OLG Oldenburg, Urteil vom 11.02.2008 - 15 U 55/07
Fundstelle
openJur 2012, 46997
  • Rkr:

Im Fehngebiet Ostfrieslands besteht ein im 19. Jahrhundert entstandenes örtliches Gewohnheitsrecht fort, wonach Anlieger eines Nebenkanals ("Inwieke") den Randstreifen des Kanals auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen eines Notwegerechts begehen und befahren dürfen, um zu hinterliegenden Grundstücken zu gelangen.

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das am 9. Juli 2007 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Aurich wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Berufung fallen den Beklagten zur Last.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Den Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung der Kläger gegen Sicherheitsleistung von 5.000 € abzuwenden, sofern diese vor der Vollstreckung nicht Sicherheit in Höhe des jeweils aus diesem Urteil zu vollstreckenden Betrages leisten.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die Parteien streiten um die Benutzung einer an einer früheren Inwieke, einem kleinen Kanal, angrenzenden Grundstücksfläche als Weg.

Entlang der Ostseite des 1999 von den nach Ostfriesland zugezogenen Beklagten erworbenen - den Klägern benachbarten - Hausgrundstücks in R… verlief früher ein von dem an der R…Straße entlanglaufenden Hauptkanal („Wieke“ oder „Hauptwieke“) im rechten Winkel abzweigender Nebenkanal („Innenwieke“ oder „Inwieke“), der heute im vorderen Bereich teilweise zugeschüttet ist und auch im Übrigen nicht länger als Wasserweg benutzt wird. Die Grenze des Grundstücks der Beklagten auf der der Inwieke zugewandten Seite liegt nach den Liegenschaftsplänen in der Mitte der Inwieke. Entlang der Inwieke verläuft ein Weg - dessen Charakter als Weg die Beklagten indessen bestreiten - zu den hinterliegenden Grundstücken, die teils den Klägern, teils anderen Eigentümern gehören. Die Kläger haben ihre Grundstücke teilweise verpachtet. Zu Gunsten jedenfalls eines hinterliegenden Grundstücks eines anderen Eigentümers ist seit 1952 hinsichtlich des auf dem Grundstück der Beklagten verlaufenden Weges entlang der früheren Inwieke ein dingliches Wegerecht im Grundbuch eingetragen. Im Übergangsbereich von der Wegefläche zum ehemaligen Verlauf der Inwieke steht Buschwerk.

Die Beklagten haben auf ihrem Grundstück einen Metallzaun mit Tor errichtet, der eine Wegnutzung entlang der Inwieke durch die Kläger verhindert. Diese haben die Beklagten daraufhin unter Berufung auf das „Inwiekenrecht“, das ein in Ostfriesland seit alters bestehendes ungeschriebenes Gewohnheitsrecht sei, auf Duldung der Benutzung eines Randstreifens von 3 m Breite als Weg verklagt.

Das Landgericht hat zur Beachtung des von den Klägern angeführten Gewohnheitsrechts als verbindliches Recht durch die betroffenen Bevölkerungsteile im R…er Gebiet Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des beim Niedersächsischen Staatsarchiv und bei der Ostfriesischen Landschaft tätigen Historikers Dr. phil. P... W… sowie durch Vernehmung der langjährig in den Gemeindeverwaltungen der Fehnorte R… und O… tätigen Zeugen P…, B… und F…. Diese haben übereinstimmend bekundet, dass - abgesehen von gelegentlichen Problemen mit zugezogenen Ortsfremden - das Inwiekenrecht im Bereich der Gemeinde R… noch immer von den Einwohnern anerkannt und praktiziert wird. Der Zeuge P… hat zudem durch Vorlage einer Vielzahl von Fotografien den Fortbestand der Inwieken-Wege an zahlreichen Grundstücken dokumentiert. Er hat weiter bekundet, in Fällen, in denen eine Überwegung durch Eintragung ins Grundbuch abgesichert werde, werde stets der Verlauf des Weges gewählt, der bereits aufgrund des Inwiekenrechts benutzt werden dürfe. Ungeachtet einer gelegentlich praktizierten dinglichen Absicherung eines Wegerechts im Grundbuch sei das Vertrauen in Fortbestand und Anerkennung des Inwiekenrechts nach wie vor so groß, dass - wie der Zeuge B… ausgesagt hat - solche Eintragungen nur selten im Fehngebiet vereinbart werden.

Aufgrund der Beweisaufnahme hat das Landgericht festgestellt, dass das „Inwiekenrecht“ heute noch geltendes Gewohnheitsrecht ist, und die Beklagten zur Duldung der Benutzung des Weges in einer lichten Breite von 3 m zum Befahren und Begehen durch die Kläger verurteilt.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten.

