BVerfG, Beschluss vom 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95
Fundstelle
openJur 2012, 24639
  • Rkr:
Tenor

Das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 20.

Juli 1995 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Münster - 3

K 3519/93.A - verletzt die Beschwerdeführerinnen in ihrem

Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Es wird

aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Münster

zurückverwiesen.

Der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts für das Land

Nordrhein-Westfalen vom 10. Oktober 1995 - 25 A 5452/95.A - ist

gegenstandslos.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdeführerinnen die

notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren

zu erstatten.

Gründe

A.

Das Verfassungsbeschwerde-Verfahren betrifft die

Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Klage auf Anerkennung als

Asylberechtigter mangels Sachbescheidungsinteresses als

unzulässig abgewiesen werden darf, wenn die genaue Anschrift

eines minderjährigen, durch einen Vormund vertretenen

Klägers während des anhängigen Gerichtsverfahrens

infolge eines Wechsels des Aufenthaltsortes vorübergehend

nicht mehr bekannt ist.

I.

1. Die Beschwerdeführerinnen sind 1981 und

1985 geborene türkische Staatsangehörige kurdischer

Volkszugehörigkeit. Sie reisten im März 1993 in die

Bundesrepublik Deutschland ein und beantragten im Juli 1993 ihre

Anerkennung als Asylberechtigte. Dazu machten sie geltend: Ihre

gesamte Familie, aus der einige Aktivisten der PKK stammten, stehe

wegen Verdachts der Unterstützung dieser Organisation unter

Druck. Ihr Vater sei deswegen gefoltert worden und Ende 1992 an den

Folgen der erlittenen Mißhandlungen gestorben. Ihre Mutter

habe daraufhin aus Furcht vor Verfolgung das Dorf verlassen und sie

- die Beschwerdeführerinnen - und zwei weitere ihrer

Schwestern bei einem Onkel zurückgelassen. Als dieser

ebenfalls verhaftet worden sei, seien sie zu ihren älteren

Schwestern nach Deutschland geschickt worden.

2. Nach persönlicher Anhörung der

Beschwerdeführerinnen lehnte das Bundesamt für die

Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) mit

Bescheiden vom 21. Juli 1993 die Anträge ab. Hiergegen erhoben

die Beschwerdeführerinnen, vertreten durch den Ehemann einer

der älteren Schwestern als Vormund, Klage. Mit Beschluß

vom 27. Juni 1995 bewilligte das Verwaltungsgericht den

Beschwerdeführerinnen Prozeßkostenhilfe und

übertrug den Rechtsstreit auf den Berichterstatter als

Einzelrichter. Dieser bestimmte mit Verfügung vom gleichen

Tage Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 20. Juli 1995.

Hierzu wurden die Beschwerdeführerinnen über ihren

Vormund sowie ihr Prozeßbevollmächtigter geladen; das

persönliche Erscheinen der Beschwerdeführerin zu 1. wurde

angeordnet.

Zum Verhandlungstermin am 20. Juli 1995 erschienen

nur der Vormund der Beschwerdeführerinnen und ihr

Prozeßbevollmächtigter. Ausweislich der

Sitzungsniederschrift erklärte der Vormund auf Frage

wörtlich:

Die persönlich geladene Klägerin zu 1.

und die Klägerin zu 2. sind nicht erschienen, weil sie sich

bei ihrer älteren Schwester in Kiel aufhalten. Sie sind zu

Beginn der Ferien dorthin umgezogen. Ihren genauen Aufenthaltsort

kenne ich nicht. Es ist zwar richtig, daß ich die Ladung zum

Termin am 6. Juli 1995 als Vormund erhalten habe. Ich habe aber die

Klägerinnen über den Termin nicht informieren

können, weil sie damals schon nach Kiel umgezogen gewesen

sind. Sie sind Anfang Juni 1995 weggegangen...

Ferner äußerte er sich auf Befragen dazu,

welche Verwandten der Beschwerdeführerinnen noch in der

Türkei an welchen Orten lebten.

