BVerfG, Beschluss vom 08.12.2010 - 1 BvR 381/10
Fundstelle
openJur 2012, 132928
  • Rkr:
Tenor

Der Beschluss des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 17. Dezember 2009 - 1 T 248/09 - verletzt das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Landgericht Frankenthal (Pfalz) zurückverwiesen.

Der Beschluss des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 6. Januar 2010 - 1 T 248/09 - ist gegenstandslos.

Das Land Rheinland-Pfalz hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung der Festsetzung von Kosten für während eines Zivilprozesses eingeholte Privatgutachten.

Die Beschwerdeführer wurden in einem Verkehrsunfallprozess auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Die Beschwerdeführerin zu 1) war mit einem bei der Beschwerdeführerin zu 3) haftpflichtversicherten Fahrzeug des Beschwerdeführers zu 2) gegen eine Straßenlaterne gerutscht. Der Kläger behauptete, dass die Beschwerdeführerin zu 1) beim Wegsetzen des mit der Straßenlaterne kollidierten Fahrzeugs mit seinem Fahrzeug zusammengestoßen sei. Das angerufene Amtsgericht erhob Beweis durch Vernehmung von Zeugen sowie Einholung eines Sachverständigengutachtens, welches der gerichtlich bestellte Sachverständige später ergänzte. Die Beschwerdeführer beauftragten einen Sachverständigen mit der Erstellung eines Unfallrekonstruktionsgutachtens, welches sie in den Prozess einführten.

Mit nicht angegriffenem Urteil verurteilte das Amtsgericht die Beschwerdeführer zur Zahlung des geforderten Schadensersatzes. Auf die Berufung der Beschwerdeführer erließ das Landgericht einen Beweisbeschluss, mit welchem es ankündigte, der gerichtliche Sachverständige solle seine Gutachten im Termin zur mündlichen Verhandlung erläutern und zu dem seitens der Beschwerdeführer vorgelegten Privatgutachten Stellung nehmen. Im Termin zur mündlichen Verhandlung erhob das Landgericht Beweis durch Vernehmung von Zeugen und Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen. Innerhalb einer am Schluss des Termins gesetzten Frist zur Stellungnahme legten die Beschwerdeführer ein ergänzendes Privatgutachten des von ihnen beauftragten Sachverständigen vor. Mit nicht angegriffenem Urteil änderte das Landgericht das amtsgerichtliche Urteil und wies die Klage ab. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe der Kläger den Beweis für eine Berührung beider Fahrzeuge nicht führen können. Die vernommenen Zeugen hätten einen Zusammenstoß beider Fahrzeuge nicht wahrgenommen und der gerichtliche Sachverständige habe in seinem Gutachten einen direkten Nachweis der Berührung beider Fahrzeuge nicht führen können.

Mit nicht angegriffenem Beschluss hat das Amtsgericht auf Antrag der Beschwerdeführer Kosten gegen den Kläger festgesetzt, zugleich aber die beantragte Festsetzung der Kosten in Höhe von jeweils fast 2.000,- € für die von den Beschwerdeführern eingeholten Privatgutachten abgelehnt. Mit angegriffenem Beschluss vom 17. Dezember 2009 hat das Landgericht die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführer gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss zurückgewiesen. Die Kosten der Privatgutachten seien nicht erstattungsfähig. Nach der Rechtsprechung zum maßgebenden § 91 ZPO seien Kosten eines - wie hier - im Laufe des Rechtsstreits vom Gegner eingeholten Privatgutachtens nur ausnahmsweise erstattungsfähig. Eine Erstattung komme nur in Betracht, wenn das im Rechtsstreit vorgelegte Gutachten den Verlauf dieses zu Gunsten der vorlegenden Partei beeinflusst habe. Es reiche nicht aus, dass das Privatgutachten eingeholt worden sei, um ein gerichtliches Sachverständigengutachten zu widerlegen. Erstattungsfähig seien die Kosten eines Privatgutachtens nur dann, wenn der Rechtsstreit durch die Vorlage des Gutachtens nachweislich gefördert worden sei, insbesondere den Verlauf des Rechtsstreits zu Gunsten der vorliegenden Partei beeinflusst habe, was hier aber nicht der Fall sei. Das in erster Instanz eingeholte Gutachten sei vom Amtsgericht nicht berücksichtigt worden. Der Verlauf des Rechtsstreits sei auch im Berufungsverfahren durch die eingeholten Privatgutachten nicht zu Gunsten der Beschwerdeführer beeinflusst worden. Zwar treffe es zu, dass die Berufungszivilkammer im Beweisbeschluss dem Sachverständigen aufgegeben habe, im Termin auch zu dem erstinstanzlich vorgelegten Privatgutachten Stellung zu nehmen. Die Entscheidung des Berufungsgerichts sei jedoch nicht durch die Privatgutachten beeinflusst worden, sondern habe maßgebend darauf beruht, dass der gerichtlich bestellte Sachverständige einen positiven Nachweis für eine Berührung der Fahrzeuge nicht habe führen können; im Übrigen beruhe die Entscheidung auf der Würdigung von Zeugenaussagen.

