Bayerischer VGH, Urteil vom 14.12.2010 - 13a B 10.30084
Fundstelle
openJur 2012, 112818
  • Rkr:
Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der am 1. Februar 1976 geborene Kläger ist nach eigenen Angaben irakischer Staatsangehöriger und kurdischer Volkszugehöriger muslimisch-sunnitischen Glaubens aus Kirkuk. Er reiste am 1. Dezember 2000 in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 7. Dezember 2000 beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt) einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter.

Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt am 15. Dezember 2000 trug er vor, er habe sechs Klassen Grundschule und eine Klasse Mittelschule in Kirkuk besucht, anschließend gearbeitet und Wehrdienst geleistet und dann einen Laden für Autopflege übernommen. Sein Vater sei 1990 gestorben, seine Mutter und sein Bruder lebten noch in Kirkuk. Am 26. September 2000 seien zwei Autos vom Geheimdienst gekommen, um das Öl wechseln zu lassen. Während er dies getan habe, habe er plötzlich Schüsse gehört. Er sei dann weggerannt und zu seinem Onkel mütterlicherseits gegangen. Dieser habe ihm geraten, das Land zu verlassen, da man aufgrund des Vorfalls seitens des Geheimdienstes auf der Suche nach ihm sei. Daraufhin sei er mit Hilfe eines Schleppers in die Türkei und nach Istanbul gelangt. Von dort sei er nach Deutschland gebracht worden.

Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 24. Januar 2001 (1.) den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a Abs. 1 GG ab, stellte jedoch (2.) fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Da die irakischen Behörden die Asylantragstellung im Ausland als politische Gegnerschaft bewerteten, sei der Kläger bei Rückkehr in den Irak von asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen bedroht. Auf die Klage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten hob das Verwaltungsgericht Regensburg mit Urteil vom 21. Januar 2003 den Bescheid vom 24. Januar 2001 in Nr. 2 auf. Nach Überzeugung des Gerichts stamme der Kläger nicht aus dem Zentralirak, sondern aus dem Nordirak. Dort habe der Kläger jedoch keine Verfolgung durch den irakischen Staat zu befürchten. Ein Antrag auf Zulassung der Berufung wurde durch Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. April 2003 abgelehnt (Az. 23 ZB 03.30177). Mit Bescheid vom 18. Dezember 2003 stellte das Bundesamt fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 des Ausländergesetzes nicht vorliegen (1.), forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen und drohte ihm für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung in den Irak an (2.). Die hiergegen erhobene Klage wurde zurückgenommen und das Verfahren mit Beschluss vom 6. April 2004 eingestellt (Az. RN 8 K 04.30009).

Mit Schreiben vom 9. Januar 2008 stellte der Kläger einen Asylfolgeantrag, beschränkt auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1 bis 7 AufenthG. Die der Erstentscheidung zugrunde liegende Sach- und Rechtslage habe sich nachträglich zu seinen Gunsten geändert. Ausgehend von der aktuellen Auskunftslage drohe derzeit zurückkehrenden irakischen Staatsangehörigen unabhängig von einer früher erlittenen Verfolgung unter dem Regime Saddam Husseins mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, die an die Religionszugehörigkeit anknüpfe. Aufgrund des wachsenden Islamismus drohe eine solche Verfolgung auch Sunniten und Schiiten, wechselseitig verübt von jeweils militanten Vertretern der „gegnerischen“ Religion. Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes drohe sogar direkte, staatliche Verfolgung durch im Auftrag des Innenministeriums tätige Todesschwadronen schiitischer Glaubenszugehörigkeit, die gezielt Sunniten ausfindig machen, in ihre Gewalt bringen und im Regelfall nach grausamen Misshandlungen töten würden. Mittlerweile habe der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom 14. November 2007 (Az. 23 B 07.30496) dies bestätigt und ausgeführt, dass irakischen Staatsangehörigen sunnitischer Religionszugehörigkeit bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure drohe und eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht bestehe.

Mit Bescheid vom 8. Juli 2008 lehnte das Bundesamt (1.) den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und (2.) den Antrag auf Abänderung des nach altem Recht ergangenen Bescheides vom 18. Dezember 2003 bezüglich der Feststellung zu § 53 des Ausländergesetzes ab. Allein die Zugehörigkeit zur Gruppe der Sunniten führe zu keinem Verfolgungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG. Es fehle an einer Verfolgungshandlung mit asylrelevanten Merkmalen. Die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte liege nach dem derzeitigen Erkenntnisstand nicht vor. An einer gezielten Verfolgung der Gruppe der Sunniten aus asylrelevanten Verfolgungsgründen fehle es. Auch die Voraussetzungen zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG seien nicht gegeben.

Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Regensburg mit Urteil vom 22. September 2008 ab. Es sei bereits zweifelhaft, ob eine Änderung der Sachlage vorliege, die ein Wiederaufgreifen des Asylverfahrens rechtfertigen würde. Jedenfalls könne keine Sachlage festgestellt werden, die eine von der letzten Entscheidung abweichende Entscheidung rechtfertigen könnte. Insbesondere sei die Mitgliedschaft in der zweitgrößten konfessionellen Gruppe im Irak, der sunnitischen Glaubensgemeinschaft, der etwa ein Drittel der irakischen Bevölkerung angehöre, nicht geeignet eine Gefährdung des Klägers zu begründen. Angesichts der Größe der sunnitischen und schiitischen Religionsgemeinschaften fehle es an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte. Für Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 und 5 AufenthG fehle es bereits an einer konkreten Gefahr. Auch hinsichtlich eines Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liege keine insoweit erforderliche konkrete Gefahr und eine einzelfallbezogene individuell bestimmte und erhebliche Gefährdungssituation vor. Bezüglich § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG fehle es an einer individuellen Bedrohung. Allgemeine Gefahren seien von der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG umfasst.

Mit Schreiben vom 26. September 2008 beantragte der Kläger die Zulassung der Berufung. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof habe festgestellt, dass irakischen Staatsangehörigen sunnitischer Religionszugehörigkeit aus dem Zentralirak bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure drohe. In Hinblick auf die vom Bundesverwaltungsgericht zugelassene Revision gegen das Urteil vom 14. November 2007 wurde zunächst auf übereinstimmenden Antrag der Parteien mit Beschluss vom 17. Oktober 2008 das Ruhen des Verfahrens angeordnet (Az. 13a ZB 08.30302).

Mit Schreiben vom 1. Februar 2010 beantragte der Kläger die Fortsetzung des Verfahrens. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 14. November 2007 sei mittlerweile aufgehoben und der Rechtsstreit zur weiteren Klärung an den Verwaltungsgerichtshof zurück verwiesen worden. Mit Beschluss vom 9. März 2010 wurde die Berufung zugelassen.

Im Berufungsverfahren trug der Kläger vor, dass aufgrund der Vielzahl der Anschläge und Übergriffe auf die Bevölkerungsgruppe der Sunniten im Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer Gruppenverfolgung im Sinn des § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG auszugehen sei. Eine entsprechende Verfolgungsdichte liege vor. Zumindest sei jedoch in der Person des Klägers vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auszugehen. Die Sicherheitslage im Irak sei nach wie vor verheerend. Sie werde in erheblichem Ausmaß von verschiedenen radikalen und militanten Gruppierungen, Terrororganisationen, Milizen und sonstigen oppositionellen Kämpfen bestimmt. Zwar habe sich die Sicherheitslage verbessert, jedoch sei nicht sicher, ob dieser Zustand gehalten werden könne. Hinzu komme, dass der irakische Staat nicht in der Lage sei, die Sicherheit der Zivilbevölkerung zu ermöglichen. Nach Abzug der amerikanischen Truppen habe sich die Sicherheitslage weiter verschlechtert. Die Anzahl der Anschläge nehme zu.

Der Kläger beantragt,

1. unter Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 22. September 2008 den Bescheid der Beklagten vom 8. Juli 2008 aufzuheben und