3. Mit dem aufgrund der mündlichen Verhandlung

vom 20. Juli 1995 ergangenen Urteil hat das Verwaltungsgericht

Münster die Klage mangels fortbestehenden

Sachbescheidungsinteresses der Beschwerdeführerinnen als

unzulässig abgewiesen. Der Aufenthaltsort der

Beschwerdeführerinnen sei unbekannt; sie hätten ihren

bisherigen Wohnort aufgegeben, ohne für ihre Erreichbarkeit in

dem noch anhängigen Verfahren Sorge zu tragen. Damit sei

offenbar geworden, daß sie in der Bundesrepublik Deutschland

keinen asylrechtlichen Schutz mehr suchten. Soweit ihr Desinteresse

an ihrem Asylverfahren auch auf das Verhalten ihres Vormundes

zurückzuführen sei, der sich offenbar um die Anschrift

der Beschwerdeführerinnen in Kiel nicht weiter gekümmert

habe, müßten sie sich dies wie eigenes Verhalten

zurechnen lassen.

4. Die Beschwerdeführerinnen beantragten die

Zulassung der Berufung wegen Abweichung und wegen

grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache. Mit Beschluß

vom 10. Oktober 1995 lehnte das Oberverwaltungsgericht für das

Land Nordrhein-Westfalen den Antrag ab: Die Frage, ob § 81

AsylVfG als Spezialvorschrift anzusehen sei, welche die Frage des

Rechtsschutzbedürfnisses abschließend regele, sei schon

nach dem Gesetz eindeutig in dem Sinne zu beantworten, daß

die im Verwaltungsprozeß geltenden allgemeinen Regeln

über die Prüfung der Sachurteilsvoraussetzungen und damit

des Rechtsschutzbedürfnisses nicht verdrängt würden.

In gleicher Weise ließen sich die Fragen nach der Zurechnung

des möglichen Verschuldens des Vormundes bzw. nach den

Voraussetzungen, unter denen aus dem Verhalten eines Dritten auf

den Wegfall des Rechtsschutzinteresses geschlossen werden

könne, unmittelbar aus dem Gesetz (§ 173 VwGO i.V.m.

§ 51 Abs. 2 ZPO, § 1793 Satz 1 BGB) beantworten.

Hinsichtlich der Folgerungen, die das Verwaltungsgericht aus der

Nichterreichbarkeit der Beschwerdeführerinnen und den

dafür vom Vormund angegebenen Gründen gezogen habe,

beruhe das Urteil nicht auf einem von der Rechtsprechung des

Oberverwaltungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts

abweichenden Rechtssatz.

II.

Mit der rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde

rügen die Beschwerdeführerinnen eine Verletzung ihrer

Grundrechte aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 16a Abs. 1 GG durch das

Urteil des Verwaltungsgerichts und den Beschluß des

Oberverwaltungsgerichts. Zur Begründung tragen sie im

wesentlichen vor:

1. Wegen schwerer gesundheitlicher und sozialer

Probleme in der Familie ihrer älteren Schwester seien die

beiden mit ihnen zusammen nach Deutschland gekommenen Schwestern zu

einem anderen Verwandten nach Bochum geschickt worden, der auch die

Vormundschaft übernommen habe. Diese beiden Schwestern seien

inzwischen - seit dem 12. September 1994 bestandskräftig - als

Asylberechtigte anerkannt. Nachdem sich die Probleme in der Familie

der älteren Schwester und des Vormundes, in der sie - die

Beschwerdeführerinnen - sich aufgehalten hätten, weiter

verschärft hätten, hätten sie sich immer öfter

bei einer weiteren Schwester aufgehalten. Als diese mit ihrer

Familie im Juni 1995 nach Kiel umgezogen sei, habe sie die

Beschwerdeführerinnen mitgenommen. Bei Erhalt der Ladung habe

der Vormund die genaue Anschrift der Beschwerdeführerinnen in

Kiel noch nicht gekannt, weil ihm der Schwager diese entgegen einem

Versprechen nicht sofort, sondern erst kurz nach dem Termin

mitgeteilt habe. Inzwischen sei die ältere Schwester in Kiel,

Frau K..., bei der sich die Beschwerdeführerinnen aufhielten,

zum neuen Vormund bestellt worden.

2. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletze Art.

