> für den Großraum Kabul; VG Ansbach vom 16.12.2009 Az. AN 11 K 09.30327 <juris> für Stadt und Distrikt Kabul; VG Regensburg vom 15.04.2010 Az. RN 9 K 09.30075 <juris> ohne regionale Differenzierung; BayVGH vom 03.02.2011 Az. 13a B 10.30394 <juris> für die Provinzen Parwan und Kabul; VG Augsburg vom 24.02.2011 Az. AU 6 K 09.30134 <juris> für den Großraum Kabul; VG Ansbach vom 04.08.2011 Az. AN 11 K 11.30262 <juris> für die Provinz Herat).

Aus dem Quarterly Data Report des Afghanistan NGO Safety Office (ANSO) ergibt sich, dass die Sicherheitslage in der Provinz Kunduz vergleichsweise gut ist. Aus den Berichten Q.1 2011, Q.2 2011, Q.3 2011 und Q.4 2011 ergibt sich die Einstufung der Provinz Kunduz in einer fünfstufigen Gefährdungsskala auf der mittleren Stufe, die mit „moderatly insecure“ bzw. „insecure“ bezeichnet ist. Im Vergleich der ersten Quartale der Jahre 2010 und 2011 sind die Anzahl der Vorfälle (attacks) von 79 auf 46 und damit um 42 % zurückgegangen. Im Vergleich der zweiten Quartale der Jahre 2009 und 2011 ergibt sich eine leichte Steigerung von 96 auf 108 bewaffnete Angriffe. Im gesamten Jahr 2011 kam es zu 205 bewaffneten Angriffen gegenüber insgesamt 355 im Jahr 2010, was eine Reduktion um 42 % bedeutet. Hinzu kommt, dass die Provinz Kunduz von Provinzen umgeben ist, deren Gefährdungsrisiko noch deutlich geringer ist. Bei insgesamt etwa 980.000 Einwohnern in der Provinz Kunduz muss davon ausgegangen werden, dass in der Provinz Kunduz kein bewaffneter innerstaatlicher Konflikt herrscht, der den Kläger an einer Rückkehr hindern könnte, auch wenn dies mit seiner Familie geschieht.

Kann der Schutzsuchende auf der Ebene der europarechtlichen Abschiebungsverbote keinen subsidiären Schutz erlangen, sind weiter hilfsweise die nationalen Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 5 AufenthG und des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu prüfen (BVerwGE 136, 360).

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Diese Vorschrift verweist auf die EMRK, soweit sich aus dieser zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse ergeben (Hailbronner, a.a.O., § 60 AufenthG, RdNr. 145).

Vorliegend ist nicht erkennbar, welches – nicht bereits bei der vorrangigen Prüfung zu berücksichtigende – Recht der EMRK im vorliegenden Fall ein Abschiebungshindernis begründen soll.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Allerdings sind nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG derartige Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen.

Dies bedeutet, dass auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG der Schutzsuchende lediglich individuelle, nur ihm drohende Gefahren geltend machen kann (BVerwG v. 29.06.2010 NVwZ 2011, 48). Beruft er sich auf allgemeine Gefahren außerhalb bewaffneter Konflikte, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der er angehört, allgemein ausgesetzt ist, kann dies ausschließlich bei Anordnungen nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG berücksichtigt werden. Die Anordnung eines solchen Abschiebestopps besteht derzeit für die Personengruppe, der die Klagepartei angehört, nicht.

Allerdings ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Einzelfall Ausländern, die einer gefährdeten Gruppe i.S. des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG angehören, für welche ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist der Fall, wenn der Schutzsuchende gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden würde (BVerwGE 99, 324; 102, 249; 108, 77; 114, 379). Nur dann gebieten die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG – als Ausdruck eines menschenrechtlichen Mindeststandards –, jedem betroffenen Ausländer trotz des Fehlens einer Ermessensentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 3, § 60a Abs. 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (BayVGH v. 03.02.2011 Az. 13a B 10.30394 RdNr. 28 <juris>). Anderweitiger Schutz vor Abschiebung kann allerdings die Anwendung dieser Grundsätze dann ausschließen, wenn er dem Schutz des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gleichwertig ist (BayVGH a.a.O. RdNr. 29).

Wann eine allgemeine Gefahr sich zu einer extremen Gefahr verdichtet und somit zu einem Abschiebungsverbot im dargestellten Sinne führt, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Schutzsuchenden daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Auch müssen sich die Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Schutzsuchende mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (BVerwG v. 29.06.2010 NVwZ 2011, 48).

Im vorliegenden Fall hat der Kläger keine individuelle, nur ihm drohende Gefahr geltend gemacht. Aber auch eine allgemeine Gefahr außerhalb bewaffneter Konflikte, die für den Kläger zu einer extremen Gefahrenlage führen könnte, ist nicht erkennbar.

Nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (vom 28.10.2009, 27.07.2010 und 09.02.2011) führt die verbreitete Armut landesweit vielfach zu Mangelernährung, auch wenn die Ernten 2009 und 2010 besser ausgefallen sind als im Jahr 2008. In den Städten ist die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen schwierig. Die medizinische Versorgung ist unzureichend. Die soziale Absicherung liegt traditionell bei den Familien und Stammesverbänden. Die für eine geordnete Rückkehr der Flüchtlinge angelegten so genannten townships sind für eine permanente Ansiedlung kaum geeignet.

Hinsichtlich der medizinischen Versorgung berichtet die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland (Auskunft vom 29.04.2009 an VG Hamburg), dass diese in den ländlichen Gebieten oftmals nicht gewährleistet ist, während sich die Lage in größeren Städten verbessert. Die kostenlose Medikamentenversorgung ist sehr eingeschränkt.

Nach der Auskunft des UNHCR (vom 30.11.2009 an den BayVGH) bilden die Familien- und Gesellschaftsstrukturen den vorwiegenden Schutzmechanismus. Hierauf sind die Afghanen angewiesen. Eine Ansiedlung ist nur denkbar, wenn entsprechender Schutz durch die eigene erweiterte Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm gewährleistet ist. Ein starker Anstieg der Lebensmittelpreise und Arbeitslosigkeit stellen vor allem für gering Qualifizierte ein Problem dar, eine Existenz aufzubauen. Hinzu kommen Knappheit an Lebensmitteln, ein mangelhaftes Gesundheitssystem und in Kabul die extrem hohen Wohnungskosten. Rückkehrer aus westlichen Staaten können wegen ihrer westlichen Lebensweise in erhöhtem Maße gefährdet sein.

Nach den Updates der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (21.08.2008, 26.02.2009, 11.08.2009, 06.10.2009, 11.08.2010 und 23.08.2011) können wegen der weit verbreiteten Arbeitslosigkeit viele Menschen nicht für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Wohnungsknappheit, fehlender Zugang zu Trinkwasser und zu medizinischer Versorgung erschweren die Lage. Ohne eine Familien- und Gemeinschaftsstruktur als wichtigstes Netz für Sicherheit und das ökonomische Überleben ist eine Existenz kaum möglich.

Dr. M… D… berichtet in seinen Stellungnahmen an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof (vom 23.01.2006, 04.12.2006, 03.12.2008 und 07.10.2010), dass alleinstehende Rückkehrer in Afghanistan keinerlei Aussicht haben, sich aus eigener Kraft eine Existenz zu schaffen. Insbesondere ältere Männer (ab 40 Jahre) haben keinerlei Chance auf einen Arbeitsplatz. Ein soziales Netz in Form der Großfamilie ist überlebensnotwendig. Weiterhin beschreibt Dr. D… Lebensmittelknappheit.

P… R… (Stellungnahme vom 15.01.2008 an OVG Rheinland-Pfalz) berichtet, dass offene Arbeitsstellen meist Kräften mit höherer Schulbildung vorbehalten sind. Einfachere Arbeiten werden aufgrund persönlicher Kontakte vergeben. Alleinstehende, arbeitsfähige, wenig qualifizierte männliche Afghanen ohne Verwandte haben nur geringe Chancen auf eine dauerhafte Erwerbsmöglichkeit. Damit können auch Unterkunft und Lebensunterhalt nicht gesichert werden.

Dem entspricht die Stellungnahme von Dr. B… G… (vom 31.01.2008 an das OVG Rheinland-Pfalz), der die Gefahr für Rückkehrer, wegen der schlechten Versorgungs- und Erwerbsmöglichkeiten in Kabul das zum Leben Notwendige nicht zu erlangen, als sehr hoch einschätzt. Außerhalb Kabuls ist die Arbeitsmarktsituation hiernach noch ungünstiger.

Die Bewertung dieser Auskünfte durch die Gerichte ist unterschiedlich (vgl. statt vieler z.B. VG Sigmaringen vom 16.03.2006 Az. A 2 K 10668/05 <juris>; VG München vom 16.10.2007 Az. M 23 K 06.51077 <juris>; VG des Saarlandes vom 26.11.2009 Az. 5 K 623/08 <juris>; VG Ansbach vom 04.08.2011 Az. AN 11 K 11.30262 <juris>; VG Augsburg vom 05.04.2011 Az. AU 6 K 10.30152 <juris>; BayVGH vom 03.02.2011 Az. 13a B 10.30394 <juris> jeweils m.w.N.).