Mit angegriffenem Beschluss vom 6. Januar 2010 hat das Landgericht die Anhörungsrüge und Gegenvorstellung der Beschwerdeführer zurückgewiesen. Die Anhörungsrüge könne keinen Erfolg haben, weil das Gericht den Anspruch der Beschwerdeführer auf rechtliches Gehör nicht verletzt habe. Auch die Gegenvorstellung führe nicht zum Erfolg. Die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO lägen nicht vor. Es sei eine Einzelfallentscheidung, ob unter Anwendung der Rechtsprechung zur Frage der Erstattungsfähigkeit von Privatgutachten diese im konkreten Fall gegeben sei.

II.

Die Beschwerdeführer rügen die Verletzung ihres Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und des Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG. Das Landgericht habe willkürlich davon abgesehen, die Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 ZPO zuzulassen, obwohl es seine Entscheidung auf den in der obergerichtlichen Rechtsprechung umstrittenen Rechtssatz gestützt habe, dass die Kosten eines im Rechtsstreit vorgelegten Privatgutachtens nur dann zu erstatten seien, wenn das Gutachten den Prozess zu Gunsten der vorlegenden Partei beeinflusst habe. Auf diese Weise habe das Landgericht den Zugang zur Rechtsbeschwerdeinstanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert.

III.

Gelegenheit zur Stellungnahme haben die Landesregierung Rheinland-Pfalz und der Kläger des Ausgangsverfahrens erhalten.

IV.

 Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, soweit sich die Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Landgerichts vom 17. Dezember 2009 wenden, § 93a Abs. 2 Buchstabe b, § 93b, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und unter Berücksichtigung der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits hinreichend geklärten verfassungsrechtlichen Maßstäbe des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz begründet.

1. Der angegriffene Beschluss vom 17. Dezember 2009 verletzt das Recht der Beschwerdeführer auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.

a) Für den Zivilprozess ergibt sich das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (vgl. BVerfGE 85, 337 <345>; 97, 169 <185>). Es begründet zwar keinen Anspruch auf eine weitere Instanz; die Entscheidung über den Umfang des Rechtsmittelzuges bleibt vielmehr dem Gesetzgeber überlassen (vgl. BVerfGE 54, 277 <291>; 89, 381 <390>; 107, 395 <401 f.>). Hat der Gesetzgeber sich jedoch für die Eröffnung einer weiteren Instanz entschieden und sieht die betreffende Verfahrensordnung dementsprechend ein Rechtsmittel vor, so darf der Zugang dazu nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 69, 381 <385>; 74, 228 <234>; 77, 275 <284>, BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. November 2008 - 1 BvR 2587/06 -, NJW 2009, S. 572 <573>).

b) Das Landgericht hätte die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss vom 17. Dezember 2009 sowohl wegen grundsätzlicher Bedeutung als auch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nach § 574 Abs. 3 Satz 1 ZPO zulassen müssen. Das Landgericht hat ohne Sachgrund von einer Zulassung abgesehen und auf diese Weise den Zugang zur Rechtsmittelinstanz unzumutbar erschwert.

aa) Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, wenn sie eine klärungsbedürftige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt, oder wenn andere Auswirkungen des Rechtsstreits auf die Allgemeinheit deren Interessen in besonderem Maße berühren (vgl. BGHZ 151, 221 <223>; 154, 288 <291> zu § 543 ZPO). Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, wenn zu ihr unterschiedliche Auffassungen vertreten werden und die Frage höchstrichterlich noch nicht geklärt ist (vgl. Ball in: Musielak, ZPO, 7. Auflage 2009, § 543 ZPO Rn. 5a; Wenzel in: MüKo, ZPO, 3. Auflage 2007, § 543 ZPO Rn. 7). Eben dies ist der Fall.