19 Abs. 4 GG. Es habe den Ausnahmecharakter der Spezialvorschriften

in §§ 33 und 81 AsylVfG nicht berücksichtigt, die

für die Beendigung solcher Verfahren geschaffen worden seien,

welche vom Antragsteller nicht mehr betrieben würden. Die

Voraussetzungen dieser Vorschriften seien hier aber nicht

erfüllt. Deshalb verstoße es gegen die

Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, wenn den

Beschwerdeführerinnen fehlendes Rechtsschutzinteresse nur

deshalb unterstellt werde, weil infolge eines Umzuges während

des anhängigen Verfahrens ihr genauer Aufenthaltsort aktuell

nicht bekannt gewesen sei. Weder sie selbst noch ihr Vormund

hätten zu erkennen gegeben, daß ihnen an einer

Sachentscheidung nicht mehr gelegen sei.

Auch der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts

verletze Art. 19 Abs. 4 GG. Indem das Gericht die aufgeworfenen

grundsätzlichen Fragen als bereits aus dem Gesetz beantwortbar

behandelt habe, habe es für die Berufungszulassung eine

unüberwindbare Hürde aufgestellt.

III.

Das Bundesverfassungsgericht hat dem

Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und den

Beteiligten des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Stellungnahme

gegeben.

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur

Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung eines in § 90 Abs.

1 BVerfGG genannten Rechts der Beschwerdeführerinnen angezeigt

ist (§§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, 93b Satz 1 BVerfGG), und

gibt ihr statt. Das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts

verletzt die Beschwerdeführerinnen in ihrem Grundrecht aus

Art. 19 Abs. 4 GG. Die für diese Beurteilung

maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das

Bundesverfassungsgericht bereits entschieden; hiernach ist die

Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet (§ 93c

Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

I.

1. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet den

Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen einfach-gesetzlichen

Prozeßordnungen. Der Weg zu den Gerichten, insbesondere auch

zur inhaltlichen Überprüfung einer

Verwaltungsentscheidung, darf von der Erfüllung und dem

Fortbestand bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig

gemacht werden (vgl. BVerfGE 9, 194 <199 f.>; 10, 264 <267 f.>; 27, 297 <310>; 35, 65 <72 f.>; 40, 272

<274>; 77, 275 <284>). Die dem Gesetzgeber obliegende

normative Ausgestaltung des Rechtswegs muß aber das Ziel

dieser Rechtsgewährleistung, nämlich den wirkungsvollen

Rechtsschutz, auch tatsächlich verfolgen und ermöglichen.

Sie muß im Hinblick darauf geeignet und angemessen sowie

für den Rechtsuchenden zumutbar sein (BVerfGE 77, 275

<284>). Der Zugang zu den Gerichten und zu den in den

Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in

unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender

Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 78, 88

<99>; 88, 118 <124>). Dieser Grundsatz gilt auch

innerhalb des jeweils eingeleiteten Verfahrens, soweit es darum

geht, sich dort effektiv Gehör verschaffen zu können, und

nicht nur für die Eröffnung des Zugangs zum Gericht

selbst (BVerfGE 81, 123 <129>). Der gerichtlichen

Durchsetzung des materiellen Anspruchs dürfen auch hier nicht

unangemessen hohe verfahrensrechtliche Hindernisse in den Weg

gelegt werden (BVerfGE 53, 115 <127>).

2. Im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 GG setzt jede an

einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein

Rechtsschutzbedürfnis voraus (vgl. BVerfGE 61, 126

<135>; 96, 27 <39 f.>; Redeker/von Oertzen, VwGO

<12. Aufl. 1997>, § 42 Rn. 28; Ehlers in:

Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO <Stand Februar

1998>, Vorb. § 40 Rn. 75). Nur derjenige, der mit dem von

ihm angestrengten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein

rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt, hat einen Anspruch

auf eine gerichtliche Sachentscheidung; fehlt es daran, so ist das

prozessuale Begehren als unzulässig abzuweisen (vgl.

Kopp/Schenke, VwGO <11. Aufl. 1998>, Vorb. § 40 Rn.

