Bayerischer VGH, Urteil vom 03.02.2011 - 13a B 10.30394
Fundstelle
openJur 2012, 114079
  • Rkr:
Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger ist nach eigenen Angaben am 16. April 1986 in Dari Jaf in der Provinz Parwan in Zentralafghanistan geboren, afghanischer Staatsangehöriger muslimisch-schiitischen Glaubens und dem Volksstamm der Hazara zugehörig. Er reiste im April 2002 in das Bundesgebiet ein und stellte am 18. April 2002 beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Bundesamt) einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter.

Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt am 25. April 2002 gab der Kläger an, er habe in Dari Jaf bei seinen Eltern und seinem Großvater gewohnt. Vor ca. acht Monaten habe er seinen Heimatort verlassen. Nach Rückfrage gab er an, seine Eltern seien drei Jahre zuvor durch eine Rakete getötet worden. Sein Bruder lebe seit ca. 8 Jahren in München mit einer Aufenthaltsgenehmigung. Er sei Analphabet und habe keine Schulen besucht. In Afghanistan habe er in der Landwirtschaft gearbeitet. Verwandte habe er nicht mehr. Eine Tante lebe im Iran, sie habe den Schleuser bezahlt. Eine Verfolgung befürchte er nicht, aber er sei ganz allein.

Mit Bescheid vom 12. August 2003 lehnte das Bundesamt (1.) den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a Abs. 1 GG ab, stellte (2.) fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und (3.) Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen und forderte (4.) den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats zu verlassen; für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist wurde die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Eine politische Verfolgung drohe nicht. Auch habe der Kläger selbst angegeben, er sehe bei einer Rückkehr keine Gefahr für sich, habe nur niemanden, zu dem er gehen könne. Im Übrigen bestünden Zweifel an den Angaben des Klägers zu seiner Familie, seiner Identität und seines Alters. Auch Abschiebungshindernisse gemäß § 53 AuslG lägen nicht vor. Die allgemeine Lage in Afghanistan könne nicht als „extrem gefährlich“ angesehen werden. Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Regensburg mit Gerichtsbescheid vom 3. November 2003 als offensichtlich unbegründet zurück (Az. RO 5 K 03.31265). Die Entscheidung wurde rechtskräftig.

Am 5. August 2004 stellte der Kläger einen Asylfolgeantrag. Er könne nicht nach Afghanistan zurückkehren, weil er ein Problem habe. Er habe keine Eltern mehr. Mit Bescheid vom 16. August 2004 lehnte das Bundesamt (1.) den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und (2.) den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 12. August 2003 bezüglich der Feststellung zu § 53 AuslG ab. Die Sach-, Rechts- bzw. Beweislage habe sich nicht nachträglich geändert. Die bereits früher vorgebrachten Gründe (Verlust der Eltern) seien im Erstverfahren vom Verwaltungsgericht Regensburg im Gerichtsbescheid vom 3. November 2003 gewürdigt worden. Das Gericht habe festgestellt, dass der Kläger nicht vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist sei.

Am 4. Juni 2007 stellte der Kläger einen weiteren Asylfolgeantrag beschränkt auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1 bis 7 AufenthG sowie auf subsidiären Schutz gemäß Art. 15c der Qualifikationsrichtlinie. Die tatsächliche Situation habe sich insoweit verändert, als hinsichtlich alleinstehender Männer das Abschiebeverbot des Bayerischen Innenministeriums aufgehoben worden sei. Das Verwaltungsgericht Regensburg habe in seiner Entscheidung ausgeführt, dass für die Feststellung, ob die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (jetzt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) gegeben seien, wegen der Abschieberegelung ein Sachbescheidungsinteresse nicht vorliege. Letzteres sei nun jedoch anzunehmen. Im Übrigen würden die in Afghanistan bestehenden allgemeinen Gefahren ein zwingendes Abschiebungshindernis begründen. Die Sicherheitslage dort sei als dramatisch einzuschätzen. Auch die Versorgungslage sei untragbar und würde dazu führen, dass die psychische und körperliche Verfassung von Rückkehrern massiv geschädigt werde. Der Kläger habe keine Familienangehörigen mehr in Afghanistan. Für ihn gäbe es keine Unterkunftsmöglichkeit dort; er sei außer Stande, für eine Existenz zu sorgen und habe damit keine realistische Chancen, der Obdachlosigkeit und der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Er sei der ernstlichen Gefahr ausgesetzt, mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen, sicheren Hungerstod ausgeliefert zu sein.

