Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 02.11.2006 - 11 ME 197/06
Fundstelle
openJur 2012, 45075
  • Rkr:

Im Aufenthaltsrecht treten einwanderungspolitische und fiskalische Belange regelmäßig hinter den verfassungsrechtlichen Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) zurück, wenn der im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigte Ausländer allein ein eigenständiges Leben (etwa aufgrund von schwerwiegender Erkrankung/Behinderung und/oder fortgeschrittenem Alter mit Pflegebedürftigkeit) nicht führen kann und auf die persönliche Lebenshilfe des nachzugswilligen Familienangehörigen für eine nicht absehbare Zeit angewiesen ist.

Gründe

Der am 23. März 1976 in der ehemaligen Sowjetunion (Ukraine) geborene Antragsteller ist israelischer Staatsangehöriger jüdischer Abstammung. Seinen Angaben zufolge wanderte er im Jahr 1996 aus der Ukraine nach Israel aus. Seine Mutter (geb. am 16.9.1931) blieb in der Ukraine, bevor sie im August 1999 mit einem Visum in die Bundesrepublik Deutschland einreiste. Sie hatte bereits im April 1997 beim Deutschen Generalkonsulat in Kiew einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Rahmen des Aufnahmeverfahrens für jüdische Emigranten aus der Sowjetunion gestellt. In ihrer Ausländerakte befindet sich folgender Vermerk:

„Botschaft bittet wegen der besonderen Hinfälligkeit der Antragstellerin, obwohl sie erst 66 Jahre alt ist, um bevorzugte Bearbeitung. Hat keine Verwandten in der Ukraine; Parkinson, halbblind.“

Am 29. September 1999 erteilte ihr die Antragsgegnerin eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis als sog. Kontingentflüchtling. Sie erhält Leistungen der Grundsicherung und seit dem 1. Juli 2005 Pflegegeld nach Stufe 1 gemäß § 64 Abs. 1 SGB XII. Im Mai 2005 stellte der Sozialdienst der Antragsgegnerin fest, dass sich der Antragsteller in der Wohnung seiner Mutter aufhielt und pflegerische Hilfen erbrachte. Seit dem 1. Mai 2006 bezieht er Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe von 347,33 EURO.

Der Antragsteller beantragte am 10. Juni 2005 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 AufenthG. Er machte zur Begründung geltend: Anlässlich seines letzten Besuchs - er sei vor 3 - 4 Wochen eingereist - habe er feststellen müssen, dass sich der gesundheitliche Zustand seiner Mutter verschlechtert habe. Sie komme nicht mehr allein zurecht, so dass sie auf seine Hilfe angewiesen sei.

Auf Anfrage der Antragsgegnerin teilte die Vermieterin der vom Antragsteller und seiner Mutter bezogenen Wohnung am 15. September 2005 mit, dass der Antragsteller etwa im August 2002 zunächst zu Besuch gekommen und anschließend geblieben sei. Dies bestreitet der Antragsteller. Er sei zwar mehrfach zu Besuch bei seiner Mutter gewesen, doch erst im Zusammenhang mit seinem letzten Besuch sei er nicht mehr nach Israel zurückgekehrt.

Mit Bescheid vom 6. März 2006 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab und drohte dem Antragsteller zugleich für den Fall einer nicht freiwilligen Ausreise die Abschiebung nach Israel an. Sie führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem Antragsteller und seiner Mutter sei nicht zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich. Davon wäre nur dann auszugehen, wenn die Pflegeleistungen, auf die die Mutter des Antragstellers angewiesen sei, ausschließlich durch den Antragsteller erbracht werden könnten. Dies sei jedoch nicht der Fall. Zweimal wöchentlich und zusätzlich bei Bedarf komme eine private Hilfe zur Unterstützung bei der Körperpflege der Mutter des Antragstellers. Darüber hinaus lägen die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG nicht vor. Der Antragsteller sei nicht in der Lage, seinen Lebensunterhalt eigenständig sicherzustellen. Zudem erfülle er einen Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG. Denn er halte sich seit längerer Zeit ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet auf. Ein- und Ausreisen seien nicht überprüfbar, da er angeblich seinen israelischen Reisepass verloren habe.

Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Seinen gleichfalls gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 15. Juni 2006 abgelehnt.

Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Sein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 6. März 2006 ist begründet.

Der Senat vermag im Unterschied zum Verwaltungsgericht nicht festzustellen, dass der angefochtene Bescheid offensichtlich rechtmäßig ist. Vielmehr muss nach der hier nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage der Ausgang des Klageverfahrens gegenwärtig als offen angesehen werden. Das private Interesse des Antragstellers an einem vorläufigen weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt aber das öffentliche Interesse an einer sofortigen Beendigung seines Aufenthalts. Dafür sind folgende Erwägungen maßgebend:

Nach dem hier allein in Betracht kommenden § 36 Satz 1 AufenthG kann einem sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Diese Vorschrift entspricht inhaltlich dem bis zum 31. Dezember 2004 geltenden § 22 Satz 1 AuslG. Auf die hierzu ergangene Rechtsprechung kann deshalb zurückgegriffen werden (Hailbronner, AuslR, § 36 AufenthG Rdnr. 3; Eberle, in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Zimmermann-Kreher, Kommentar zum Zuwanderungsgesetz, § 36 AufenthG Rdnr. 1). Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 AufenthG steht im Ermessen der Ausländerbehörde. Allerdings ist die Ermessensausübung erst eröffnet, wenn eine außergewöhnliche Härte festgestellt ist und außerdem die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen der §§ 5, 27 und 29 AufenthG erfüllt sind (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 36 AufenthG Rdnr. 6 f.; Renner, AuslR, 8. Aufl., § 36 AufenthG Rdnr. 4). Grundsätzlich soll der Zuzug von volljährigen Kindern zu ihren in Deutschland lebenden Familienangehörigen nicht erlaubt werden. Der Familiennachzug nach § 36 AufenthG kann deshalb lediglich zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte gewährt werden. Eine solche außergewöhnliche Härte ist nur dann anzunehmen, wenn im konkreten Einzelfall gewichtige Umstände vorliegen, die unter Berücksichtigung des Schutzgebots des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und im Vergleich zu den übrigen geregelten Fällen des Familiennachzugs ausnahmsweise die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gebieten. Die mit der Versagung der Aufenthaltserlaubnis eintretenden Schwierigkeiten für den Erhalt der Familiengemeinschaft müssen nach ihrer Art und Schwere so ungewöhnlich und groß sein, dass die Versagung der Aufenthaltserlaubnis als schlechthin unvertretbar anzusehen ist (vgl. zu § 22 AuslG BVerwG, Beschl. v. 25.6.1997 - 1 B 236.96 -, Buchholz 402.240 § 22 AuslG 1990 Nr. 4; Igstadt, in: GK-AuslR, § 22 AuslG Rdnr. 34 f. und 42; so auch für § 36 AufenthG Nds. OVG, Beschl. v. 23.5.2006 - 5 ME 35/06 -, zit. nach juris; Hailbronner, a.a.O., § 36 AufenthG Rdnr. 8; Renner, a.a.O., § 36 AufenthG Rdnr. 6). Dies setzt grundsätzlich voraus, dass der im Bundesgebiet oder der im Ausland lebende Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur im Bundesgebiet erbracht werden kann. Ein solches Bedürfnis kann bei schwerwiegender Erkrankung/Behinderung und/oder fortgeschrittenem Alter mit Pflegebedürftigkeit vorliegen. Angewiesen ist der Ausländer oder der sonstige Familienangehörige auf die Lebenshilfe des jeweils anderen aber nur dann, wenn dieser die entsprechenden Leistungen auch tatsächlich erbringt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt es dagegen nicht darauf an, ob die von dem betreffenden Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen geleistet werden könnte (vgl. etwa Beschl. v. 1.8.1996 - 2 BvR 1119/96 -, InfAuslR 1996, 341). Denn das Wesen der Familie als Beistandsgemeinschaft wird durch die persönliche und direkte Lebenshilfe der Angehörigen geprägt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.12.1989 - 2 BvR 377/88 -, EZAR 105 Nr. 27 = FamRZ 1990, 363; Hailbronner, a.a.O., § 36 AufenthG Rdnr. 29). Im Falle des Verhältnisses von Eltern und Kindern ist zudem zu berücksichtigen, dass sie bereits von Gesetzes wegen einander Beistand und Rücksicht schuldig sind (§ 1618 a BGB).