30).

a) Das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann im

Laufe eines gerichtlichen Verfahrens entfallen. Vom Wegfall eines

ursprünglich gegebenen Rechtsschutzbedürfnisses kann ein

Gericht im Einzelfall auch dann ausgehen, wenn das Verhalten eines

rechtsschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten Anlaß zu der

Annahme bietet, daß ihm an einer Sachentscheidung des

Gerichts nicht mehr gelegen ist. Eine hierauf gestützte

Abweisung eines Rechtsschutzbegehrens mangels

Sachbescheidungsinteresses begegnet grundsätzlich keinen

verfassungsrechtlichen Bedenken.

Einen gesetzlichen Niederschlag hat dieser

Rechtsgedanke zunächst in § 81 AsylVfG (zuvor: § 33

AsylVfG 1982) für Rechtsstreitigkeiten über

Asylverfahren, seit dem 1. Januar 1997 für

verwaltungsrechtliche Streitigkeiten im allgemeinen in § 92

Abs. 2 VwGO in der Fassung des 6. Gesetzes zur Änderung der

Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 1. November 1996

(BGBl I S. 1626) gefunden. Danach gilt eine Klage - mit

der Folge der Einstellung des Verfahrens durch Beschluß (vgl.

§ 92 Abs. 3 VwGO) - als zurückgenommen, wenn ein

Kläger das Verfahren trotz einer Aufforderung des Gerichts

länger als drei Monate (in Rechtsstreitigkeiten nach dem

Asylverfahrensgesetz: länger als einen Monat) nicht betreibt.

Eine solche Beendigung eines gerichtlichen Verfahrens ohne

Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren in der Sache setzt

voraus, daß nach dem prozessualen Verhalten des Beteiligten

hinreichender Anlaß besteht, von einem Wegfall des

Rechtsschutzinteresses auszugehen, daß das Gericht ihn

daraufhin zum Betreiben des Verfahrens auffordert und daß der

Beteiligte mit dieser Aufforderung auf die Folgen des (weiteren)

Nichtbetreibens des Verfahrens hingewiesen wird (vgl. dazu

näher BVerwGE 71, 213 <218 f.>). Regelungen dieser Art

sind mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar, unterliegen aber in ihrer

Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlichen Grenzen unter

Beachtung ihres Ausnahmecharakters (vgl. BVerfG

<Vorprüfungsausschuß>, Beschlüsse vom 7.

August 1984 - 2 BvR 187/84 -, NVwZ 1985, S. 33 und vom 15. August

1984 - 2 BvR 357/84 -, DVBl 1984, S. 1005; 1. Kammer des Zweiten

Senats des Bundesverfassungsgerichts, Beschluß vom 19. Mai

1993 - 2 BvR 1972/92 -, NVwZ 1994, S. 62 f.; alle zu § 33

AsylVfG a.F.).

b) Inwiefern neben solchen ausdrücklichen

gesetzlichen Regelungen, denen die an das Verhalten eines

Rechtsschutzsuchenden anknüpfende Vermutung eines Wegfalls des

Rechtsschutzinteresses zugrunde liegt (vgl. Clausing in:

Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietz-ner, VwGO, § 92 Rn. 46;

Kopp/Schenke, VwGO, § 92 Rn. 18), den Gerichten noch Raum

verbleibt, außerhalb der in § 81 AsylVfG und § 92

Abs. 2 VwGO bestimmten Vorausetzungen und außerhalb des dort

geregelten Verfahrens ein Rechtsschutzbegehren als unzulässig

abzulehnen, weil nach dem Verhalten des Beteiligten davon

auszugehen ist, daß er kein Interesse mehr an einer

Sachentscheidung des Gerichts hat (verneinend dazu nunmehr Kopp/

Schenke, VwGO, Vorb. § 40 Rn. 54), unterliegt als Frage der

Auslegung und Anwendung einfachen Verwaltungsprozeßrechts

nicht der verfassungsgerichtlichen Beurteilung. Maßgeblich

ist allein, daß den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG

entsprochen wird. Nach den unter B. I. 1. dargestellten

Maßstäben bedeutet dies: Will ein Gericht an ein

Verhalten eines Beteiligten während eines zulässigerweise

anhängig gemachten Verfahrens die weitreichende Folge einer

Abweisung des Rechtsschutzbegehrens als unzulässig mangels

Rechtsschutzinteresses und damit die Verweigerung effektiven

Rechtsschutzes in der Sache knüpfen, ohne den Beteiligten

vorher auf Zweifel am fortbestehenden Rechtsschutzinteresse

hinzuweisen und ihm Gelegenheit zu geben, sie auszuräumen, so

müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die den sicheren

Schluß zulassen, daß den Beteiligten an einer

Sachentscheidung des Gerichts in Wahrheit nicht mehr gelegen

ist.

