Bayerischer VGH, Beschluss vom 24.11.2011 - 12 ZB 11.1701
Fundstelle
openJur 2012, 118936
  • Rkr:
Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 31. Mai 2011 ist statthaft und auch im Übrigen zulässig (§ 124 a Abs. 4 VwGO).

Er ist aber unbegründet, weil die vom Kläger geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache, der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, der Divergenz und des Vorliegens von Verfahrensfehlern, auf deren Prüfung der Senat an sich beschränkt ist (§ 124 a Abs. 5 Satz 2 VwGO), nicht hinreichend dargelegt worden sind und – unabhängig hiervon – in der Sache auch nicht vorliegen.

1.1 Der Zulassungsantrag des Klägers hat bereits deswegen keinen Erfolg, weil Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 VwGO nicht hinreichend im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt worden sind. Dieses Gebot der Darlegung der Zulassungsgründe erfordert eine zumindest ansatzweise substanzielle Erörterung des in Anspruch genommenen Zulassungsgrundes (zu alledem Happ in Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 124a RdNr. 59 unter Hinweis auf BVerfG NVwZ 2001, 552). An einer solchen Darlegung fehlt es hier auch nicht etwa deshalb, weil der Kläger das Darlegungsgebot übersehen oder die Frist dazu versäumt hat. Vielmehr macht sein Prozessbevollmächtigter geltend, er könne zu der Angelegenheit nichts Weiteres ausführen, weil ihm die Einsichtnahme in die streitgegenständlichen Akten versagt worden sei.

Das ist hier aber nicht der Fall. Dem Bevollmächtigten wurde die Akteneinsicht nicht verweigert, er hat davon nur keinen Gebrauch gemacht. Insbesondere hat er nicht das Zumutbare unternommen, um Akteneinsicht zu nehmen.

Auf seinen Antrag auf Akteneinsicht vom 20. Juli 2011, eingegangen beim Verwaltungsgerichtshof am 26. Juli 2011, hin wurden die Akten mit Verfügung vom 26. Juli 2011 zur Einsichtnahme durch den Klägerbevollmächtigten an das Verwaltungsgericht Darmstadt versandt. Hierüber wurde der Bevollmächtigte mit Schreiben vom 28. Juli 2011 informiert. Eine Übersendung der Akten an die Kanzlei des Bevollmächtigten – wie beantragt – ist seinerzeit nicht erfolgt, weil der Senat Jugendamtsakten regelmäßig nur dann an Kanzleien versendet, wenn auch nur ansatzweise dafür ein Grund geltend gemacht worden ist, die Kanzlei aufgrund bisheriger Verfahren hinreichend zuverlässig erscheint oder aber die Einsichtnahme in den Kanzleiräumen aus anderen Gründen als gerechtfertigt erscheint (vgl. dazu Geiger in Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 100 RdNr. 12; enger noch BayVGH vom 28.7.2005 Az. 24 ZB 05.1348). Ein Grund für die Versendung der nicht umfangreichen Akten – die Behördenakten umfassen 33 Seiten, und die Gerichtsakten bestehen im Wesentlichen aus den gewechselten Schriftsätzen – an die Kanzlei wurde vom Prozessbevollmächtigten nicht angegeben und war auch sonst nicht ersichtlich. Eine hinreichende Zuverlässigkeit war aus dem vorausgehenden Verfahren (Az. 12 B 07.280) und aufgrund der Angaben im Schreiben vom 4. Februar 2011 sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht zu den Fehlern in den Kanzleiabläufen und der Umwandlung der Sozietät in eine Bürogemeinschaft und die bevorstehende Verlegung des Kanzleisitzes nicht zwingend anzunehmen.

Nachdem das Verwaltungsgericht unter Vorlage des Telefaxes des Bevollmächtigten vom 3. August 2011 mitgeteilt hat, dass mehrere Versuche, den Prozessbevollmächtigten des Klägers telefonisch wegen der Akteneinsicht zu kontaktieren, gescheitert seien, wurde um Rückgabe der Akten an den Verwaltungsgerichtshof für den Fall gebeten, falls der Bevollmächtigte keine Einsicht nehme. In dem beigelegten Telefax des Bevollmächtigten ist ausgeführt, dass „von der Anforderung der Verwaltungsakten (Anm.: das sind die Jugendamtsakten) und der Gerichtsakten des zuvorigen Rechtszuges“ (Anm.: das sind die Akten des Verwaltungsgerichts) im Interesse der Mandantschaft abgesehen werde. Dem Wortlaut dieses Schreibens folgend beschränkte sich der Antrag des Bevollmächtigten damit letztlich auf die beim Senat geführte Verfahrensakte.

Die Akten sind beim Verwaltungsgerichtshof am 8. August 2011 wieder eingetroffen. Mit Schreiben vom selben Tag, das wegen eines Schreibversehens das Datum 8. Juli 2011 trägt, abgesandt am 9. August 2011, wurde dem Bevollmächtigten die Sach- und Rechtslage erläutert unter anderem mit dem Hinweis, dass die von ihm beantragt „1:1 Ablichtung“ der vollständigen Verwaltungsgerichtsakten und der des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes nach alledem rechtsmissbräuchlich erscheine (vgl. dazu Geiger a.a.O. § 100 RdNr. 10 mit Hinweis auf OVG Hamburg NVwZ-RR 1996, 304), unter anderem auch deswegen, weil etwa die beim Verwaltungsgerichtshof geführte Akte neben seinem Schreiben nebst Anlagen kaum Wesentliches für die hier zu treffende Entscheidung im Zulassungsverfahren enthalte.

Der Bevollmächtigte hat sich dann nicht weiter um die Akteneinsicht bemüht. Vielmehr hat er am letzten Tag der aus seiner Sicht offenen Frist in der Begründung zum Zulassungsantrag vom 22. August 2011 lediglich noch geltend gemacht, der Kläger sei zwischenzeitlich volljährig geworden, deshalb habe das Urteil nicht „gegen die Eltern des jungen Menschen“ ergehen dürfen. Im Übrigen sei ihm das Schreiben vom 8. Juli (richtig: August) 2011 erst am 15. August 2011 zugegangen. Das Verwaltungsgericht Darmstadt sei von seiner Kanzlei 34 km entfernt. Die Verfahrensweise sei rechtswidrig und gehörverletzend, weshalb er seine Zulassungsgründe nicht weiter ausführen müsse.

1.2 Unabhängig von den Anforderungen des Darlegungsgebotes ist der Zulassungsantrag aber auch deshalb abzulehnen, weil keiner der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Zulassungsgründe in der Sache greift.

1.2.1 Es bestehen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

Solche ernstlichen Zweifel bestehen etwa dann, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG vom 26.3.2007 BayVBl 2007, 624 und vom 23.6.2000 NVwZ 2000, 1363) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (so BVerwG vom 10.3.2004 DVBl 2004, 838). Das ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was der Kläger innerhalb der Begründungsfrist für den Zulassungsantrag dargelegt hat (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).

An der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts ergeben sich auch ansatzweise keine Zweifel, denn das Verwaltungsgericht hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass das handelnde Jugendamt entsprechend dem Verbescheidungsausspruch in der Senatsentscheidung vom 30. Januar 2008 (Az. 12 B 07.280) verfahren ist, als sie in der Erziehungskonferenz vom 19. Dezember 2008 unter Berücksichtigung aller seinerzeit zugänglichen Erkenntnisquellen und der Forderung nach abschnittsweiser Betrachtung die Unterbringung des Klägers im nunmehr streitgegenständlichen Zeitraum ab dem 1. September 2005 nicht als die allein geeignete Maßnahme nach § 35a SGB VIII anerkannt, die Entscheidung ausführlich dokumentiert und die begehrte Hilfe mit Bescheid vom 11. Februar 2009 folgerichtig versagt hat.

Die Durchführung und das Ergebnis der Erziehungskonferenz sind rechtlich nicht zu beanstanden.

Es bleibt Sache des Prozessbevollmächtigten des Klägers, warum er die an ihn adressierte und erstmals mit der Klagebegründung dem Verwaltungsgericht vorgelegte psychologische Stellungnahme vom 9. April 2008 dem Jugendamt weder auf Aufforderung an die Eltern des Klägers im Gespräch im Landratsamt vom 29. Oktober 2008, bis zum 28. November 2008 weitere Unterlagen nachzureichen, noch sonst rechtzeitig für die Erziehungskonferenz am 19. Dezember 2008 hat zukommen lassen, denn das Verwaltungsgericht hat zutreffend erkannt, dass das Jugendamt auch bei (nachträglicher) Kenntnis dieser Stellungnahme und der darin enthaltenen fachlichen Empfehlungen an seiner Entscheidung festgehalten hat und das unter Berücksichtigung des eingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Prüfungsrahmens nicht zu beanstanden ist.

Aus den Feststellungen des Jugendamtes ergibt sich weiter, dass die Mutter des Klägers auf eine telefonische Einladung in das Jugendamt erklärt habe, es gebe mit dem Jungen zu Hause keine Probleme. Nach Rücksprache mit ihrem Anwalt habe sie weiter erklärt, dass sie zu keinem Gespräch bereit sei, die Entwicklung des Klägers sei aus den Akten zu entnehmen. Auch ein weiteres Gesprächsangebot an die Eltern des Klägers sei am 19. März 2008 unter Hinweis auf die gerichtliche Auseinandersetzung nicht wahrgenommen worden, weshalb das Jugendamt davon ausgehe, die Eltern seien an der Mitarbeit im Hilfeplanverfahren nicht interessiert.

Letztlich und unabhängig von alledem hat die Erziehungskonferenz auch zutreffend erkannt, dass durch die Aufgabe der Gastwirtschaft der Eltern zum 31. Dezember 2005 ein wesentlicher die Familie belastender Faktor beseitigt und damit die Möglichkeit eröffnet worden ist, einer bestehenden Teilhabebeeinträchtigung gemäß § 35a SGB VIII im Sinne des wiederholten aber vergeblichen Angebotes des Jugendamtes wirksam durch ambulante Maßnahmen entgegenzutreten, um so den Bedarf an Eingliederungshilfe abzudecken.