Hiervon ausgehend lässt sich nach dem derzeitigen Erkenntnisstand nicht hinreichend sicher beurteilen, ob dem Antragsteller ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 AufenthG zusteht oder nicht. Zwar ist es unstreitig, dass der jetzt 30-jährige Antragsteller sonstiger Familienangehöriger im Sinne des § 36 AufenthG ist und mit seiner 75-jährigen Mutter, die im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist (vgl. § 101 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 23 Abs. 2 AufenthG), in häuslicher Gemeinschaft zusammenlebt. Damit sind die in § 27 Abs. 1 und 29 Abs. 1 AufenthG normierten Familiennachzugsvoraussetzungen gegeben.

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin und des Verwaltungsgerichts dürfte auch eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Satz 1 AufenthG vorliegen. Der Antragsteller hat Umstände vorgetragen, die die Annahme rechtfertigen, dass seine Mutter, die u.a. an der Parkinson-Krankheit leidet und pflegebedürftig ist, allein ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf seine persönliche Lebenshilfe angewiesen ist. Dies ergibt sich vor allem aus der Bescheinigung der Ärztin für Allgemeinmedizin C. (B.), in deren ständiger hausärztlicher Behandlung die Mutter des Antragstellers steht, vom 6. April 2006, in der es heißt:

„Aufgrund der o.g. Erkrankungen ist die Patientin nicht in der Lage, ihren Haushalt selbständig zu führen, sie kann nicht selber ihr Essen zubereiten und braucht auch Unterstützung beim An- und Auskleiden, sowie bei der Hygiene und den alltäglichen Dingen. Des weiteren ist sie stark gehbehindert und kann das Haus nicht ohne Begleitung verlassen. Frau D. ist zudem physisch und psychisch nicht in der Lage, sich um Rechts- und Geldangelegenheiten zu kümmern. Aufgrund des psychischen Zustandes und der Verständigungsschwierigkeiten ist es nötig, dass Frau D. eine Bezugsperson in ihrer Nähe hat. In ihrem Fall handelt es sich um ihren Sohn, der ihr emotional sehr nahe steht. Er ist derzeit die einzige Person, der das Vertrauen der Patientin hat und sich aufopfernd um sie bemüht.“

Diese Ausführungen bestätigen den Vortrag des Antragstellers im Schriftsatz vom 24. Mai 2006, mit dem er auch die von ihm erbrachten laufenden Betreuungs- und Pflegeleistungen detailliert geschildert hat.