Mit Bescheid vom 3. August 2007 lehnte das Bundesamt den erneuten Folgeantrag und den Antrag auf Abänderung des nach altem Recht ergangenen Bescheids vom 12. August 2003 bezüglich der Feststellung zu § 53 Abs. 1 bis 6 AuslG ab. Gründe für ein Wiederaufgreifen des Asylverfahrens seien nicht dargetan. Die allgemeine Lage in Afghanistan habe sich nicht dahingehend verändert, dass dies zu einer günstigeren Entscheidung im Asylverfahren führen würde. Anzeichen dafür, dass Hazara heute noch allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit einer gezielten Verfolgung unterlägen, seien nicht ersichtlich. Es sei dem Kläger möglich, in Kabul eine ausreichende Lebensgrundlage zu finden; zumindest das Existenzminimum sei gewährleistet. Subsidiärer Schutz sei nicht zu gewähren. Zwar sei die Sicherheitslage in Afghanistan insgesamt weiterhin als angespannt zu bezeichnen. Für den hier maßgeblichen Raum Kabul könne jedoch festgestellt werden, dass die Sicherheitslage als ausreichend sicher zu betrachten sei. Auch gebe es zwar Schwierigkeiten mit der Nahrungsversorgung. Anzeichen für eine derart schlechte Versorgung, dass jeder Rückkehrer alsbald dem Hungertod ausgesetzt wäre, lägen aber nicht vor. Insbesondere gebe es keine Berichte über eine drohende generelle Nahrungsmittelknappheit. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die internationalen Hilfsorganisationen derart in ihrer Arbeit behindert würden, dass keinerlei Versorgung der Bevölkerung mehr möglich wäre. Es könne daher davon ausgegangen werden, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine extreme Gefahrenlage, die bei verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde, drohe.

Am 21. August 2007 erhob der Kläger hiergegen Klage und stellte gleichzeitig einen Antrag nach § 123 VwGO, die Beklagte zu verpflichten, der Ausländerbehörde des Landratsamts S. unverzüglich mitzuteilen, dass vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache eine Abschiebung des Klägers aus dem Bescheid vom 12. August 2003 nach Afghanistan nicht stattfinden dürfe. Dem Antrag nach § 123 VwGO gab das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 30. August 2007 statt (Az. RO 5 E 07.30185). In der im Klageverfahren durchgeführten mündlichen Verhandlung erklärte der Kläger, dass er in Afghanistan keine Angehörigen mehr habe und daher nicht dorthin zurückkehren könne. Er habe ein Jahr die Schule besucht. Die Ausreise aus dem Iran, in dem er sich vor seiner Ausreise drei Jahre lang aufgehalten habe, habe er selber finanziert, seine im Iran lebende Tante habe etwas dazugegeben. Mit Urteil vom 21. August 2008 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab (Az. RO 5 K 07.30186). Zwar habe sich sowohl die Sach- als auch die Rechtslage seit dem im Jahre 2004 durchgeführten letzten Folgeverfahren geändert. Es drohe dem Kläger jedoch keine derartige Gefahr, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gegeben wäre. Trotz der anerkannten schlechten Sicherheits- und Versorgungslage müsse nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass jeder Rückkehrer aus Europa den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden erleiden müsste. Der Kläger könne in Kabul Aufenthalt nehmen. Obwohl er dort auf keine vertraute Umgebung und keinen Familienverband zurückgreifen könne und derzeit über keine größeren finanziellen Mittel verfüge, drohe ihm keine besondere Gefährdung. Auch eine Mangelernährung dergestalt, dass eine extreme Gefährdung für Leib oder Leben abzuleiten wäre, sei nicht anzunehmen. Wegen seiner Volkszugehörigkeit habe er ebenfalls keine Nachteile zu befürchten. Auch subsidiärer Schutz nach Art. 15c der Qualifikationsrichtlinie sei nicht zu gewähren. Für Afghanistan könne derzeit nicht von einer landesweiten Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgegangen werden, da begrenzte Bandenkriege nicht darunter fallen würden und bürgerkriegsähnliche bewaffnete Auseinandersetzungen nicht in allen Provinzen und vor allem nicht in der Hauptstadt Kabul stattfinden würden.

Am 30. September 2008 beantragte der Kläger die Zulassung der Berufung. Der subsidiäre Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG setze keinen landesweiten bewaffneten Konflikt voraus. Im Übrigen sei angesichts der aktuellen Auskunftslage zu Afghanistan von einer extremen Gefahrenlage für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige auszugehen. Das Verfahren wurde zunächst nicht weiter betrieben, da eine Entscheidung in einem Parallelverfahren abgewartet werden sollte, und statistisch erledigt.

Mit Schreiben vom 28. September 2010 beantragte der Kläger die Fortsetzung des Verfahrens (Az. 13a ZB 10.30333). Mit Beschluss vom 19. November 2010 ließ der Verwaltungsgerichtshof die Berufung hinsichtlich des Begehrens auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu. Im Berufungsverfahren trägt der Kläger vor, dass er aufgrund einer Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG habe. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sowie der vorliegenden Erkenntnisquellen sei davon auszugehen, dass in Afghanistan ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt stattfinde. Die aktuelle Sicherheitslage habe sich in den letzten Jahren kontinuierlich und landesweit verschlechtert. Der innerstaatliche bewaffnete Konflikt in Afghanistan begründe zugleich eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben. Es liege eine willkürliche Gewalt vor, die jeden zu jeder Zeit und an jedem Ort treffen könne. Im Übrigen lägen auch angesichts seiner individuellen Situation die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Der Kläger beantragt:

Unter Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheides vom 3. August 2007 und des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 21. August 2008 wird die Beklagte verpflichtet, ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG hinsichtlich Afghanistan festzustellen, hilfsweise ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Es stünde keine Abschiebung im Raum. Der Kläger habe mit einer deutschen Staatsangehörigen ein Kind und sei somit durch Art. 6 GG geschützt. Auch sei ihm eine Aufenthaltserlaubnis in Aussicht gestellt. Eine Schutzlücke liege nicht vor. Im Übrigen könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei Rückkehr einer extremen Gefahr ausgesetzt sei.

Auf gerichtliche Anfrage teilte der Kläger mit, er habe keinen Bruder. Die entsprechende Angabe müsse auf einer falschen Übersetzung des Dolmetschers beruhen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Behördenakten sowie die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen verwiesen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Zu Recht hat das Bundesamt den Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens mit dem Ziel, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG festzustellen, abgelehnt. Beim Kläger liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anerkennung von Abschiebungsverboten hinsichtlich Afghanistan nicht vor. Damit bedarf es auch keiner Prüfung, ob eine ein Wiederaufgreifen rechtfertigende Sach- oder Rechtslagenänderung eingetreten war.

Die vom Kläger geltend gemachten Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG sind nicht gegeben. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Juni 2008 (BVerwGE 131, 198) dient das durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) neu in das Aufenthaltsgesetz eingefügte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG der Umsetzung der Regelung über den subsidiären Schutz nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie – QualRL). Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG setzt – wie die umgesetzte Vorschrift des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie – einen internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikt voraus. Erst wenn Konflikte eine solche Qualität erreicht haben, wird danach ein Schutzbedürfnis für die betroffenen Zivilpersonen anerkannt. Der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist unter Berücksichtigung der Bedeutung dieses Begriffs im humanitären Völkerrecht auszulegen. Dabei sind insbesondere die vier Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht vom 12. August 1949 heranzuziehen. In Art. 3 GK 1949 wird der innerstaatliche bewaffnete Konflikt beschrieben. Eine Präzisierung erfährt der Begriff durch das am 8. Juni 1977 abgeschlossene Zusatzprotokoll – ZP – II zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (BGBl 1990 II S. 1637). Das Zusatzprotokoll II definiert in Art. 1 Nr. 1 den Begriff des nicht internationalen bewaffneten Konflikts und grenzt ihn in Nr. 2 von Fällen „innerer Unruhen und Spannungen“ ab, die nicht unter den Begriff fallen. Dieses Protokoll findet nicht auf Fälle wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen Anwendung. Danach liegt ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinn des humanitären Völkerrechts jedenfalls dann vor, wenn der Konflikt die Kriterien des Art. 1 Nr. 1 ZP II erfüllt. Er liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn die Ausschlusstatbestände des Art. 1 Nr. 2 ZP II erfüllt sind, es sich also nur um innere Unruhen und Spannungen handelt, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinn von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss hierfür aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe. Der völkerrechtliche Begriff des „bewaffneten Konflikts“ wurde gewählt, um klarzustellen, dass nur Auseinandersetzungen von einer bestimmten Größenordnung an in den Regelungsbereich der Vorschrift fallen. Es ist nicht anzunehmen, dass auch ein sogenannter „low intensity war“ die Qualität eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinn von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie erfüllt, zumal der Begriff wenig präzise erscheint. Weitere Anhaltspunkte für die Auslegung des Begriffs des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts können sich aus dem Völkerstrafrecht ergeben, insbesondere aus der Rechtsprechung der Internationalen Strafgerichtshöfe. Kriminelle Gewalt dürfte bei der Feststellung, ob ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, jedenfalls dann keine Berücksichtigung finden, wenn sie nicht von einer der Konfliktparteien begangen wird. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt liegt auch dann nicht vor, wenn die o.g. Voraussetzungen nur in einem Teil des Staatsgebiets erfüllt sind. Dies ergibt sich schon daraus, dass gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG auch für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die Regeln über den internen Schutz nach Art. 8 der Richtlinie gelten. Ein aus seinem Herkunftsstaat Geflohener kann nur auf eine landesinterne Schutzalternative verwiesen werden, wenn diese außerhalb des Gebiets eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts liegt. Damit wird anerkannt, dass sich ein innerstaatlicher Konflikt nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken muss. Auch nach Art. 1 ZP II genügt, dass die bewaffneten Gruppen Kampfhandlungen in einem „Teil des Hoheitsgebiets“ durchführen.

Die nunmehr in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG getroffene Regelung, die Abschiebungsschutz suchende Ausländer im Fall allgemeiner Gefahren auf die Aussetzung von Abschiebungen durch ausländerbehördliche Erlasse verweist, ist richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass sie nicht die Fälle erfasst, in denen die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie erfüllt sind. Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG sind Gefahren im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt sind, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG ermächtigt die oberste Landesbehörde zur Aussetzung der Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen für die Dauer von längstens sechs Monaten. Ein Ausländer, der die Voraussetzungen des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie erfüllt, hat nach Maßgabe des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels. Es widerspricht den Vorgaben der Richtlinie, wenn einem Ausländer, der Anspruch auf subsidiären Schutz nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie hat und nicht den Ausschlusstatbestand des Art. 24 Abs. 2 Halbsatz 2 der Richtlinie erfüllt, kein Aufenthaltstitel, sondern lediglich eine Duldung wegen Aussetzung der Abschiebung nach § 60a AufenthG erteilt würde. Deshalb ist § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG richtlinienkonform dahin auszulegen, dass er bei Vorliegen der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie keine Sperrwirkung entfaltet.