2. die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Es könne nicht von einer beachtlich wahrscheinlichen religiös motivierten Gruppenverfolgung der Sunniten durch Schiiten im Irak ausgegangen werden. Nach den vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Maßstäben für die Gruppenverfolgung und unter Zugrundelegung der Quellen ließen sich keine ausreichenden Hinweise auf eine Verfolgungsdichte, die für eine Gruppenverfolgung erforderlich sei, entnehmen. Im Hinblick auf die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG fehle es ebenfalls an einer notwendigen Gefahrendichte. Mögliche individuelle gefahrerhöhende Umstände, die ein Abschiebungsverbot begründen könnten, seien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen verwiesen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat weder Anspruch auf Flüchtlingsschutz im Sinn von § 60 Abs. 1 AufenthG noch einen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Zu Recht hat das Bundesamt den Folgeantrag des Klägers (§ 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) und den Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens mit dem Ziel der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG abgelehnt. Beim Kläger liegen weder die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anerkennung des Flüchtlingsschutzes noch die von Abschiebungsverboten hinsichtlich des Irak vor.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG, da ihm bei einer Rückkehr in den Irak keine Verfolgung im Sinn von § 60 Abs. 1 Sätze 1 und 4 AufenthG droht. Der Kläger hat seinen Folgeantrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft damit begründet, dass aufgrund der aktuellen Entwicklung im Irak eine Änderung der Sach- und Rechtslage dergestalt eingetreten sei, dass nunmehr Sunniten im Irak wegen der Zugehörigkeit zur Religionsgruppe eine asylrelevante Verfolgung durch Schiiten drohe. Von einer derartigen Gruppenverfolgung ist jedoch derzeit nicht auszugehen.

Nach der Vorschrift des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl 1953 II S. 559) ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Verfolgung in diesem Sinn kann nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien und Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative.

Dabei kann die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (BVerwG vom 18.7.2006 BVerwGE 126, 243/249; vom 1.2.2007 Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30; vom 21.4.2009 BayVBl 2009, 609). Danach setzt die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung voraus, dass eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ vorliegt, die die Vermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Erforderlich ist weiter, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Zudem gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss. Diese ursprünglich für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie nunmehr durch § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist.

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinn der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Ferner müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinn von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a und b AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinn von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann. Nicht erforderlich ist es, die zahlenmäßigen Grundlagen der gebotenen Relationsbetrachtung zur Verfolgungsdichte mit quasi naturwissenschaftlicher Genauigkeit festzustellen. Vielmehr reicht es aus, die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen. Bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet darf auch aus einer Vielzahl von Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung des ungefähren Umfangs der asylerheblichen Verfolgungsschläge und der Größe der verfolgten Gruppe vorgenommen werden (BVerwG vom 21.4.2009 a.a.O.).

22Nach diesen Maßstäben droht dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak wegen seines sunnitischen Glaubens nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung durch schiitische Milizen oder andere nichtstaatliche Akteure. Die Verfolgungshandlungen, denen der sunnitische Bevölkerungsteil ausgesetzt ist, weisen weder im Gesamtirak noch in der Region Tamim mit dem Hauptort Kirkuk, in der der Kläger vor seiner Ausreise gelebt hat, die für die Annahme einer Gruppenverfolgung notwendige Verfolgungsdichte auf (so für den Zentralirak und Bagdad auch VGH Baden-Württemberg vom 12.8.2010 Az. A 2 K 977/08 <juris>).

Zwar ist nach dem neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 28. November 2010 (Lagebericht) wie auch nach dem vorherigen vom 11. April 2010 davon auszugehen, dass die Sicherheitslage im Irak immer noch verheerend ist. Allerdings habe sie sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. So habe die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle seit dem Frühsommer 2007 um ca. 80 % abgenommen und sich die Zahl der Todesopfer im Jahr 2009 auf 4497 bzw. nach offiziellen irakischen Angaben auf 4068 im Vergleich zu 2008 halbiert. Dennoch komme es auch im Jahresverlauf 2010 immer noch häufig zu Anschlägen, bei denen zahlreiche Todesopfer zu beklagen seien. Die Schwerpunkte terroristischer Anschläge lägen weiterhin in Bagdad und dem Zentralirak, vor allem in den Provinzen Tamim mit der Hauptstadt Kirkuk und Ninive mit der Hauptstadt Mosul. Besonders gefährdete gesellschaftliche Gruppen seien Polizisten, Soldaten, Intellektuelle und alle Mitglieder der Regierung bzw. Repräsentanten des früheren Regimes, die inzwischen mit der neuen Regierung zusammenarbeiteten.