Allerdings ist es richtig, dass der Antragsteller nicht die gesamten Pflegeleistungen übernimmt. Nach übereinstimmenden Angaben des Antragstellers und des Sozialdienstes der Antragsgegnerin kommt seit Juli 2005 zweimal wöchentlich und zusätzlich bei Bedarf eine weibliche Pflegekraft zur Unterstützung der Mutter des Antragstellers in der Körperpflege, da diese das Waschen am ganzen Körper durch ihren Sohn aus Scham nicht zulasse. Daraus haben die Antragsgegnerin und das Verwaltungsgericht den Schluss gezogen, dass eine außergewöhnliche Härte hier nicht vorliege, weil ein wesentlicher Teil der Pflegeleistungen durch Dritte sichergestellt werde. Diese Einschätzung verkennt aber den im Rahmen der Prüfung einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Satz 1 AufenthG maßgeblichen Begriff der familiären Lebenshilfe. Darunter sind in einem umfassenden Sinne sämtliche persönlichen Betreuungs-, Versorgungs- und Unterstützungsleistungen zu verstehen. Hierunter fallen die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen bei pflegebedürftigen Personen (z.B. Übernahme oder Hilfe bei der Körperpflege, Zubereitung und Verabreichung von Speisen, Hilfe beim Aufstehen, Gehen, Einkaufen, Wäschereinigung) sowie weitere Leistungen wie etwa die Beschaffung und Verabreichung von Medikamenten und die Übernahme sonstiger notwendiger Besorgungen einschließlich des erforderlichen Brief- und Schriftverkehrs (vgl. etwa Igstadt, a.a.O., § 22 AuslG Rdnr. 43). Auch wenn ein Teil der Pflegeleistungen - wie hier die Körperpflege - von anderen Personen übernommen wird, ist ein Angewiesensein auf die familiäre Lebenshilfe zu bejahen, wenn der betreffende Familienangehörige die wesentlichen Betreuungs- und Unterstützungsleistungen im Übrigen erbringt. Dazu gehören auch die alltäglichen Versorgungsaufgaben und die Lebenshilfe im geistig-seelischen Bereich (vgl. zu diesen Gesichtspunkten BVerfG, Beschl. v. 1.8.1996, a.a.O.). Nach dem Akteninhalt spricht Überwiegendes dafür, dass der Antragsteller zumindest seit einigen Monaten eine derartige Lebenshilfe gegenüber seiner Mutter erbringt. Ob er in einem früheren Zeitraum seine Mutter möglicherweise nur unzureichend betreut und unterstützt hat, worauf eine Gesprächsnotiz und ein Pflegegutachten des Sozialdienstes der Antragsgegnerin vom 27. bzw. 30. Mai 2005 sowie ein Vermerk der Antragsgegnerin vom 15. September 2005 über ein Telefongespräch mit der Vermieterin hindeuten, kann dahinstehen. Denn für die Beurteilung des Vorliegens einer außergewöhnlichen Härte ist grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts abzustellen (vgl. Igstadt, a.a.O., § 22 AuslG Rdnr. 66). Nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand bestehen aber keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass die vom Antragsteller insbesondere im Schriftsatz vom 24. Mai 2006 gemachten Angaben nicht den Tatsachen entsprechen. Sollte die Antragsgegnerin insofern Zweifel haben, bleibt es ihr unbenommen, den tatsächlichen Umfang der vom Antragsteller erbrachten Hilfeleistungen im Laufe des Klageverfahrens zu überprüfen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Mutter des Antragstellers auf die Unterstützung und Betreuung durch den Antragsteller selbst dann angewiesen ist, wenn diese Hilfeleistungen auch von anderen Personen erbracht werden könnten (vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 14.12.1989, a.a.O.). Im Übrigen ist auch nichts dafür ersichtlich, dass diese Aufgaben von anderen Familienangehörigen als dem Antragsteller wahrgenommen werden könnten. Zwar hat die Mutter des Antragstellers in ihrem Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Jahr 1997 als vorgesehenen Aufenthaltsort B. genannt, da ihr Bruder E. dort wohne, doch ist nicht bekannt, ob dieser überhaupt bereit und in der Lage wäre, die erforderliche Lebenshilfe zu leisten.