1.2.2 Die Rechtssache des Klägers weist keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) auf.

Besondere tatsächliche Schwierigkeiten im Sinne dieser Vorschrift entstehen durch einen besonders unübersichtlichen oder unter den Beteiligten besonders kontroversen Sachverhalt (vgl. Happ in Eyermann, a.a.O., § 124 RdNr. 25). Das ist hier nicht der Fall. Die Rechtssache entspricht in tatsächlicher Hinsicht eher dem Durchschnittsfall aus dem Bereich des Jugendhilferechts nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch. Weder den Gerichtsakten beider Instanzen noch den Behördenakten sind darüber hinaus Anhaltspunkte für besondere tatsächliche Schwierigkeiten im o. g. Sinne zu entnehmen.

Die Rechtssache weist aber auch keine besonderen rechtlichen Schwierigkeiten auf, weil sich die hier aufgeworfenen Fragen ohne weiteres aus dem Gesetz beantworten lassen oder aber in der Rechtsprechung bereits geklärt sind. Entscheidungserhebliche Divergenzen in der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte oder wissenschaftliche Kontroversen sind nicht zu ersehen (vgl. dazu Happ, a. a. O., § 124 RdNr. 24).

1.2.3 Die Berufung des Klägers ist auch nicht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.

Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache dient in erster Linie der Rechtseinheit und der Fortentwicklung des Rechts. Er erfordert deshalb, dass Rechts- oder Tatsachenfragen inmitten stehen, die für die Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung waren, auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich werden, bisher höchstrichterlich oder durch die Rechtsprechung des Berufungsgerichtes nicht geklärt sind und eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung aufweisen (vgl. dazu Happ, a. a. O., § 124 RdNrn. 35 f.).

Auch insoweit finden sich keine hinreichenden Anhaltspunkte.

1.2.4 Wegen Divergenz kann die Berufung schon deshalb nicht zugelassen werden, weil auch eine Abweichung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO nicht vorliegt.

Eine solche Abweichung liegt nur dann vor, wenn sich das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz zu einem in der herangezogenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Widerspruch gesetzt hat; die Zulassungsbegründung muss darlegen, dass und inwiefern das der Fall ist (BVerwG vom 10.11.2008 Az. 5 B 79.08).

Es ist kein tragender Rechtssatz des Verwaltungsgerichts zu ersehen, auf den sich das angefochtene Urteil stützt und der einem vom Bundesverwaltungsgericht oder einem anderen Divergenzgericht aufgestellten Rechtssatz widerspräche.

1.2.5 Die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts weist letztlich keinen der Verfahrensfehler im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO auf.

Zur Begründung eines Verfahrensmangels verweist der Kläger in seinem Schreiben vom 22. August 2011 lediglich auf den Umstand, dass das Urteil „gegen die Eltern des Klägers ergangen sei“, obwohl er jedoch im Laufe des Verfahrens volljährig geworden sei.

Diese Behauptung trifft allerdings so in der Sache nicht zu, denn das angefochtene Urteil ist nicht „gegen die Eltern des Klägers ergangen“. Das Rubrum des angefochtenen Urteils weist vielmehr richtigerweise die vom Prozessbevollmächtigten als jungen Menschen bezeichnete Person, die als Inhaber eines Anspruches auf Eingliederungshilfe Leistungen nach § 35a SGB VIII begehrt und damit aktivlegitimert ist, als Kläger aus, „vertreten durch seinen Vater und seine Mutter“, bevollmächtigt der rechtsmittelführende Rechtsanwalt. An den somit bevollmächtigten Rechtsanwalt (siehe Vollmachtsurkunde vom 8. März 2009) wurde das Urteil, dessen eigenen Angaben im Zulassungsantrag folgend, auch am 20. Juni 2011 zugestellt. Beiläufig sei angemerkt, dass der solchermaßen schriftlich Bevollmächtigte den Kläger auch nach Vollendung dessen 18. Lebensjahres im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht weiter vertreten hat und ausweislich der eigenen Angaben im Rubrum des Zulassungsantrages vom 20. Juli 2011 auch im Zulassungsverfahren weiterhin vertritt.

Letztlich hat das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung, gemessen an der Prozessführung des Klägers, auch nicht seine aus § 86 Abs. 1 VwGO hergeleitete Pflicht zur vollständigen Sachverhaltsaufklärung verletzt (Geiger in Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 86 RdNr. 10 f.). Den anwaltlichen bloßen Beweisanregungen musste das Verwaltungsgericht mangels einer sich aufdrängenden Sachverhaltsermittlung nicht weiter nachgehen.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 VwGO.

3. Gegen diesen Beschluss gibt es kein Rechtsmittel (§ 152 Abs. 1, § 158 Abs. 1 VwGO).

4. Mit dieser Entscheidung wird das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 31. Mai 2011 gemäß § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO rechtskräftig.