VG Augsburg, Urteil vom 10.01.2008 - Au 2 K 06.1216
Fundstelle
openJur 2012, 89266
  • Rkr:
Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 7. März 2006 und der Widerspruchsbescheid vom 19. September 2006 werden aufgehoben.

II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig.

III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger ist verbeamteter Briefzusteller und wendet sich gegen die Aufhebung der Anerkennung eines Dienstunfalls.

Am 30. November 2005 fuhr er während einer Dienstfahrt mit seinem Dienstfahrzeug auf ein stehendes Müllauto auf. Beim Aufprall wurde der hinten auf dem Trittbrett stehende Müllwerker zwischen den beiden Fahrzeugen eingeklemmt und erlitt schwerste Verletzungen an beiden Beinen. Der Kläger erlitt keine äußeren Verletzungen, wurde aber mit schweren Schock-Symptomen ins Krankenhaus eingeliefert; dort wurde aufgrund einer Computertomographie des Schädels eine Hirnblutung festgestellt. Mit Schreiben vom 5. Dezember 2005 wurde das Unfallereignis von der Unfallkasse Post und Telekom "als Dienstunfall gemäß § 31 Beamtenversorgungsgesetz (BeamtVG) … anerkannt"; ferner wurde angemerkt: "Falls nachträglich Tatsachen bekannt werden, die eine Anerkennung des Ereignisses als Dienstunfall ausschließen, müssen wir unsere Entscheidung überprüfen."

Mit Bescheid vom 7. März 2006 wurde der ursprüngliche Bescheid ausdrücklich "zurückgenommen" und die Anerkennung des Ereignisses als Dienstunfall abgelehnt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass nach Auswertung der medizinischen Unterlagen davon ausgegangen werden müsse, dass die Hirnblutung aus einer inneren Ursache entstanden und diese Ursache des Unfalls gewesen sei. Dagegen erhob der Kläger Widerspruch, den er vor allem mit dem Hinweis auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Juni 1988 (Az. 2 C 3/88) begründete, bei dem ein Dienstunfall als solcher anerkannt wurde, obwohl eine Bewusstseinsstörung bzw. eine Ohnmacht den Unfall ausgelöst hatte und nicht umgekehrt. Mit Widerspruchsbescheid vom 19. September 2006 wies die Unfallkasse Post und Telekom den Widerspruch zurück, weil es vorliegend an einer äußeren Einwirkung auf den Kläger als rechtlich wesentlicher Ursache fehle. Der dem genannten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde liegende Fall sei damit nicht vergleichbar. Dort habe der eingetretene Schaden (der Tod des Betroffenen) die innere Ursache (eine Ohnmacht oder Bewusstseinsstörung) überlagert, und nur deshalb habe eine Ursächlichkeit im Sinne von § 31 Abs. 1 BeamtVG vorgelegen. Beim Kläger sei es dagegen durch den Verkehrsunfall zu keinen weiteren Verletzungen gekommen, so dass der Unfall in seiner Bedeutung gegenüber der Hirnblutung, die als wesentliche Ursache anzusehen sei, zurücktrete.

Mit seiner Klage lässt der Kläger beantragen,

den Bescheid vom 7. März 2006 in der Fassung des Widerspruchbescheids vom 19. September 2006 aufzuheben.

Im Gegensatz zu der im Widerspruchsbescheid geäußerten Auffassung könne die Anerkennung eines Dienstunfalls nicht davon abhängig gemacht werden, ob der Unfall zum Tod geführt habe und die innere Ursache insofern überlagert werde. Vielmehr habe das Bundesverwaltungsgericht darauf abgestellt, dass es an der inneren Ursache nicht mangle, wenn dem Unfallgeschehen eine Ohnmacht oder eine Bewusstseinsstörung vorausgegangen ist. Deshalb könne der Schlaganfall, den der Kläger erlitten und der zum Unfall geführt habe, die Anerkennung eines Dienstunfalls nicht ausschließen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bekräftigt die Ausführungen des Widerspruchbescheids und ergänzt, es fehle jeder Zusammenhang zwischen Unfall und Dienst, weil die Hirnblutung auch bei jeder anderen Gelegenheit aufgetreten wäre.