Demgegenüber erscheint es derzeit offen, ob möglicherweise andere Gründe die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertigen können. Die Antragsgegnerin vertritt die von dem Verwaltungsgericht geteilte Auffassung, dass auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 und/oder Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt seien, weil der Lebensunterhalt des Antragstellers nicht gesichert sei und zudem ein Ausweisungsgrund vorliege. Möglicherweise bestehen aber besondere Umstände, die es ausnahmsweise erlauben, von diesen Regelerteilungsvoraussetzungen abzusehen. Ein derartiger Ausnahmefall kann etwa vorliegen, wenn die Versagung der Aufenthaltserlaubnis mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen nicht vereinbar wäre. Dazu gehört insbesondere der grundrechtlich gebotene Schutz von Ehe und Familie (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.3.1999 - 1 B 28.99 -, InfAuslR 1999, 332 = NVwZ-RR 1999, 610; Senatsbeschl. v. 22.12.2005 - 11 ME 373/05 -, veröffentl. in juris).

Es ist unstreitig, dass der Lebensunterhalt des Antragstellers, der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bezieht, nicht im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG gesichert ist. Auch wenn die Sicherung des Lebensunterhalts eine der wichtigsten Voraussetzungen für Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ist (vgl. etwa Renner, a.a.O., § 5 AufenthG Rdnr. 13), erscheint es denkbar, dass dieses gewichtige öffentliche Interesse hier ausnahmsweise wegen des Angewiesenseins der Mutter des Antragstellers auf seine persönliche Lebenshilfe zurückzutreten hat. Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob gewährleistet ist, dass der Antragsteller die bisher von ihm übernommenen Beistandsleistungen auch künftig zuverlässig und dauerhaft erbringen wird. Unter Umständen könnte es auch auf die Frage ankommen, ob es die gesundheitliche Situation der Mutter des Antragstellers zulässt, dass er vorübergehend das Bundesgebiet verlässt und sich anschließend wieder um seine Mutter im Rahmen von Besuchsaufenthalten kümmert. Israelische Staatsangehörige sind von der Visumspflicht nach Art. 1 Abs. 2 der EG-Visaverordnung und auch nach § 41 Abs. 1 AufenthV für einen Aufenthalt, der insgesamt drei Monate nicht überschreitet, befreit. Allerdings wäre dann zusätzlich zu untersuchen, welche anderen Betreuungspersonen in der Zwischenzeit die Aufgaben des Antragstellers übernehmen könnten. Eine abschließende Klärung dieser Fragen muss aber dem Hauptsacheverfahren, gegebenenfalls im Wege der Beweisaufnahme, vorbehalten bleiben. Das Gleiche gilt für die Behauptung des Antragstellers, dass ihm die mangelnde eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts nicht entgegengehalten werden könne, weil er durch die Pflege seiner Mutter praktisch an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gehindert sei.

Ebenso wenig lässt sich bisher mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, ob der Antragsteller einen Ausweisungsgrund im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG verwirklicht hat. Während der Antragsteller vorträgt, er habe erst während seines letzten Besuchs in Deutschland (Beginn etwa Ende April/Anfang Mai 2005) aufgrund des verschlechterten Gesundheitszustandes seiner Mutter den Entschluss gefasst, nicht nach Israel zurückzukehren, geht die Antragsgegnerin aufgrund von verschiedenen Indizien davon aus, dass der Antragsteller damals schon seit etwa drei Jahren bei seiner Mutter gelebt habe. Würde die Angabe des Antragstellers zutreffen, würde kein Verstoß gegen Einreisebestimmungen vorliegen. Denn der erforderliche Aufenthaltstitel dürfte dann nachträglich im Bundesgebiet eingeholt werden (vgl. § 41 Abs. 1 Satz 2 AufenthV). Sollte sich dagegen die Vermutung der Antragsgegnerin bestätigen, würde es sich um einen unerlaubten und damit auch strafbaren Aufenthalt handeln (vgl. dazu Hess. VGH, Beschl. v. 16.3.2005 - 12 TG 298/05 -, AuAS 2005, 134; Benassi, Rechtsfolgen der Beantragung eines Aufenthaltstitels, InfAuslR 2006, 178, 180 ff.). Aber selbst wenn dies der Fall wäre, müsste - wie zuvor schon bei § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG - außerdem geprüft werden, ob eine Ausnahme von dieser Regelerteilungsvoraussetzung in Betracht kommt. Dabei käme es dann wiederum darauf an, ob die sich aus einer (ggfls. auch zeitweisen) Rückkehr des Antragstellers nach Israel ergebenden Folgen für seine Mutter mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar wären. Der Senat sieht in diesem Zusammenhang Anlass zu dem Hinweis, dass die Annahme der Antragsgegnerin, der Antragsteller habe Pflegeaufgaben für seine Mutter allein deswegen übernommen, um seinen eigenen Aufenthalt in der Bundesrepublik sicherzustellen, im Widerspruch zu der Einschätzung ihres eigenen Sozialdienstes steht. Dieser hat im Gesprächsvermerk über den Hausbesuch bei dem Antragsteller und seiner Mutter vom 9. November 2005 ausgeführt, im Gespräch sei deutlich geworden,