(1) Das Landgericht hat seine Entscheidung tragend auf den Rechtssatz gestützt, dass eine Erstattung der Kosten während des Rechtsstreits eingeholter Privatgutachten - von besonderen, hier nicht vorliegenden Fallkonstellationen abgesehen - nur dann in Betracht komme, wenn das Gutachten den Verlauf des Rechtsstreits zu Gunsten der Partei beeinflusst habe. Zwar wird diese Rechtsauffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung durchaus vertreten (vgl.  OLG Bamberg, Beschluss vom 12. Februar 1990 - 3 W 7/90 -, JurBüro 1990, S. 293), andere Oberlandesgerichte hingegen machen eine Beeinflussung des Prozesses zu Gunsten der vorlegenden Partei nicht zur Voraussetzung der Erstattungsfähigkeit (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 16. August 2001 - 23 W 290/01 -, RPfleger 2001, S. 616; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 8. Februar 1988 - 5 W 27/88 -, JurBüro 1998, S. 1360 f.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 11. Juli 2007 - 8 W 265/07 -, juris, Rn. 16; wohl auch OLG Frankfurt, Beschluss vom 8. Dezember 1983 - 6 W 126/83 -, JurBüro 1984, S. 1083).

(2) Selbst wenn man die Entscheidung des Landgerichts so verstehen wollte, dass nicht die Beeinflussung des Prozesses zu Gunsten der vorlegenden Partei, sondern bloß eine (nachweisliche) Förderung des Prozesses durch das Gutachten Voraussetzung für die Erstattung der Gutachterkosten sei, wird auch Letzteres von Oberlandesgerichten teilweise nicht zur Voraussetzung der Erstattungsfähigkeit gemacht (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 16. August 2001 - 23 W 290/01 -, RPfleger 2001, S. 616; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 8. Februar 1988 - 5 W 27/88 -, JurBüro 1998, S. 1360 f.).

(3) Damit handelt es sich bei der Frage nach dieser Voraussetzung der Erstattungsfähigkeit der Kosten eines Privatgutachtens um eine Frage von - wie die vielfache Befassung in der obergerichtlichen Judikatur belegt - allgemeinem Interesse, die einer allgemeinen Klärung zugänglich und, da der Bundesgerichtshof hierzu bislang keine Stellung genommen hat, auch klärungsbedürftig ist. Das Landgericht hat sich mit der Auffassung, es sei jeweils eine Frage des Einzelfalls, ob im konkreten Fall die Erstattungsfähigkeit der Gutachtenskosten gegeben sei, in nicht vertretbarer Weise den Blick dafür versperrt, dass die hinter der Einzelfallentscheidung stehende Frage, ob die Kosten während des Rechtsstreits zur Widerlegung gerichtlicher Gutachten eingeholter Privatgutachten nur dann in Betracht komme, wenn das Gutachten den Verlauf des Rechtsstreits zu Gunsten der Partei beeinflusst oder jedenfalls nachweislich gefördert hat, einer allgemeinen Beantwortung zugänglich ist und deshalb zur Zulassung der Rechtsbeschwerde hätte führen müssen.

bb) Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne des § 574 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. ZPO ist die Rechtsbeschwerde in Divergenzfällen zuzulassen, nämlich wenn die zu treffende Entscheidung von der Entscheidung eines höher- oder gleichrangigen Gerichts abweicht, in der ein und dieselbe Rechtsfrage anders beantwortet wird (vgl. BGHZ 154, 288 <292 f.>). Das Landgericht weicht mit seinem Beschluss in der vorgenannten Weise von Entscheidungen höherrangiger Gerichte ab und hätte auch aus diesem Grund die Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 3 Satz 1 ZPO zulassen müssen.

2. Wegen des Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG ist der angegriffene Beschluss vom 17. Dezember 2009 nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen. Ob der Beschluss auch die Rechte der Beschwerdeführer aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 3 Abs. 1 GG verletzt (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Februar 2008 - 2 BvR 899/07 -, NJW 2008, S. 1938), kann offen bleiben.

3. Der die Verletzung nicht beseitigende Beschluss des Landgerichts über die Anhörungsrüge vom 6. Januar 2010 ist damit gegenstandslos.

4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

5. Der Gegenstandswert wird unter Berücksichtigung der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hierzu entwickelten Kriterien (vgl. BVerfGE 79, 357 sowie 79, 365) mit Rücksicht auf das Obsiegen der Beschwerdeführer auf 8.000 &euro; festgesetzt.

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen.