OLG Rostock, Beschluss vom 28.12.2009 - 3 W 66/09
Fundstelle
openJur 2010, 487
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 3 O 10/09
Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten wird - unter Zurückweisung der sofortigen Beschwerde im Übrigen - der Beschluss des Landgerichts Neubrandenburg dahin abgeändert, dass die Kosten des Rechtsstreits gegeneinander aufgehoben werden.

2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

3. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Gründe

Die gem. §§ 91a Abs. 2, 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zulässige sofortige Beschwerde ist im erkannten Umfang begründet. Entscheidende Frage ist, ob vor Anhängigkeit der Räumungsklage am 16.11.2008 die Beklagte sich auf eine Zusage hat verlassen dürfen, dass ihr eine Räumungsfrist bis Ende März 2008 zugestanden wird. Die Antwort auf diese Frage ist nach den für eine Kostenentscheidung gem. § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO maßgeblichen Grundsätzen offen, weshalb eine Kostenaufhebung gerechtfertigt ist.

1.

Entscheidungsgrundlage im Rahmen des § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO ist der Stand des Verfahrens im Zeitpunkt, da die übereinstimmende Erledigung wirksam geworden ist. Im Falle, dass die Erledigungserklärungen schriftlich erfolgen, ist dies der Zeitpunkt des Eingangs der zustimmenden Erledigungserklärung. Ist die letztgenannte Erklärung mit neuem Tatsachenvortrag verbunden, ist dem Gegner lediglich, aber auch unbedingt Gelegenheit zu geben, sich hierzu zu erklären (arg ex § 283 ZPO). Bislang nicht eindeutig geklärt ist die Frage, ob darüber hinaus weitere Angriffs- und Verteidigungsmittel zuzulassen sind und insbesondere ob eine Beweisaufnahme erfolgen kann bzw. darf (vgl. hierzu Musielak/Wolst,ZPO, 7. Aufl., § 91a Rn 22 mwN; zum Insolvenzeröffnungsverfahren vgl. BGH ZInsO 2009, 1206). Die Frage wird man nicht schon mit dem Argument verneinen können, mit der übereinstimmenden Erledigung ende die Rechtshängigkeit. Denn dies gilt nur bzgl. der Hauptsache (MünchKommZPO/Lindacher, 3. Aufl., § 91a Fn 99). Wenig überzeugend ist es auch, darauf abzustellen, die Beteiligten wollten allein eine "Billigkeitsentscheidung". Demgegenüber ist es mit der Rechtswirklichkeit, aber auch dem Wortlaut des Gesetzes nur schwer vereinbar, wenn die Literatur ausnahmsweise nicht nur bereits eingeführte Tatsachen und vorliegende Beweise berücksichtigen will, sondern auch später eingeführte Tatsachen und vorgelegte präsente Beweismittel wie z.B. Urkunden, Sachverständigengutachten etc. (Musielak/Wolst, ZPO, a.a.O., § 91a Rn 22). Die gegenläufigen Normzwecke "Kostengerechtigkeit" und "Verfahrensökonomie" lassen sich dadurch ausgleichen, dass man dem Gericht eine Prognoseentscheidung abverlangt. In welchem Umfang das Gericht neue Angriffs- und Verteidigungsmittel bzw. deren Präzisierung zulässt, bleibt seinem grds. nicht nachprüfbaren Ermessen vorbehalten. Im Rahmen seiner Entscheidung muss das Gericht nicht nur die unstreitigen und die zum o.g. Zeitpunkt vorliegenden, sondern auch bei Weiterführung des Verfahrens möglichen und - ggf. erst nach erforderlichen Hinweisen - wahrscheinlichen Angriffs- und Verteidigungsmittel bedenken und würdigen. Hierbei gilt nicht das strenge und grundsätzliche Verbot der Beweisantizipation.

Bei der Prüfungstiefe stellt sich das nämliche Problem. Die Kostengerechtigkeit verlangt eine möglichst umfassende und abschließende Würdigung aller streitentscheidenden Probleme rechtlicher und tatsächlicher Natur. Dazu würde sowohl die Beantwortung schwieriger Rechtsfragen gehören als auch die Klärung komplexer Sachfragen etwa anhand vorliegender Gutachten, Urkunden und substanziierten Parteivortrags. Dass dies nicht der Verfahrensökonomie entsprechen kann, liegt auf der Hand. Deshalb ist nach richtiger Ansicht keine abschließende und umfassende Prüfung der Sach- und Rechtslage erforderlich; ausreichend und genügend ist vielmehr eine summarische Prüfung des bisherigen und zukünftigen Prozessverlaufs einschließlich der aufgeworfenen Rechtsfragen (BVerfG, Beschl. v. 18.09.1992, 1 BvR 1074/92, NJW 1993, 1060, 1061; BGH, Beschl. v. 28.10.2008, VIII ZB 28/08, NJW-RR 2009, 422), wobei es für die Beantwortung von rechtlichen und tatsächlichen Streitfragen genügen kann, auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit abzustellen (BGH, Beschl. v. 16.09.1993, V ZR 246/92, NJW 1994, 256, 257). Ein summarischer Prüfungsmaßstab, eine Beweisantizipation und eine Entscheidung auf der Grundlage überwiegender Wahrscheinlichkeit sind dem Prozessrecht nicht fremd. Insbesondere im Rahmen von Eilentscheidungen wird ein entsprechendes Vorgehen befürwortet (vgl. u.a. Musielak/Lackmann, a.a.O., § 707 Rn 7; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 24.07.1997, 1 U 605/97, MDR 1997, 1157).