Die Tatbestandsvoraussetzungen der „erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben“ entsprechen denen einer „ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit“ im Sinn von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie. Hierbei ist zu prüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende – und damit allgemeine – Gefahr in der Person des Klägers so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG darstellt. Auch eine allgemeine Gefahr, die von einem bewaffneten Konflikt ausgeht, kann sich individuell verdichten und damit die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie erfüllen. Normalerweise hat ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt allerdings nicht eine solche Gefahrendichte, dass alle Bewohner des betroffenen Gebiets ernsthaft persönlich betroffen sein werden. Das ergibt sich unter anderem aus dem 26. Erwägungsgrund der Richtlinie, nach dem Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung darstellen, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre. Ausgeschlossen wird eine solche Betroffenheit der gesamten Bevölkerung oder einer ganzen Bevölkerungsgruppe allerdings nicht, was schon durch die im 26. Erwägungsgrund gewählte Formulierung „normalerweise“ deutlich wird. Eine allgemeine Gefahr kann sich aber insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Allgemeine Lebensgefahren, die lediglich Folge des bewaffneten Konflikts sind – etwa eine dadurch bedingte Verschlechterung der Versorgungslage – können nicht in die Bemessung der Gefahrendichte einbezogen werden. Im Übrigen gelten für die Feststellung der Gefahrendichte ähnliche Kriterien wie im Bereich des Flüchtlingsrechts für den dort maßgeblichen Begriff der Verfolgungsdichte bei einer Gruppenverfolgung. Hierfür müssen allerdings stichhaltige Gründe dargelegt werden. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Gefahr infolge von „willkürlicher Gewalt“ drohen muss.

20Die Frage, ob die in Afghanistan oder Teilen von Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung als vereinzelt auftretende Gewalttaten im Sinn von Art. 1 Nr. 2 ZP II oder aber als anhaltende Kampfhandlungen bewaffneter Gruppen im Sinne von Art. 1 Nr. 1 ZP II zu qualifizieren sind, kann dahinstehen, weil nach der Überzeugung des Senats der Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Bezüglich der Gefahrendichte ist zunächst auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die ein Kläger typischerweise zurückkehren wird (BVerwG vom 14.7.2009 BVerwGE 134, 188 = NVwZ 2010, 196). Zur Feststellung der Gefahrendichte ist eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung erforderlich (BVerwG vom 27.4.2010 NVwZ 2011, 51).

Der Kläger stammt nach seinen Angaben aus einem Ort im Distrikt Shekh Ali der nordwestlich der Provinz Kabul liegenden Provinz Parwan. Dort hat er nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vom 3. Februar 2011 bis ca. 1995 bei seinen Eltern und anschließend weitere drei Jahre bei Nachbarn gewohnt. Die Provinz Parwan hat ca. 500.000 Einwohner, wobei im Distrikt Shekh Ali rund 23.000 Einwohner leben (Informationszentrum Asyl und Migration des Bundesamts, Afghanistan, Zur Sicherheitslage in ausgewählten Provinzen, April 2009, S. 50). In dieser Dokumentation wurde die Sicherheitslage in dieser Provinz im Jahre 2009 als moderat eingestuft. Bei vier sicherheitsrelevanten Ereignissen im Jahr 2008 seien acht Zivilisten getötet und 81 Zivilisten verletzt worden. Allein bei einem Handgranatenüberfall auf eine Hochzeitsfeier seien sechs Zivilisten getötet und 64 verletzt worden. Wenn man diese Zahlen zueinander ins Verhältnis setzt, betrug die statistische Wahrscheinlichkeit, im Jahre 2008 in Parwan Opfer eines Anschlags zu werden, ca. 0,018% pro Jahr. Für die folgenden Jahre liegen keine nur auf die Provinz Parwan bezogenen Zahlen vor. Allerdings wird von der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (United Nations Assistance Mission in Afghanistan – UNAMA; Internet: unama.unmissions.org) diese Provinz gemeinsam mit den Provinzen Kabul, Panjisher, Wardak, Logar und Kapisa der Zentralregion Afghanistans zugerechnet (Einteilung s. UNAMA, Afghanistan Annual Report on Protection of Civilians in Armed Conflict 2009, Appendix II). Dies ist zudem von Bedeutung, als – wie vom Verwaltungsgericht angenommen – eine Rückkehr des Klägers auch nach Kabul in Betracht kommt, da er nach seinen Angaben in Parwan keine Verwandten mehr hat. Sowohl die Provinz Kabul mit Kabul als Hauptort wie die Provinz Parwan liegen in der Zentralregion. UNAMA hat für diese Region 2009 280 zivile Tote bei einer Gesamteinwohnerzahl von 5,7 Millionen gezählt. Für das erste Halbjahr 2010 wurden 103 zivile Tote in der Zentralregion ermittelt (UNAMA, Afghanistan, Mid Year Report 2010, Protection of Civilians in Armed Conflict, S. 28). Eine weitere Angabe hinsichtlich der Verletzten enthalten die genannten Quellen nicht. Allerdings werden für Gesamt-Afghanistan für 2009 insgesamt rund 6.000 tote oder verletzte Zivilisten genannt (D-A-CH, Korporation Asylwesen Deutschland – Österreich – Schweiz, Sicherheitslage in Afghanistan, Juni 2010). Bei 2.412 Toten (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, 11.8.2010) sind damit rund 3.600 Verletzte festzustellen. Das entspricht den für das Jahr 2009 von UNAMA für Gesamt-Afghanistan ermittelten 2.412 getöteten und 3.566 verletzten Zivilisten. Für das erste Halbjahr 2010 wurden von UNAMA 1.271 Tote und 1.997 Verletzte angegeben. Damit beträgt für die Jahre 2009/2010 das Verhältnis Tote zu Tote/Verletzte rund 1:2,6. Für die Zentralregion lassen sich zusammengefasst für 2010 geschätzt rund 300 Tote und 480 Verletzte, also insgesamt rund 800 tote und verletzte Zivilisten feststellen. Die statistische Wahrscheinlichkeit, in der Zentralregion (mit den Provinzen Parwan und Kabul) im Jahre 2010 Opfer eines Anschlags zu werden, betrug damit rund 0,015 %, wobei die Zahlen des 2. Halbjahrs nur geschätzt sind. Dass dieses Verhältnis für Parwan oder Kabul signifikant anders wäre, ist nicht ersichtlich.

Allerdings hat sich die Sicherheitslage in ganz Afghanistan landesweit verschlechtert. Der Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 27.7.2010, Stand: Juli 2010, (Lagebericht) geht für das Jahr 2010 von einer Zunahme sicherheitsrelevanter Ereignisse um 30 bis 50% gegenüber dem Vorjahr aus (S. 13). Nach Amnesty International (vom 20.12.2010) ist laut UNAMA im ersten Halbjahr 2010 ein Anstieg der toten und verletzten Zivilisten um 31% im Vergleich zum Jahre 2009 zu verzeichnen Insgesamt variiert die Sicherheitslage jedoch regional. Im Raum Kabul ist im Vergleich zum Vorjahr für das Jahr 2010 keine wesentliche Verschlechterung der Sicherheitslage festzustellen (Lagebericht S. 14; in der genannten Dokumentation von D-A-CH, S. 27, wird die Situation der Provinz Kabul als stabil bezeichnet). Gemäß der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (vom 18.10.2010) ist es allerdings regierungsfeindlichen Gruppierungen mittlerweile u.a. auch in der Provinz Parwan gelungen, sich auszubreiten. Im Rahmen der Vorbereitungen zu den Parlamentswahlen sei es dort zu Gewaltakten gekommen, ohne dass hierüber jedoch nähere Angaben gemacht werden. Die Stellungnahme des UNHCR vom 30. November 2009 nennt die Provinz Parwan nicht gesondert als von der mit dem Konflikt verbundenen Gewalt betroffenes Gebiet. Nach der Dokumentation „Afghanistan December 2009“ der Migrationsbehörde Schwedens vom 22. Januar 2010 „ist es zurzeit in Parwan recht ruhig“. Kabul wiederum wird nach dem Lagebericht (S. 14) als im landesweiten Vergleich objektiv betrachtet als leidlich sichere Stadt bezeichnet, auch wenn das Gefühl der Unsicherheit durch eine Serie spektakulärer Terroranschläge allgemein zugenommen habe. Nach alldem ist festzustellen, dass sich die Sicherheitslage im Jahre 2010 in der Zentralregion mit den Provinzen Parwan und Kabul selbst unter Berücksichtigung einer unzureichenden Schätzung für das 2. Halbjahr 2010 bei den Verletzten- und Totenzahlen nicht derart verschärft hat oder im Jahre 2011 sich derart verschärfen wird, dass bei Annahme eines innerstaatlichen oder internationalen Konflikts davon ausgegangen werden könnte, der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt habe ein so hohes Niveau erreicht, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

Es ist auch nicht anzunehmen, dass sich die allgemeine Gefahr bei dem Kläger durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzt. Diese ergeben sich auch nicht daraus, dass der Kläger der Minderheit der Hazara angehört. Nach dem Lagebericht (S. 21) hat sich die Situation der traditionell diskriminierten Hazara insgesamt verbessert, obwohl die hergebrachten Spannungen in lokal unterschiedlicher Intensität fortbestehen und auch immer wieder aufleben würden. Die Hazara seien in der öffentlichen Verwaltung zwar noch immer stark unterrepräsentiert, wobei dies aber eher eine Folge der früheren Marginalisierung zu sein scheine als eine gezielte Benachteiligung neueren Datums (Bundesasylamt der Republik Österreich, Die politische Partizipation der Minderheit der Hazara, 29.1.2010). Anhaltspunkte, dass der Kläger als Hazara in den Provinzen Parwan und Kabul einer besonderen Gefahr unterliegen würde, sind nicht ersichtlich. Neben zahlreichen anderen Ethnien leben Hazara schon immer in diesen Provinzen. Von den zwischen März 2002 und Januar 2009 mit Unterstützung des UNHCR in die Provinz Parwan zurückgekehrten 143.377 Personen waren 4.550 Hazara, von den in die Provinz Kabul zurückgekehrten rund 1,15 Millionen Personen waren 161.000 Hazara (Bundesamt, Sicherheitslage in Afghanistan, April 2009, S. 18 und 53). Auch die schiitische Religionszugehörigkeit des Klägers führt angesichts der Tatsache, dass rund 15% der afghanischen Bevölkerung schiitische Muslime sind und die Lage am Ashura-Fest seit 2007 ruhig geblieben ist (Lagebericht S. 22), nicht zu einem gefahrerhöhenden Umstand.

Gesichtspunkte, die für das Vorliegen der weiteren unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 und 3 AufenthG sprechen würden, sind ebenfalls nicht ersichtlich. Weder besteht für den Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan die für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG erforderliche konkrete Gefahr, der Verfolgung oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden, noch wird er weder einer Straftat gesucht (§ 60 Abs. 3 AufenthG).