Auf dieser Grundlage gelangt das Gericht zu der Erkenntnis, dass Personen ohne familiäre oder verwandtschaftliche Strukturen bzw. ohne soziales Netzwerk und mit besonderem Schutzbedarf wie z.B. ältere oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kindern, Familien und Personen mit besonderen ethischen oder religiösen Merkmalen keine Möglichkeit haben, sich in Afghanistan eine neue Existenz aufzubauen.

Demgegenüber haben alleinstehende, junge, arbeitsfähige Männer aus der Bevölkerungsmehrheit ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen, die mit den lokalen Verhältnissen vertraut sind oder über familiäre bzw. soziale Netzwerke verfügen oder ausgeprägte berufsbezogene Fähigkeiten besitzen, zumindest die Möglichkeit, sich eine neue Existenz aufzubauen.

Das Gericht verkennt nicht, dass die Situation für alleinstehende, junge, arbeitsfähige Männer ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen, die mit den lokalen Verhältnissen nicht vertraut sind, die über kein familiäres oder soziales Netzwerk verfügen und keine ausgeprägten berufsbezogenen Fähigkeiten besitzen, sehr kritisch ist. Allerdings ist der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (vom 03.02.2011 Az. 13a B 10.30394 <juris>) der Meinung, dass nicht davon auszugehen ist, dass derartige Personen mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine derart extreme Gefahrenlage geraten würden, dass eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar wäre. Zweifellos sei von einer äußerst schlechten Versorgungslage in Afghanistan auszugehen. Im Wege einer Gesamtgefahrenschau nimmt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof jedoch nicht an, dass derartigen Personen bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohte oder sie alsbald schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätten.

Dieser Rechtsprechung folgend muss davon ausgegangen werden, dass ein junger, gesunder, lediger Afghane ohne gesundheitliche Einschränkungen, ohne familiäre Bindungen bzw. ohne soziales Netzwerk, ohne nennenswertes Vermögen und ohne abgeschlossene Berufsausbildung in seinem Heimatland in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten etwa in Kabul wenigstens ein kümmerliches Einkommen zu erzielen, damit ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren (BayVGH, a.a.O., RdNr. 37; vgl. auch BayVGH vom 17.11.2011 Az. 13 AZB 11.30158: Zulassung der Berufung wegen Abweichung vom vorgenannten Urteil).

Für den vorliegenden Fall bedeute dies, dass der Kläger als noch nicht alter 33-jähriger Mann mit familiären Strukturen im Hintergrund nach Kunduz zurückkehren kann mit der Aussicht, dort Wohnung und Arbeit zu finden, die ihm eine - wenn auch minimale - Existenzgrundlage sichern. Dies gilt auch unter der Voraussetzung, dass er gemeinsam mit seiner Familie nach Kunduz zurückkehrt. Aber auch eine Rückkehr nach Kabul ist nicht ausgeschlossen, denn auch dort kann die Familie auf die entsprechenden familiären Strukturen der Ehefrau des Klägers zurückgreifen, wie sich aus den beigezogenen Niederschriften über die Befragungen der Ehefrau des Klägers ergibt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es nicht darauf ankommt, ob die jeweilige Verwandtschaft finanziell in der Lage ist, den Kläger zu unterstützen oder ihm mit seiner Familie Wohnung zu gewähren; vielmehr kommt es darauf an, dass der Kläger auf der Grundlage dieser familiären Strukturen in die Lage versetzt wird, selber Wohnung und Arbeit zu finden, um das erforderliche Existenzminimum zu erlangen. Da der Kläger nicht nur angegeben hat, Landwirt zu sein, sondern auch als Fahrer gearbeitet zu haben, kann davon ausgegangen werden, dass er mit Hilfe seiner Verwandtschaft eine hinreichende Arbeit findet.

Die vom Bundesamt verfügte Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung ist nicht zu beanstanden. Die betreffende Entscheidung beruht auf § 34 Abs. 1 AsylVfG, § 59 Abs. 1 bis Abs. 3 AufenthG, § 38 Abs. 1 AsylVfG. Die Voraussetzungen dieser Vorschriften liegen vor. Die Bezeichnung des Abschiebezielstaates im Bescheid des Bundesamtes genügt den Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen (BayVGH v. 10.01.2000 Az. 19 ZB 99.33208 <juris>). Es bleibt Sache der für eine Abschiebung zuständigen Behörde, unter Beachtung der im Asylverfahren gewonnenen Erkenntnisse sicherzustellen, dass die Klagepartei nicht in für sie gefährliche Gebiete des Zielstaates abgeschoben wird.

Aus alledem ergibt sich, dass der angegriffene Bescheid des Bundesamtes vom 5. August 2011 rechtmäßig ist. Dem Kläger stehen die geltend gemachten Ansprüche nicht zu (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO), so dass die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG abzuweisen war.

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