Einem spezifischen Verfolgungs- und Vertreibungsdruck seien auch Schiiten und Sunniten in den Gegenden, in denen jeweils die andere Konfession die Mehrheit stelle, ausgesetzt. Aufgrund der historischen Situation, in der Sunniten, insbesondere unter dem Regime Saddam Husseins, zwar die Minderheit der Bevölkerung, aber die dominierende Machtelite dargestellt habe, sei das Verhältnis zwischen irakischen Sunniten und Schiiten weiterhin angespannt. Mit dem Anschlag vom 22. Februar 2006 auf das schiitische Heiligtum in Samara und den Vergeltungsaktionen in der Folge habe sich der Irak offenen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen genähert. Im Laufe der folgenden zwei Jahre sei die Spirale der Gewalt und Gegengewalt beider Seiten völlig außer Kontrolle geraten. Mehrere Tausend Tote pro Monat seien die Folgen gewesen. Diese Entwicklung sei jedoch seitdem durch das Eingreifen der Regierung gegen schiitische Milizen einerseits und der veränderten Strategie der US-Streitkräfte gegenüber den sunnitischen Stämmen andererseits weitestgehend gestoppt worden (Lagebericht S. 24). Dennoch versuchten radikale Täter immer wieder, durch gezielte Anschläge auf Vertreter der jeweils anderen Gruppe den Kreislauf der Vergeltung anzuheizen. Von der allgemein prekären Sicherheitslage und den ethnisch-konfessionellen Auseinandersetzungen seien auch Kurden, insbesondere soweit sie außerhalb der autonomen Region Kurdistan-Irak lebten, betroffen.

Auch nach der Ausarbeitung des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamts „Irak. Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte“ vom Januar 2010 hat sich die Lage im Irak insgesamt allmählich verbessert. Die Gefahr, durch militärische Aktionen im klassischen Sinne zu Schaden zu kommen, sei zurückgegangen. Jedoch bestehe weiterhin die Gefahr von Anschlägen, deren Urheber meist nicht eindeutig identifizierbar seien. Insbesondere in den Provinzen Bagdad, Diyala, Ninive und Tamim komme es weiterhin zu zahlreichen Vorfällen mit Todesopfern. Dabei sei ein Großteil der Gewalt in Provinzen mit gemischter ethnischer/religiöser Bevölkerung zu verzeichnen.

Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Entwicklung ergibt sich hinsichtlich der Anzahl der Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter folgendes Bild: Die Gesamtbevölkerung des Irak wird auf zwischen 29,6 Millionen (Wikipedia) und 32,3 Millionen (Lagebericht S. 7) Menschen geschätzt. Davon sind etwa 97 % muslimisch. 60 bis 65 % hiervon sind (arabische) Schiiten, der Rest Sunniten. Unter letzteren befindet sich auch ein Großteil der Kurden, die ca. 15 bis 20 % der Gesamtbevölkerung ausmachen und in ihrer großen Mehrheit sunnitisch sind. Grob gerechnet sind damit ca. 10 Millionen Iraker sunnitischen Bekenntnisses. Dem ist gegenüberzustellen die Zahl der gegen diese Gruppe gerichteten Verfolgungsanschläge. Genauere Angaben hierüber liegen nicht vor. Allerdings zählt die britische Nichtregierungsorganisation Iraq Body Count (http:/www.iraqbodycount.org) seit dem Einmarsch der Koalitionsstreitkräfte in den Irak die Verluste unter der (gesamten) irakischen Zivilbevölkerung. Danach sind diese im Jahr 2009 auf den niedrigsten Stand seit 2003 gefallen. Im Jahre 2008 habe die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung noch über 9000 betragen, während sie sich im Jahre 2009 auf etwa 4645 vermindert habe. Diese Zahlen entsprechen im wesentlichen den im Lagebericht (S. 6) genannten Angaben. Auf der Grundlage dieser Informationen über die Anzahl der Todesopfer muss jedoch weiter berücksichtigt werden, dass die festgestellten Vorfälle und Anschläge auch in erheblichem Umfang zu physisch und psychisch Verletzten geführt haben. Außerdem ist nach allgemeiner Lebenserfahrung davon auszugehen, dass verfolgungsrelevante Übergriffe nicht immer allgemein bekannt werden. Andererseits können die festgestellten Verfolgungshandlungen nur teilweise der Beurteilung einer Gruppenverfolgung von Sunniten zugrunde gelegt werden. Die Gewalt richtet sich nicht nur gegen diese, sondern auch gegen andere Bevölkerungsgruppen, insbesondere auch gegen die Sicherheitskräfte und staatlichen Vertreter. Zudem ist die schiitische Zivilbevölkerung immer wieder Ziel der Gewalt. Daneben ist die Zivilbevölkerung auch Opfer organisierter Kriminalität, wie Entführungen, Erpressungen und ähnlichem. Zudem deuten die Auskünfte darauf hin, dass ein Teil der Anschläge – etwa Selbstmordanschläge auf öffentlichen Märkten und Plätzen – als ungezielte terroristische Anschläge zu bewerten sind, die nicht zwischen der Religionszugehörigkeit der betroffenen Personen unterscheiden und allein die Destabilisierung der Lage im Irak bezwecken sollen.