Sie wiederholen ihr erstinstanzliches Vorbringen und tragen insbesondere vor, das Inwiekenrecht habe seine Geltung wegen des Strukturwandels in den Fehnsiedlungen verloren. Zudem sei es jedenfalls durch das Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) gegenstandslos geworden. Ein Gewohnheitsrecht könne auch deshalb nicht angenommen werden, weil es - auch nach dem Vorbringen der Kläger - nicht die gesamte Bevölkerung, sondern nur ein kleinerer Kreis von Anliegern der Inwieke beanspruchen könne. In den Vorschriften über das Notwegerecht (§§ 917, 918 BGB) seien die nicht durch Verträge oder Dienstbarkeiten gesicherten Überwegungsrechte abschließend geregelt. Hinsichtlich der Überwegung ihres (der Beklagten) Grundstücks stehe den Klägern indessen kein Notwegerecht zu, da diese über das eigene Grundstück einen Zugang zu dem Weg an der Inwieke hätten und über diesen im weiteren Verlauf zu den in ihrem Eigentum stehenden Parzellen gelangen könnten.

Die Beklagten beantragen,

die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie verteidigen das angefochtene Urteil.

Wegen des Parteivorbringens und des Verfahrensablaufs wird auf den Akteninhalt, insbesondere die Schriftsätze der Parteien, die Verhandlungsniederschriften und - auch wegen der erstinstanzlich getroffenen Feststellungen - auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.

Die Berufung der Beklagten erweist sich als unbegründet. Das Landgericht hat die seiner Entscheidung zugrunde liegenden Feststellungen fehlerfrei getroffen. Es sind weder konkrete Anhaltspunkte ersichtlich, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründeten und deshalb eine erneute Feststellung geböten, noch liegen im Berufungsrechtzug zu berücksichtigende neue Tatsachen vor. Das angefochtene Urteil beruht auch nicht auf einer falschen Rechtsanwendung. Insbesondere ist die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht zu beanstanden. Sie bewegt sich im Rahmen der richterlichen freien Beweiswürdigung und ist rechtsfehlerfrei. Der Senat teilt ihr Ergebnis.

Die Kläger haben gegen die Beklagten in dem vom Landgericht zuerkannten Umfang aufgrund in R… fortbestehenden Gewohnheitsrechts („Inwiekenrecht“) Anspruch auf Duldung der Überwegung des Grundstücks der Beklagten. Dies ergibt sich im Einzelnen aus Folgendem:

Seit der Erschließung der Ostfriesischen Moorgebiete (Fehne) verliefen, insbesondere auch in und um R…, entlang der Kanäle (Hauptwieken und Inwieken), die in früherer Zeit den einzigen Zugang zu den verkehrstechnisch ansonsten unerschlossenen Hochmoorflächen bildeten, auf der Uferbank beiderseits frei zugängliche Fuß- und Karrenpfade. Nur diese boten einen Zugang auf dem Landweg zu den aufgereihten Parzellen; auch dienten sie als Treidelpfade für die Nutzung der Wasserwege, die zunächst insbesondere zum Abtransport des bei der Urbarmachung der Flächen gestochenen Torfes und später auch von landwirtschaftlichen Produkten und Bedarfsgegenständen genutzt wurden. Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich in diesem Gebiet die seitdem bis heute allgemein befolgte Regel herausgebildet, dass jeder Anlieger einer Inwieke und jeder Pächter eines an der Inwieke gelegenen Grundstücks berechtigt ist, von der Hauptwieke aus entlang der Inwieke den über die Grundstücke der anderen Anlieger der Inwieke führenden Weg zu benutzen, um zu dem ihm gehörenden oder von ihm gepachteten Grundstück zu gelangen.

17Diese Regel besitzt nach wie vor den Charakter von bindendem örtlichem Gewohnheitsrecht. Solches Recht entsteht durch längere Übung, die dauernd und ständig, gleichmäßig und allgemein ist, und die von den beteiligten Rechtsgenossen als verbindliche Rechtsnorm anerkannt wird (vgl. RGZ 76, 113 (115), BverfG, NJW 1970, 851; BGHZ 37, 219). Das trifft auf das „Inwiekenrecht“ auch heute noch zu, weil es nach wie vor von den betroffenen Kreisen der Bevölkerung nahezu ausnahmslos als allgemein verbindliches Recht angesehen und beachtet wird. Das Landgericht Aurich hat zuletzt mit Urteil vom 26. November 1986 (1 S 57/86) festgestellt, dass die vorstehend erwähnte Regel nach wie vor Rechtsgeltung habe und zwar auch zu Gunsten der Anlieger, die ihre Grundstücke an der Inwieke nicht nur von dieser aus erreichen könnten. Seit dieser Entscheidung hat - wie die vom Landgericht durchgeführte Beweisaufnahme ergeben hat - sich die Observanz des Gewohnheitsrechtes nicht so weit geändert, dass es seine Geltung ganz oder teilweise verloren hätte. Wenngleich Inwieken heute teilweise zugeschüttet sind und sich der Verkehr zu den Parzellen an der Inwieke ohnehin mit sinkender Bedeutung der Inwieken als Wasserwege weitestgehend auf die Randwege als solche verlagert hat, stellt trotz des Strukturwandels in den Fehnsiedlungen das Recht auf Benutzung des Randstreifens der Anliegergrundstücke einer Inwieke auf dem Landweg von der Hauptwieke aus die Fortsetzung des alten Rechts dar, die Inwieke bis zur Hauptwieke zu benutzen, und zwar auch für den Fall, dass noch andere Zugänge zu den Parzellen bestehen.