II.

Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen

genügt das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts nicht.

Ausweislich der dem Bundesverfassungsgericht vorliegenden Akten des

fachgerichtlichen Verfahrens haben die Beschwerdeführerinnen

das Verfahren bis zum Verhandlungstermin ordnungsgemäß

betrieben. Auch im Termin zur mündlichen Verhandlung waren sie

durch ihren damaligen Vormund und ihren

Prozeßbevollmächtigten ausreichend vertreten. Die

Tatsache, daß sie selbst zur mündlichen Verhandlung

nicht erschienen waren, rechtfertigte nicht die Annahme, daß

sie an einer Sachentscheidung über ihre Klage nicht mehr

interessiert gewesen seien. Für die Beschwerdeführerin zu

2. folgt dies ohne weiteres daraus, daß ihr persönliches

Erscheinen nicht angeordnet war (vgl. dazu auch 1. Kammer des

Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, Beschluß vom

26. Mai 1994 - 2 BvR 1183/92 -, NVwZ Beilage 7/94, S. 50

<51>). Für die Beschwerdeführerin zu 1. gilt im

Ergebnis das gleiche: Zwar hatte das Gericht ihr persönliches

Erscheinen zum Verhandlungstermin angeordnet (§ 95 Abs. 1 Satz

1 VwGO). Insoweit sieht das Gesetz aber für den Fall des

Ausbleibens als Sanktion die Androhung und Festsetzung eines

Ordnungsgeldes (§ 95 Abs. 1 Satz 2 und 3 VwGO), nicht hingegen

Konsequenzen für die weitere Verfolgung des

Rechtsschutzbegehrens in der Sache vor.

Der im angegriffenen Urteil gezogene Schluß

auf einen Wegfall des Sachbescheidungsinteresses aus der

Erklärung, die der seinerzeitige Vormund der

Beschwerdeführerinnen als Grund für deren Nichterscheinen

zu Protokoll gegeben hat, wird dem grundrechtlich durch Art. 19

Abs. 4 GG geschützten Interesse an effektivem gerichtlichen

Rechtsschutz nicht gerecht. Das Gericht überspannt mit ihm die

Anforderungen an das Verhalten eines rechtsschutzsuchenden

Bürgers, mit dem dieser zum Ausdruck bringen muß,

daß sein Interesse an einer Sachentscheidung des von ihm

zulässigerweise angerufenen Gerichts fortbesteht:

Das Verwaltungsgericht ist im angegriffenen Urteil

davon ausgegangen, daß die vom früheren Vormund der

Beschwerdeführerinnen abgegebene Erklärung zutreffend

ist; übrigens ist die in dieser Erklärung erwähnte,

in Kiel wohnhafte weitere Schwester der Beschwerdeführerinnen

im November 1995 zum neuen Vormund bestellt worden. Aufgrund des

vom damaligen Vormund geschilderten Sachverhalts bestand kein

Anlaß anzunehmen, die Beschwerdeführerinnen seien aus

eigenem Entschluß "untergetaucht" und wollten das Verfahren

auf Anerkennung als Asylberechtigte in Deutschland nicht mehr

betreiben. Die Anschrift des Vormundes, der als ihr gesetzlicher

Vertreter das Verfahren für sie zu betreiben hatte, war

weiterhin bekannt. Damit war auch die Erreichbarkeit der

Beschwerdeführerinnen für Zwecke des anhängigen

verwaltungsgerichtlichen Verfahrens über den Asylantrag

grundsätzlich gewährleistet; die im Zeitpunkt der

mündlichen Verhandlung erst zehn und dreizehn Jahre alten

Beschwerdeführerinnen selbst waren ohnehin nach § 62 Abs.

1 Nr. 2 VwGO i.V.m. § 12 Abs. 1 AsylVfG nicht zur Vornahme

irgendwelcher Verfahrenshandlungen fähig.