Das Gericht hat durch die Einholung eines Gutachtens beim Sachverständigen Dr. … vom Therapie-Zentrum Burgau Beweis über die Frage erhoben, ob die Hirnblutung des Klägers Folge einer inneren Ursache war oder durch den Verkehrsunfall am 30. November 2005 verursacht wurde. Der Sachverständige kam in seinem Gutachten vom 12. Juli 2007 zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 90 % die Hirnblutung den Unfall verursacht habe und nicht umgekehrt, also eine überwiegende, aber keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei. Auf Anfrage des Gerichts, ob der Kläger klaglos gestellt werde, verneinte dies die Beklagte und vertrat die Ansicht, dass bewiesen sei, dass die Hirnblutung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf einer inneren Ursache beruhe. Außerdem sei dem Entlassungsbericht zu entnehmen, dass der Kläger selbst geäußert habe, er sei am Steuer des Fahrzeugs bewusstlos geworden und wisse dann nichts mehr; dies zeige, dass zuerst die Bewusstlosigkeit aufgetreten sei und dann erst der Aufprall erfolgte. Dazu passe auch das völlige Fehlen äußerlicher Verletzungszeichen. Außerdem sei der streitgegenständliche Bescheid gar keine Anerkennung des Dienstunfalls gewesen, weil er den Vorbehalt einer Überprüfung enthalten habe, so dass lediglich eine "Information des Beamten das Heilverfahren betreffend" anzunehmen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

Die Klage hat Erfolg.

Ausgangs- und Widerspruchsbescheid sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Beklagte entschied im angegriffenen Bescheid nicht erstmals über die Anerkennung des Unfallereignisses als Dienstunfall, sondern erteilte der Sache nach einen Rücknahmebescheid; dabei konnte sie sich nicht auf einen Vorbehalt im ursprünglichen Bescheid stützen. Dementsprechend hat die Beklagte die volle Beweislast für die Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Anerkennungsbescheids gem. § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG zu tragen, die aber nicht in hinreichendem Maße nachgewiesen werden konnte.

Der streitgegenständliche Bescheid war eine Rücknahme des ursprünglichen Bescheids vom 5. Dezember 2005. Letzterer war nicht lediglich eine "Information des Beamten das Heilverfahren betreffend", wie die Beklagte vorträgt, sondern ein förmlicher Anerkennungsbescheid; dies ergibt sich schon aus seinem klaren Wortlaut. Entgegen der Auffassung der Beklagten enthielt der Bescheid auch keinen Vorbehalt. Der Hinweis, beim Auftreten neuer Tatsachen müsse die Unfallkasse ihre Entscheidung "überprüfen", ist nicht als solcher zu werten, weil schon rein sprachlich kein Bezug zu der zuvor in unbedingter Weise ausgesprochenen Anerkennung besteht; ferner bedeutet das Wort "überprüfen" ein erneutes Durchgehen von Voraussetzungen und nicht die Aufstellung einer auflösenden Bedingung. Nicht zuletzt der Umstand, dass die Beklagte im streitgegenständlichen Bescheid erklärt, das frühere Schreiben werde "zurückgenommen", zeigt, dass sie auch selbst von einer ohne Vorbehalt ausgesprochenen Anerkennung des Unfallereignisses als Dienstunfall ausging. 

Eine Rücknahme war aber nicht möglich, weil es an der in § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG normierten Tatbestandsvoraussetzung der Rechtswidrigkeit des aufzuhebenden Verwaltungsaktes fehlt. Für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen trägt die Beklagte nach allgemeinen Beweisgrundsätzen die materielle Beweislast, so dass die Rechtswidrigkeit des aufzuhebenden Bescheides mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden muss (Kopp/Schenke, VwGO, 14. Auflage 2005, Rd.Nr. 15 zu § 108 m.w.N.). Dies war vorliegend aber nicht möglich. Der gerichtlich bestellte Sachverständige hat in seinem Gutachten nachvollziehbar und widerspruchsfrei festgestellt, dass die Hirnblutung mit einer stark überwiegenden Wahrscheinlichkeit von etwa 90 %, aber gerade nicht mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit aus einer inneren Ursache entstanden ist. Die von der Beklagten vorgebrachten Indizien für eine innere Ursache, wie etwa das Fehlen äußerlicher Verletzungszeichen, können diesen Befund nicht erschüttern, weil die stark überwiegende Wahrscheinlichkeit ja ohnehin bescheinigt wurde, derartige Indizien aber naturgemäß nicht zu einem (noch) höheren Grad an Wahrscheinlichkeit führen können. Auch die im ärztlichen Entlassungsbericht aufgenommene Äußerung des Klägers, er sei am Steuer bewusstlos geworden und wisse dann nichts mehr, ändert daran nichts, weil bereits nach der allgemeinen Lebenserfahrung nicht ausgeschlossen werden kann, dass der mit dem Unfall einhergehende schockartige Zustand des Klägers eine um einige Sekunden rückwirkende Erinnerungslücke verursacht hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 VwGO, § 708 Nr. 11 ZPO.

Beschluss

Der Streitwert wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.