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG mit entsprechender Aufhebung der Regelung in Nr. 2 des Bescheids vom 3. August 2007. Nachdem die Voraussetzungen für die Feststellung eines unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbots nicht erfüllt sind, sind – wie auch vom Kläger beantragt – Abschiebungsverbote nach nationalem Recht zu prüfen. Anhaltspunkte für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind nicht ersichtlich; aber auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG sind Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder aus humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längsten sechs Monate ausgesetzt wird.

Vorliegend beruft sich der Kläger auf die unzureichende Versorgungslage in Afghanistan, die für Rückkehrer ohne Berufsausbildung und familiäre Unterstützung bestehe. Damit macht der Kläger allgemeine Gefahren im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG geltend, die auch dann nicht als Abschiebungshindernis unmittelbar nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden können, wenn sie auch durch Umstände in der Person oder in den Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt werden, aber nur typische Auswirkungen der allgemeinen Gefahrenlage sind (BVerwG vom 8.12.1998 BVerwGE 108, 77). Dann greift grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, wonach es den Innenministern des Bundes und der Länder überlassen bleiben soll, durch humanitäre Abschiebestopp-Erlasse nach § 60a AufenthG oder durch andere Maßnahmen auch solche Ausländer wirksam zu schützen, denen bei einer Abschiebung Allgemeingefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG drohen. Die Verwaltungsgerichte haben diese Aufgaben- und Verantwortungszuweisung durch den parlamentarischen Gesetzgeber zu respektieren (BVerwG vom 12.7.2001 BVerwGE 114, 379). Eine solche Abschiebestopp-Anordnung besteht jedoch für die Personengruppe, der der Kläger angehört, nicht (mehr). Der Erlass des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 3. August 2005 (Az. IA2–2086.14-12/Ri), der dementsprechende Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder umsetzt, sieht vor, dass „vorrangig zurückzuführen sind nunmehr auch allein stehende männliche afghanische Staatsangehörige, die volljährig sind“. Ein Bleiberecht sollen danach Alleinstehende nur erhalten, wenn sie u.a. vor dem 24. Juni 1999 eingereist sind.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. insbesondere BVerwGE 99, 324; 102, 249; 108, 77; 114, 379; vom 8.4.2002 Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 59). Nur dann gebieten die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG – als Ausdruck eines menschenrechtlichen Mindeststandards –, jedem betroffenen Ausländer trotz Fehlens einer Ermessensentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 3, § 60a Abs. 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Diese Grundsätze über die Sperrwirkung bei allgemeinen Gefahren und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise verfassungskonforme Anwendung in den Fällen, in denen dem Betroffenen im Abschiebezielstaat eine extrem zugespitzte Gefahr droht, sind auch für die neue Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes maßgeblich (BVerwG vom 23.8.2006 Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 19).

Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor. Zwar scheitert die Überwindung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nicht bereits daran, dass der Kläger anderweitig Schutz vor Abschiebung hat. Geboten ist die verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dann, wenn der einzelne Asylbewerber sonst gänzlich schutzlos bliebe, d.h. wenn seine Abschiebung in den gefährlichen Zielstaat ohne Eingreifen des Bundesamts und der Verwaltungsgerichte tatsächlich vollzogen würde. Mit Rücksicht auf das gesetzliche Schutzkonzept ist sie aber auch dann zulässig, wenn der Abschiebung zwar anderweitige Hindernisse entgegenstehen, diese aber keinen gleichwertigen Schutz bieten. Gleichwertig ist der anderweitige Schutz nur, wenn er dem entspricht, den der Ausländer bei Vorliegen eines Erlasses nach § 60a Abs. 1 AufenthG hätte. Abzustellen ist damit, ob dem einzelnen Ausländer ein vergleichbar wirksamer Schutz vor Abschiebung vermittelt wird (BVerwG vom 12.7.2001 a.a.O.). Es widerspräche allerdings dem Schutzkonzept des Asylverfahrens- und des Aufenthaltsgesetzes, den Asylbewerber mit Rücksicht auf noch unentschiedene sonstige Bleiberechte oder Duldungsansprüche oder wegen eines vorübergehenden faktischen Vollstreckungshindernisses ohne zielstaatsbezogene Schutzentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu lassen. Insbesondere sollen das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte nicht mit einer Untersuchung aller denkbaren anderweitigen tatsächlichen Hindernisse oder Schutzansprüche im Einzelfall belastet werden, sondern sich auf die Prüfung beschränken können, ob eine bestimmte Erlasslage oder eine bereits schriftlich erteilte Aufenthaltserlaubnis oder Duldung aus individuellen Gründen weiteren Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung entbehrlich macht.

Gemessen an diesen Grundsätzen besteht hier für den Kläger kein einer Erlasslage vergleichbarer wirksamer Schutz vor Abschiebung. Nach den Angaben in der mündlichen Verhandlung vom 3. Februar 2011 besitzt der Kläger derzeit lediglich eine Duldung im Hinblick auf die Durchführung des Asylfolgeverfahrens. Soweit die Beklagte darauf verweist, aufgrund einer telefonischen Auskunft der zuständigen Ausländerbehörde, werde dem Kläger voraussichtlich eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt werden, kann dies für das Absehen einer Schutzentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht genügen. Diese Aussage einer unzuständigen Behörde ohne die erforderliche Schriftform erfüllt nicht die Voraussetzungen einer wirksamen Zusicherung gemäß Art. 38 BayVwVfG. Eine Bindung der Ausländerbehörde ist nicht eingetreten. Das gleiche gilt für den Vortrag der Beklagten, aufgrund des deutschen Kindes stünde dem Kläger ein Bleiberecht nach Art. 6 GG zu. Auch insoweit fehlt es an einer Erklärung der Ausländerbehörde, dem Kläger ein entsprechendes Bleiberecht in Form einer Aufenthaltserlaubnis oder einer individuellen Duldung zu gewähren. Selbst wenn ein solcher Anspruch besteht, bliebe eine Inzidentprüfung über die voraussichtliche Entscheidung der Ausländerbehörde letztendlich mit Unwägbarkeiten belastet. Aus Gründen der Rechtssicherheit und der Verfahrensökonomie lässt sich eine Sperrwirkung nach § 60 Abs. 7 Satz 3, § 60a Abs. 1 AufenthG damit nicht begründen.

31Die allgemeine Gefahr in Afghanistan hat sich aber für den Kläger nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung hierfür geforderten Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Auch müssen sich die Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zuletzt BVerwG vom 29.6.2010 NVwZ 2011, 48).

Nach den Erkenntnismitteln, die Gegenstand des Verfahrens sind, ist jedoch nicht davon auszugehen, dass der Kläger als allein stehender arbeitsfähiger männlicher afghanischer Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Nach sämtlichen Auskünften und Erkenntnismitteln ist zwar die Versorgungslage in Afghanistan schlecht. So weist der Lagebericht (S. 33 f.) darauf hin, dass der Staat, einer der ärmsten der Welt, in extremen Maß von Geberunterstützung abhängig ist. Weniger als zwei Drittel der laufenden Ausgaben können durch eigene Einnahmen gedeckt werden; der Entwicklungshaushalt ist zu 100% geberfinanziert. 2010 werde zwar eine über dem langjährigen Mittel liegende Ernte erwartet. Allerdings führe die verbreitete Armut landesweit vielfach zu Mangelernährung. Problematisch bleibe die Lage der Menschen insbesondere in den ländlichen Gebieten des zentralen Hochlands. Staatliche soziale Sicherungssysteme existierten praktisch nicht. Die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen in Städten sei nach wie vor schwierig. Die medizinische Versorgung sei – trotz erkennbarer Verbesserungen – immer noch unzureichend. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe verweist in ihrem Update vom 11. August 2010 (a.a.O., S. 16 f.) darauf, dass in Afghanistan, dem zweitärmsten Land der Welt, weiterhin über ein Drittel der Bevölkerung in Armut leben würde. Der Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und Unterkünften habe sich aufgrund der gewaltsamen Auseinandersetzungen, insbesondere im Süden und Südosten des Landes massiv verschlechtert. In Kabul habe die Regierung mit der Urbanisierung, insbesondere was die sanitären Bedingungen betreffe, nicht Schritt halten können; die Lage werde zunehmend besorgniserregend. In weiten Teilen Afghanistans sei die Lebensmittelknappheit endemisch. Naturkatastrophen, jahrelange Trockenheit, hohe Lebensmittelpreise und der bewaffnete Konflikt hätten die Versorgungslage weiter verschärft. Die Arbeitslosenquote betrage rund 40%. Die Zerstörung von Wohnhäusern habe zu Wohnungsknappheit geführt. 46% der Rückkehrer sehe sich mit Unterkunftsproblemen konfrontiert und 28% verfügten über kein stabiles Einkommen. Die medizinische Versorgung sei völlig unzureichend. Kapazitäten, weitere Rückkehrer aufzunehmen, bestünden nicht.

In seinem Gutachten an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 7. Oktober 2010 verweist Dr. Mostafa Danesch u.a. darauf, dass 36% der Afghanen in absoluter Armut leben würden. Das durchschnittliche Monatseinkommen in Afghanistan betrage 35 Dollar. Die Lebensverhältnisse in Afghanistan seien inzwischen so dramatisch, dass ein alleinstehender Rückkehrer keinerlei Aussicht hätte, sich aus eigener Kraft eine Existenz zu schaffen. Auch betrage die Arbeitslosenquote in Kabul schätzungsweise 60%. Das einzige „soziale Netz“, das in Afghanistan in der Lage sei, einen älteren Arbeitslosen aufzufangen, sei die Großfamilie und/oder der Freundeskreis. Bereits in früheren Auskünften (etwa vom 21.8.2008 und vom 3.12.2008) hatte Danesch die Versorgungslage in Afghanistan und insbesondere in Kabul als katastrophal bezeichnet. Amnesty International weist in seinen Stellungnahmen vom 20. Dezember 2010 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof und vom 29. September 2009 an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ebenfalls darauf hin, dass sich die schon in den letzten Jahren hoch problematische Versorgungslage in Afghanistan noch weiter verschlechtert habe. Eines der dringenden Probleme sei heute bedingt durch eine andauernde Dürre die Nahrungsmittelversorgung. Die Lebensmittelpreise hätten sich entsprechend vervielfacht. Nichtregierungsorganisationen und andere internationale Organisationen würden bei ihrer humanitären Arbeit durch die zunehmenden Anschläge in ihrer Arbeit noch stärker eingeschränkt als bisher. Auch in Kabul verschlechtere sich die ohnehin verheerende humanitäre Situation weiter, die vor allem durch den rasanten Bevölkerungsanstieg und die kriegsbeschädigte Infrastruktur bedingt sei. Es herrsche akute Wohnungsnot. Der Großteil der Einwohner von Kabul lebe in slumähnlichen Wohnverhältnissen. Es fehlten sanitäre Einrichtungen und vor allem die Trinkwasserversorgung sei sehr schlecht.

Damit ist zweifellos von einer äußerst schlechten Versorgungslage in Afghanistan auszugehen. Im Wege einer Gesamtgefahrenschau ist jedoch nicht anzunehmen, dass dem Kläger bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohe oder er alsbald schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte. So wird im Lagebericht (S. 33) darauf hingewiesen, dass der Internationale Währungsfonds in einer aktuellen Untersuchung vom April 2010 bei der Wirtschaftslage bzw. den makroökonomischen Rahmenbedingen durchaus positive Tendenzen sehe: Bis etwa Mitte des Jahrzehnts sei mit einem realen jährlichen Wirtschaftswachstums zwischen 6 und 8% zu rechnen. Aufgrund günstiger Witterungsbedingungen sei die Erntebilanz 2009 deutlich besser ausgefallen als im Dürrejahr 2008; dies habe zu einer signifikanten Verbesserung der Gesamtversorgungslage im Land geführt. 2010 werde eine etwas niedrigere Ernte erwartet, die jedoch immer noch deutlich über dem langjährigen Mittel liege. Von diesen verbesserten Rahmenbedingungen dürften grundsätzlich auch die Rückkehrer profitiert haben. Auch sei zwar die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen in den Städten nach wie vor schwierig. Allerdings bemühe sich das Ministerium für Flüchtlinge und Rückkehrer um eine Ansiedlung der Flüchtlinge in Neubausiedlungen für Rückkehrer. Dort erfolge die Ansiedlung unter schwierigen Rahmenbedingungen; für eine permanente Ansiedlung seien die vorgesehenen „townships“ kaum geeignet. Soweit ausgeführt wird, der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung sei häufig nur sehr eingeschränkt möglich, bedeutet dies andererseits, dass jedenfalls der Tod oder schwerste Gesundheitsgefährdungen alsbald nach der Rückkehr nicht zu befürchten sind.

Ähnliches ergibt sich aus den anderen Erkenntnismitteln. Die Feststellungen in der Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 11. August 2010 (a.a.O.) zu den Unterkunftsproblemen und zum fehlenden stabilen Einkommen führen nicht zur Annahme einer extremen Gefahrenlage in dem beschriebenen Sinn. Für den Hinweis, dass viele Rückkehrer sich am Rande der Stadt Kabul in informellen Siedlungen niedergelassen hätten, wo oft kein Zugang zu Elektrizität, sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen gegeben sei, gilt das Gleiche. Hinsichtlich der Arbeitsmöglichkeiten geht Danesch in seiner Auskunft vom 7. Oktober 2010 (a.a.O.) davon aus, dass am ehesten noch junge kräftige Männer, häufig als Tagelöhner, einfache Jobs, bei denen harte körperliche Arbeit gefragt ist, fänden. In diesen Sektor, meist im Baugewerbe, ströme massiv die große Zahl junger Analphabeten. Ein älterer Mann, der vor lange im Westen gelebt habe, hätte keine Chance auf einen solchen Arbeitsplatz. Daraus ergibt sich jedoch im Umkehrschluss, dass bei anderen Voraussetzungen eine Beschäftigung möglich ist. Nach Amnesty International (Afghanistan Report 2010) leben Tausende von Vertriebenen in Behelfslagern, wo sie nur begrenzen Zugang zu Lebensmitteln und Trinkwasser, Gesundheitsversorgung und Bildung erhalten. Eine Mindestversorgung ist damit aber gegeben.

Das Erfordernis des unmittelbaren – zeitlichen – Zusammenhangs zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutverletzung setzt zudem für die Annahme einer extreme Gefahrensituation wegen der allgemeinen Versorgungslage voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann (Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, RdNr. 54 zu § 60). Mangelernährung, unzureichende Wohnverhältnisse und eine schwierige Arbeitssuche führen jedoch nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit „alsbald“ zu einer Extremgefahr. Diese muss zwar nicht sofort, also noch am Tag der Ankunft eintreten. Erforderlich ist jedoch eine hinreichende zeitliche Nähe zwischen Rückkehr und unausweichlichem lebensbedrohenden Zustand. Diese ist nicht ersichtlich (vgl. auch BVerwG vom 29.6.2010 a.a.O.).

Nach alldem ist davon auszugehen, dass der Kläger, ein heute knapp 25jähriger lediger, gesunder Afghane, der mangels familiärer Bindungen keine Unterhaltslasten hat, auch ohne nennenswertes Vermögen und ohne abgeschlossene Berufsausbildung im Falle einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten etwa in Kabul wenigstens ein kümmerliches Einkommen zu erzielen, damit ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren. Hierfür spricht auch, dass der Kläger nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vom 3. Februar 2011 während seines dreijährigen (illegalen) Aufenthalts in Iran zunächst auf einer Baustelle, dann in einer Plastikfirma gearbeitet und sich das Geld für seine Ausreise im Wesentlichen selber finanziert hat. Die für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan dort alsbald verhungern würde oder ähnlich existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre, liegt nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei.

Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.