Nach zutreffender Ansicht darf das Beschwerdegericht die angegriffene Entscheidung nicht uneingeschränkt überprüfen und insbesondere keine eigene Ermessensentscheidung treffen (so ausdrücklich Musielak/Wolst a.a.O., § 91a Rn 25). Richtig erscheint es, die Überprüfungsbefugnis darauf zu beschränken, ob das erstinstanzliche Gericht das ihm eingeräumte Ermessen fehlerfrei gebraucht hat. Die Kontrolle ist reduziert darauf, ob dem erstinstanzlichen Gericht entscheidungsrelevante Verfahrensfehler unterlaufen sind, ob ein Ermessensnicht- oder fehlgebrauch gegeben ist und - insbesondere - ob das erstinstanzliche Gericht alle entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte berücksichtigt hat. Der Sinn des vom Gesetzgeber eingeräumten Ermessens würde verfehlt, wenn das Beschwerdegericht demgegenüber berechtigt oder gar verpflichtet wäre, ein fehlerfreies Ermessen durch das erstinstanzliche Gericht durch eine eigene Ermessensentscheidung zu ersetzen (BGH, Beschl. v. 28.02.2007, XII ZB 165/06, NJW-RR 2007, 1586 Tz 15 zu § 93a; OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.10.2007, 17 WF 192/07, FamRZ 2008, 529 Tz. 11). Für diese Sichtweise sprechen letztlich auch prozessökonomische Gründe. Nur wenn ein Ermessensfehler festzustellen ist, muss das Beschwerdegericht eine eigene Ermessensentscheidung treffen.

2.

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Kostenentscheidung des Landgerichts zu beanstanden und wie erkannt zu korrigieren.

Die Beklagte hat in der Klageerwiderung substanziiert vorgetragen und unter Beweis gestellt, dass der Bürgermeister der klagenden Stadt ihr am 12.03.2008 telefonisch mitgeteilt habe, dass die gepachtete Gaststätte zwar anderweitig vergeben sei; die Beklagte möge sich aber noch am heutigen Tag bei den beauftragten Anwälten melden und mitteilen, dass die Gaststätte spätestens bis Ende März 2008 geräumt werde; dann werde man ohne weiteren Streit vernünftig auseinandergehen. Unterstellt man diesen Vortrag als wahr, wäre die Klage verfrüht erhoben worden und eine Kostenverteilung zu Lasten der klagenden Stadt unter Heranziehung des in § 93 ZPO zum Ausdruck kommenden Gedankens gerechtfertigt. Denn die Klage ist bereits unter dem 12.03.2008 erstellt worden und am 16.03.2008 bei Gericht eingegangen.

Das Landgericht hat das ihm eingeräumte Ermessen im Rahmen der Beweisantizipation fehlerhaft ausgefüllt, indem es - schlicht - ausgeführt hat, den Beweis "hätte die Beklagte voraussichtlich nicht führen können, denn zur Aufklärung hätten nur Herr Sch. und der Bürgermeister der klagenden Stadt zur Verfügung gestanden, und es sei nichts dafür ersichtlich, dass ein anderer als der bisher vorgetragene - gegensätzliche - Gesprächsinhalt hätte festgestellt werden können". Dies ist eine reine Mutmaßung, die eine Beweisantizipation allein zu Lasten der Beklagten und zugunsten der klagenden Stadt nicht rechtfertigt. Insbesondere hat das Landgericht nicht hinreichend berücksichtigt, dass der Vortrag der Beklagten eine gewisse Bestätigung durch das - unstreitige - Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 12.03.2008 an die Prozessbevollmächtigten der klagenden Stadt erfährt. In diesem heißt es, die Beklagte habe die Sache mit dem Bürgermeister der klagenden Stadt besprochen und sie werde vereinbarungsgemäß die Gaststätte bis zum 30.03.2008 räumen. Die Prozessbevollmächtigten hätten - entgegen ihren Ausführungen im Antwortschreiben vom 17.03.2009 - auch ohne Weiteres erkennen können, dass der Prozessbevollmächtigte in der vorliegenden Sache geschrieben hat. Im Rubrum wird die Kurzbezeichnung der Beklagten "FSG" angegeben und im Text die Adresse der streitgegenständlichen Gaststätte.

Umstände dafür, dass die von der Beklagten benannten Zeugen die behauptete Vereinbarung bzw. Zusage nicht bestätigen würden, vermag der Senat nicht zu erkennen. In einem solchen Fall ist es gerechtfertigt und geboten, das Beweisergebnis nicht vorwegzunehmen und von einem offenen Beweisergebnis auszugehen. Die klagende Stadt hätte es in der Hand gehabt, durch Umstellung ihres Klageantrags auf Feststellung der Erledigung eine Beweisaufnahme zu erzwingen und ein derartiges Ergebnis zu vermeiden (vgl. zum diesbezüglichen Streitstand Zöller/Vollkommer, Komm. zur ZPO, 27. Aufl., § 91a Rn 33 m.w.N.). Das notwendige Feststellungsinteresse lässt sich aus dem Kosteninteresse der klagenden Stadt herleiten. Der Beklagten wäre es nicht möglich, sich dieser Aufklärung durch ein Anerkenntnis zu entziehen, weil nach zutreffender Ansicht auch im Rahmen des § 93 ZPO die Klageveranlassung zu klären wäre, wobei die Grundsätze des Freibeweises gelten würden.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.

Die Frage, in welchem Umfang neuer Tatsachenvortrag, der nach oder mit der übereinstimmenden Erledigungserklärung vorgetragen wird, im Rahmen einer Entscheidung nach § 91 a ZPO zu berücksichtigen ist und ob zu streitigem Vortrag möglicherweise eine Beweisaufnahme geboten sein kann, wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet. Der Senat misst dem grundsätzlich Bedeutung zu und lässt daher die Rechtsbeschwerde zu (§ 574 ZPO).