Allenfalls insofern, als es auf eine

persönliche Anwesenheit der Beschwerdeführerinnen vor

Gericht, etwa für Erklärungen zu ihrem

Verfolgungsschicksal, angekommen wäre, war vorübergehend

nicht sichergestellt, daß die Beschwerdeführerinnen

alsbald benachrichtigt werden konnten. Dazu, inwieweit dies

für die weitere Förderung des Verfahrens notwendig war,

verhält sich das Gericht im angegriffenen Urteil aber nicht,

so daß auch dahinstehen kann, ob ihre Angaben im

Asylverfahren überhaupt verwertbar sind (generell verneinend

unter Verweis auf den Zweck des Minderjährigenschutzes: Marx,

Kommentar zum AsylVfG, <3. Aufl. 1995>, § 12 Rn. 15;

differenzierend: BVerwG, Beschluß vom 18. November 1983 - 9

CB 252.81 -, Buchholz 310 § 43 VwGO Nr. 80; BVerwG, Urteil vom

31. Juli 1984 - 9 C 156.83 -, NJW 1985, S. 576 f.; Funke-Kaiser in:

GK-AsylVfG, Stand: Oktober 1995, § 12 Rn. 21). Die

Beschwerdeführerin zu 1. ist zwar der Anordnung ihres

persönlichen Erscheinens nicht nachgekommen, jedoch hat hier

das gleiche zu gelten wie bei unvollständigen, unterbliebenen

oder widersprüchlichen Angaben Minderjähriger, aus denen

nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG,

Beschluß vom 18. November 1983 - 9 CB 252.81 -, a.a.O.;

BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 156.83 -, a.a.O.)

grundsätzlich keine negativen Schlußfolgerungen gezogen

werden dürfen. Im übrigen läßt sich dem

angegriffenen Urteil nicht entnehmen und liegt angesichts des hier

geltend gemachten familiären Verfolgungsschicksals auch fern,

daß der im Termin anwesende Vormund - der Ehemann der

älteren Schwester der Beschwerdeführerinnen - zur

Aufklärung des Sachverhalts nicht in der Lage gewesen

wäre. Ausweislich des Sitzungsprotokolls hat der Vormund zum

Sachverhalt Erklärungen abgegeben; die insoweit vom Gericht

gestellten Fragen zum Aufenthalt von Verwandten in der Türkei

zielten ersichtlich auf Feststellungen zu einer inländischen

Fluchtalternative.

Die den Beschwerdeführerinnen nach den

Zustellungsvorschriften des § 10 AsylVfG obliegende Pflicht

zur Mitteilung geänderter Anschriften traf aufgrund ihrer

mangelnden Handlungsfähigkeit nur ihren Vormund. Ob unter

§ 10 AsylVfG auch Wohnortwechsel nicht handlungsfähiger

Asylantragsteller fallen, erscheint freilich - da eine Zustellung

an sie selbst nicht zulässig wäre - fraglich, bedarf aber

hier keiner Entscheidung. Denn auch eine etwaige Zuwiderhandlung

gegen die Obliegenheit aus § 10 AsylVfG rechtfertigt hier

keinesfalls die vom Verwaltungsgericht getroffene Feststellung, die

Beschwerdeführerinnen hätten durch ihr Verhalten zu

erkennen gegeben, daß sie an einer Sachentscheidung des

Gerichts über ihr Asylbegehren nicht mehr interessiert seien.

Auch das Verhalten des damaligen Vormunds selbst, der als ihr

gesetzlicher Vertreter in der mündlichen Verhandlung anwesend

war, läßt ungeachtet der Frage, inwieweit ihm

überhaupt Versäumnisse vorzuwerfen sind und die

Beschwerdeführerinnen sich diese zurechnen lassen müssen,

schon nach seinem objektiven Erklärungswert nicht den

Schluß auf einen nachträglichen Wegfall des

erforderlichen Rechtsschutzinteresses zu.

III.

Das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts ist

aufzuheben, die Sache ist an das Verwaltungsgericht

zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 i.V.m. § 93c Abs. 2

BVerfGG). Damit wird der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts

für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Oktober 1995

gegenstandslos.

Die Entscheidung über die Erstattung der

notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.