Die Anerkennung des Inwiekenrechts als örtlich geltendes Gewohnheitsrecht setzt - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht voraus, dass die Ausübung desselben allen Bewohnern der Gemeinde gleichermaßen zusteht. Gewohnheitsrecht muss kein Jedermann-Recht sein. Denn schon die übereinstimmende Rechtsüberzeugung der beteiligten Verkehrskreise (hier: die der Inwieken-Anlieger) vermag ein Gewohnheitsrecht zu begründen, vgl. dazu auch OLG Schleswig MDR 2007, 457. Die von den Beklagten zitierte Entscheidung des Amtsgerichts Dresden (DtZ 1996, 153 f.) steht dem nicht entgegen. Denn dort ist - anders als im vorliegenden Fall - eine allgemeine Observanz der Berechtigung gerade nicht festgestellt worden.

Das bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts bestehende Gewohnheitsrecht der Inwiekennutzung hat seine Geltung auch nicht durch das am 1. Januar 1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) verloren. Alle bei Ausarbeitung des Einführungsgesetzes zum BGB gemachten Vorschläge zur gesetzlichen Regelung des Verhältnisses des Gewohnheitsrechts zum geschriebenen Gesetz wurden abgelehnt und es wurde beschlossen, die Frage des Gewohnheitsrechts auch im Einführungsgesetz nicht zu regeln, vgl. hierzu Staudinger/Merten, Kommentar zum Einführungsgesetz zum BGB, Art. 1, 2, 50 - 218 (2005), Art. 2 EGBGB Rdn. 95 m. w. N.. Unter den Gesetzesbegriff des BGB fällt gemäß Art. 2 EGBGB jede Rechtsnorm. Dazu zählt auch das Gewohnheitsrecht, Palandt/Heinrichs, BGB, 67. Aufl., Einleitung Rdn. 17; 22; Staudinger a. a. O., Art. 2 Rdn. 93.

Wegen des dargestellten Gewohnheitsrechts als eigenständiger Rechtsquelle besteht daher der den Klägern zuerkannte Anspruch, ohne dass es auf eine zwingende Notwendigkeit für die Ausübung dieses Rechts im Sinne des Notwegerechts nach § 917 BGB ankäme. Insoweit ist es unerheblich, ob und unter welchen Umständen die Kläger auch über eigene und/oder fremde Grundstücke ihre hinterliegenden Parzellen an der Inwieke erreichen könnten. Ebenso ohne Belang ist es, ob die Kläger vom Inwiekenrecht einige Jahre lang keinen Gebrauch gemacht haben; eine solche bloße Nichtausübung durch einen Rechtsgenossen brächte das allgemein gegebene Gewohnheitsrecht nicht zum Erlöschen. Angesichts der Rechtsqualität des Gewohnheitsrechts ist ferner der Einwand der Beklagten unerheblich, die Kläger hätten sich durch teilweise Veräußerung ihres Grundeigentums ohne gleichzeitige Sicherstellung einer Überwegung der Zugangsmöglichkeit zu den an der Inwieke gelegenen Parzellen selbst begeben. Ferner ist es auch nicht erheblich, ob der ursprüngliche Weg zurzeit stellenweise bewachsen ist. Das Wegebenutzungsrecht der Kläger wird schließlich auch nicht durch eine Kündigung der Pachtverträge über ihre Parzellen an der Inwieke und ein derzeitiges Fehlen einer eigenen Bewirtschaftung ausgeschlossen.

Die konkrete Geltendmachung des Inwiekenrechts durch die Kläger gegenüber den Beklagten ist - wie das Landgericht im Einzelnen mit zutreffender Begründung dargelegt hat - auch nicht verwirkt oder treuwidrig und bezweckt auch nicht im Sinne von § 226 BGB, den Beklagten Schaden zuzufügen.

Nach allem war die Berufung der Beklagten daher zurückzuweisen.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 710 Nr. 8, 711, 712 ZPO.

Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zuzulassen.