Nach alldem sind die im Irak festgestellten Vorfälle nur teilweise als Eingriffshandlungen zu bewerten, die in Anknüpfung an die sunnitische Religionszugehörigkeit der Betroffenen erfolgt sind. Andererseits ist aufgrund der unübersichtlichen Tatsachenlage eine nicht unerhebliche Dunkelziffer nicht bekannter Übergriffe anzunehmen. Insgesamt ist jedoch davon auszugehen, dass die gegen die Sunniten im Irak erfolgten asylerheblichen Verfolgungsschläge zwar zu einer beachtlichen Anzahl von Toten und Verletzten geführt haben, dass jedoch die Anzahl der Todesopfer unter den Sunniten in den Jahren 2008 und 2009 nicht unerheblich hinter den insgesamt für den Irak festgestellten Opferzahlen von rund 9000 bzw. 4500 Toten zurück bleibt. Selbst wenn jedoch alle Opfer sunnitischen Glaubens wären und man davon ausginge, dass auf einen Toten vier Verletzte kommen (vgl. Lagebericht S. 15), läge die Wahrscheinlichkeit für Sunniten, Opfer eines Terroranschlags zu werden, für 2008 und 2009 jeweils im Promillebereich. Die dargestellten Eingriffshandlungen gegen Sunniten in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erreichen damit unter Berücksichtigung der Anzahl der im Irak lebenden Sunniten nicht die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte. Zwar ergibt eine Gesamtbewertung, dass diese Bevölkerungsgruppe in erheblichem Umfang konfessioneller Gewalt ausgesetzt ist und insoweit eine Vielzahl einzelner Übergriffe festgestellt werden kann. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass für jeden der ca. 10 Millionen Sunniten im Irak die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit besteht.

Diese Einschätzung kann auch unter Berücksichtigung der neuesten Entwicklung im Jahre 2010 uneingeschränkt aufrecht erhalten bleiben. Zwar befindet sich das Sicherheitsumfeld im Irak im Umbruch. Zum 31. August 2010 haben alle US-Kampfverbände den Irak verlassen. Die verbleibenden bis zu 50 000 Soldaten sollen die irakische Armee ausbilden, US-Einrichtungen schützen und noch an gezielten Anti-Terroreinsätzen teilnehmen. Offiziell sollen bis Ende 2011 alle US-Truppen das Land verlassen. Auch sind gegenwärtig die irakischen Sicherheitskräfte noch nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Andererseits sind Anhaltspunkte, dass vermehrte Anschläge gegenüber Sunniten in Anknüpfung an deren Religionszugehörigkeit erfolgt sind, nicht ersichtlich. Damit kann die erforderliche Verfolgungsdichte auch in überschaubarer Zukunft nicht angenommen werden.

Die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte liegt auch dann nicht vor, wenn der Beurteilung nicht der Irak, sondern die Region Tamim, aus der der Kläger stammt, zugrunde gelegt wird. Der letzte Wohnort des Klägers im Irak war Kirkuk, mit rund 750 000 Einwohnern die Hauptstadt der Provinz Tamim (zwischen 900 000 und 1,1 Millionen Einwohner). Die Sicherheitslage dort ist nach der Darstellung „Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte“ a.a.O. weiterhin als schlecht zu bezeichnen. Für 2009 waren dort insgesamt 288 Tote bei 99 Vorfällen zu beklagen. Für das Jahr 2008 wird von 265 Toten bei 98 Vorfällen ausgegangen. Wenn man diese Zahlen zueinander ins Verhältnis setzt und davon ausgeht, dass auf einen Toten durchschnittlich vier Verletzte kommen, liegt allgemein die statistische Wahrscheinlichkeit, in der Provinz Tamim Opfer eines Anschlags zu werden, bei rund 0,15 % im Jahr.

Dabei setzt sich die Bevölkerung in der Provinz Tamim zu 15 % aus Schiiten, zu 20 % aus Sunniten, zu 40 % aus Kurden und zu 25 % aus Anderen zusammen. Die Kurden wiederum sind jedoch weitgehend Sunniten. Diese stellen damit die Mehrheit in der Provinz dar. Die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte läge damit selbst dann nicht vor, wenn alle Anschläge gegen sunnitische Religionszugehörige gerichtet wären. Hierfür gibt es zudem keine Anhaltspunkte. Im Übrigen ist auch angesichts der Mehrheitsverhältnisse nicht anzunehmen, dass diese in der Provinz Tamim einem spezifischen Verfolgungs- und Vertreibungsdruck ausgesetzt sind. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Umfang der asylerheblichen Verfolgungsschläge, die an die sunnitische Religionszugehörigkeit anknüpfen, in der Relation zu der Größe dieser Gruppe nicht die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung rechtfertigt.

Aber auch die vom Kläger geltend gemachten Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG sind nicht gegeben.

Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Juni 2008 (BVerwG 10 C 43.07 BVerwGE 131,198 = NVwZ 2008, 1241 - Parallelsache zu BVerwG 10 C 44.07) dient das durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) neu in das Aufenthaltsgesetz eingefügte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG der Umsetzung der Regelung über den subsidiären Schutz nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie - QualRL). Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG setzt – wie die umgesetzte Vorschrift des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie – einen internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikt voraus. Erst wenn Konflikte eine solche Qualität erreicht haben, wird danach ein Schutzbedürfnis für die betroffenen Zivilpersonen anerkannt. Der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist unter Berücksichtigung der Bedeutung dieses Begriffs im humanitären Völkerrecht auszulegen. Dabei sind insbesondere die vier Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht vom 12. August 1949 heranzuziehen. In Art. 3 GK 1949 wird der innerstaatliche bewaffnete Konflikt beschrieben. Eine Präzisierung erfährt der Begriff durch das am 8. Juni 1977 abgeschlossene Zusatzprotokoll - ZP - II zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (BGBl 1990 II S. 1637). Das Zusatzprotokoll II definiert in Art. 1 Nr. 1 den Begriff des nicht internationalen bewaffneten Konflikts und grenzt ihn in Nr. 2 von Fällen „innerer Unruhen und Spannungen“ ab, die nicht unter den Begriff fallen. Dieses Protokoll findet nicht auf Fälle wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen Anwendung. Danach liegt ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts jedenfalls dann vor, wenn der Konflikt die Kriterien des Art. 1 Nr. 1 ZP II erfüllt. Er liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn die Ausschlusstatbestände des Art. 1 Nr. 2 ZP II erfüllt sind, es sich also nur um innere Unruhen und Spannungen handelt, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinn von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss hierfür aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe. Der völkerrechtliche Begriff des „bewaffneten Konflikts“ wurde gewählt, um klarzustellen, dass nur Auseinandersetzungen von einer bestimmten Größenordnung an in den Regelungsbereich der Vorschrift fallen. Es ist nicht anzunehmen, dass auch ein sog. „low intensity war“ die Qualität eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinn von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie erfüllt, zumal der Begriff wenig präzise erscheint. Weitere Anhaltspunkte für die Auslegung des Begriffs des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts können sich aus dem Völkerstrafrecht ergeben, insbesondere aus der Rechtsprechung der Internationalen Strafgerichtshöfe. Kriminelle Gewalt dürfte bei der Feststellung, ob ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, jedenfalls dann keine Berücksichtigung finden, wenn sie nicht von einer der Konfliktparteien begangen wird. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt liegt auch dann vor, wenn die o.g. Voraussetzungen nur in einem Teil des Staatsgebiets erfüllt sind. Das ergibt sich schon daraus, dass gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG auch für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die Regeln über den internen Schutz nach Art. 8 der Richtlinie gelten. Ein aus seinem Herkunftsstaat Geflohener kann nur auf eine landesinterne Schutzalternative verwiesen werden, wenn diese außerhalb des Gebiets eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts liegt. Damit wird anerkannt, dass sich ein innerstaatlicher Konflikt nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken muss. Auch nach Art. 1 ZP II genügt, dass die bewaffneten Gruppen Kampfhandlungen in einem „Teil des Hoheitsgebiets“ durchführen.

Die nunmehr in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG getroffene Regelung, die Abschiebungsschutz suchende Ausländer im Fall allgemeiner Gefahren auf die Aussetzung von Abschiebungen durch ausländerbehördliche Erlasse verweist, ist richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass sie nicht die Fälle erfasst, in denen die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie erfüllt sind. Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG sind Gefahren im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt sind, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG ermächtigt die oberste Landesbehörde zur Aussetzung der Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen für die Dauer von längstens sechs Monaten. Ein Ausländer, der die Voraussetzungen des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie erfüllt, hat nach Maßgabe des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels. Es widerspricht den Vorgaben der Richtlinie, wenn einem Ausländer, der Anspruch auf subsidiären Schutz nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie hat und nicht den Ausschlusstatbestand des Art. 24 Abs. 2 Halbsatz 2 der Richtlinie erfüllt, kein Aufenthaltstitel, sondern lediglich eine Duldung wegen Aussetzung der Abschiebung nach § 60a AufenthG erteilt würde. Deshalb ist § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG richtlinienkonform dahin auszulegen, dass er bei Vorliegen der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie keine Sperrwirkung entfaltet.

Die Tatbestandsvoraussetzungen der „erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben“ entsprechen denen einer „ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit“ im Sinn von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie. Hierbei ist zu prüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende – und damit allgemeine – Gefahr in der Person des Klägers so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG darstellt. Auch eine allgemeine Gefahr, die von einem bewaffneten Konflikt ausgeht, kann sich individuell verdichten und damit die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie erfüllen. Normalerweise hat ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt allerdings nicht eine solche Gefahrendichte, dass alle Bewohner des betroffenen Gebiets ernsthaft persönlich betroffen sein werden. Das ergibt sich u.a. aus dem 26. Erwägungsgrund der Richtlinie, nach dem Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung darstellen, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre. Ausgeschlossen wird eine solche Betroffenheit der gesamten Bevölkerung oder einer ganzen Bevölkerungsgruppe allerdings nicht, was schon durch die im 26. Erwägungsgrund gewählte Formulierung „normalerweise“ deutlich wird. Eine allgemeine Gefahr kann sich aber insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. In Betracht kommt in diesem Zusammenhang für den Irak etwa die Zugehörigkeit zu einer der dortigen politischen Parteien sowie zur Berufsgruppe der Journalisten, Professoren, Ärzte und Künstler. Allgemeine Lebensgefahren, die lediglich Folge des bewaffneten Konflikts sind – etwa eine dadurch bedingte Verschlechterung der Versorgungslage –, können nicht in die Bemessung der Gefahrendichte einbezogen werden. Im Übrigen gelten für die Feststellung der Gefahrendichte ähnliche Kriterien wie im Bereich des Flüchtlingsrechts für den dort maßgeblichen Begriff der Verfolgungsdichte bei einer Gruppenverfolgung. Hierfür müssen allerdings stichhaltige Gründe dargelegt werden. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Gefahr infolge von „willkürlicher Gewalt“ drohen muss.

Die Frage, ob die im Irak seit 2003 andauernden, durch staatliche Sicherheitskräfte (Polizei und Militär) bekämpften terroristischen Handlungen (Begriff s. Art. 4 Nr. 2 Buchst. d Zusatzprotokoll II) nach Intensität und Größenordnung als vereinzelt auftretende Gewalttaten im Sinn von Art. 1 Nr. 2 Zusatzprotokoll II oder aber als anhaltende Kampfhandlungen bewaffneter Gruppen im Sinn von Art. 1 Nr. 1 Zusatzprotokoll II zu qualifizieren sind, kann dahinstehen, weil nach der Überzeugung des Senats der Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Bezüglich der Gefahrendichte ist auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die ein Kläger typischerweise zurückkehren wird (BVerwG vom 14.7.2009 BVerwG 10 C 9.08 RdNr. 17 AuAS 2010, 31 = NVwZ 2010, 196).

Bereits in seiner Entscheidung vom 21. Januar 2010 (Az. 13a B 08.30304 <juris>; Revisionsverfahren nach übereinstimmenden Hauptsache-Erledigungserklärungen eingestellt) hat der Verwaltungsgerichtshof ausgeführt, dass die Gefahrendichte in Kirkuk nicht so hoch sei, dass praktisch jede Zivilperson alleine aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (vgl. auch BVerwG vom 14.7.2009 a.a.O. RdNr. 15; EuGH vom 17.2.2009 NVwZ 2009, 705). Dies ergebe sich aus der Größenordnung der Anschläge und der Anzahl der Opfer im Verhältnis zur Einwohnerzahl (vgl. BVerwG vom 21.4.2009 a.a.O.). Bezogen auf die Provinz Tamim (0,9 – 1,1 Mio. Einwohner) mit der Provinzhauptstadt Kirkuk (0,75 Mio. Einwohner) seien von der britischen regierungsunabhängigen Organisation Iraq Body Count für das Jahr 2009 ca. 100 Anschläge mit ca. 290 getöteten Zivilpersonen verzeichnet (Zahlen ermittelt aus Iraq Body Count Database/Incidents/Records). Wenn man diese Zahlen zueinander ins Verhältnis setzt, betrüge die statistische Wahrscheinlichkeit, in Tamim/Kirkuk Opfer eines tödlichen Anschlags zu werden, ca. 0,032% oder ca. 1:3100 pro Jahr. Für das Jahr 2008 seien von Iraq Body Count ca. 100 Anschläge mit 265 getöteten Zivilpersonen verzeichnet (entspricht ca. 0,03%). Bei Zugrundelegung der im United Nations Assistance Mission for Iraq – UNAMI – Human Rights Report vom 29. April 2009 (zitiert im Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 5.11.2009) aufgeführten Opferzahlen für 2008 bezogen auf Tamim/Kirkuk bliebe die Größenordnung ungefähr die Gleiche. Gemäß der in diesem Report enthaltenen Statistik der irakischen Regierung habe die Zahl der Toten 310 und die Zahl der Verletzten 760 betragen. Hiernach belaufe sich die Wahrscheinlichkeit, durch einen Terroranschlag verletzt oder getötet zu werden, im Jahr 2008 für Tamim/Kirkuk auf ca. 0,12% oder 1:800. Für die Annahme, dass sich die Sicherheitslage wesentlich verschärfen werde, gebe es keine prognostisch gesicherten Anhaltspunkte.

An dieser Beurteilung der allgemeinen Lage in der Provinz Tamim hat sich nichts geändert. Bereits bei der Prüfung einer möglichen Gruppenverfolgung wurde darauf hingewiesen, dass die Sicherheitslage in dieser Provinz zwar weiterhin als schlecht zu bezeichnen ist. In der Reihenfolge der gefährlichen Provinzen lag sie im Jahre 2008 an fünfter Stelle, im Jahre 2009 an erster Stelle von 18 Provinzen (Zur Gefährdung der Zivilbevölkerung durch bewaffnete Konflikte, a.a.O., S. 25). Die für die Annahme einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben erforderliche Gefahrendichte liegt jedoch nach obigen Ausführungen nicht vor (so auch OVG NRW vom 29.10.2010 Az. 9 A 3642/06.A <juris>). Auch weiterhin sind Hinweise für eine wesentliche Verschlechterung der Sicherheitslage nicht ersichtlich.

Es bestehen bei dem Kläger auch keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände wie die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei sowie etwa zur Berufsgruppe der Journalisten und Professoren, Ärzte und Künstler (vgl. BVerwG vom 24.6.2008 a.a.O. RdNr. 35; VGH BW vom 8.8.2007 NVwZ 2008, 447/449; OVG SH vom 3.11.2009 Az. 1 LB 22/08; Lagebericht S. 23). Dass die sunnitische Religionszugehörigkeit nicht zu einer besonderen Gefährdung in der Provinz Tamim führt, wurde bereits dargestellt.

Anhaltspunkte für die Erforderlichkeit der Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 oder 3 AufenthG sind weder geltend gemacht worden noch sonst wie erkennbar.

Die Voraussetzungen des hilfsweise begehrten Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Auch insoweit ist nichts ersichtlich. Soweit der Kläger angibt, die frühere Gefährdung durch Geheimdienstleute bestehe fort, äußert er eine vage Vermutung, die die Annahme einer erheblichen konkreten Gefahr nicht stützt, nachdem der angegebene Vorfall mehr als zehn Jahre zurück liegt und das Regime Saddam Husseins seit mehr als sieben Jahre gestürzt ist.

Die Voraussetzungen für die weiter hilfsweise begehrte Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind ebenfalls nicht erfüllt. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl 1952 II S. 685 - EMRK -) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Der Kläger hat jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft bei Rückkehr in den Irak infolge der durch den Sturz des Regimes von Saddam Hussein eingetretenen grundlegenden Veränderung der Verhältnisse eine unmenschliche Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK, d.h. Misshandlungen durch staatliche Organe (BVerwG vom 17.10.1995 BVerwGE 99, 331), nicht zu erwarten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei.

Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.