„dass sich der Sohn aus Verantwortung seiner Mutter gegenüber hier aufhält, er aber gefühlsmäßig zu einer Rückkehr tendiert. Dieser Konflikt war ihm deutlich anzumerken und ist nachvollziehbar, denn hier lebt er losgelöst von Menschen gleichen Alters und gleichen Interessen und ist in seinem Alltag und seiner Kommunikation nur auf die Mutter bezogen.“

Sollte sich im Hauptsacheverfahren herausstellen, dass die Voraussetzungen des § 36 AufenthG zugunsten des Antragstellers erfüllt sind, hätte die Antragsgegnerin die bisher noch fehlende Ermessensausübung nachzuholen. In diesem Zusammenhang bedürfte es einer umfassenden Berücksichtigung und sorgfältigen Abwägung aller für und gegen den grundsätzlich auf Dauer angelegten Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland sprechenden privaten und öffentlichen Belangen (vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 10.8.1994 - 2 BvR 1542/94 -, NJW 1994, 3155; BVerwG, Urt. v. 18.11.1997 - 1 C 22.96 -, NVwZ-RR 1998, 517; Nds. OVG, Beschl. v. 23.5.2006, a.a.O.; Igstadt, a.a.O., § 22 AuslG Rdnr. 105 ff.). Wie diese Ermessensentscheidung letztlich ausfallen könnte, kann derzeit nicht abgesehen werden. Es ist aber nach dem oben Gesagten nicht auszuschließen, dass nur die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis als ermessensfehlerfrei angesehen werden kann (sog. Ermessensreduzierung auf Null).

Vor diesem Hintergrund wäre es im jetzigen Zeitpunkt unverhältnismäßig und mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar, die Ausreise des Antragstellers zwangsweise durchzusetzen. Demgegenüber sind vorrangige öffentliche Interessen, die eine sofortige Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers gebieten könnten, nicht ersichtlich. Zwar sprechen gegen den weiteren Verbleib des Antragstellers im Bundesgebiet einwanderungspolitische und fiskalische Gesichtspunkte, doch müssen diese nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschl. v. 10.8.1994, a.a.O. u. Beschl. v. 14.12.1989, a.a.O.; siehe auch BVerwG, Urt. v. 4.6.1997 - 1 C 9.95 -, BVerwGE 105, 35; Thür. OVG, Beschl. v. 25.5.2005 - 3 EO 114/05 -, InfAuslR 2005, 418; Igstadt, a.a.O., § 22 AuslG Rdnr. 106 ff) angesichts des überragenden Gewichts, das gemäß Art. 6 Abs. 1 GG dem Wunsch nach Herstellung oder Bewahrung der Familieneinheit im Falle des Angewiesenseins des aufenthaltsberechtigten Ausländers auf die persönliche Lebenshilfe des nachzugswilligen Angehörigen beizumessen ist, zumindest vorübergehend zurücktreten.

Mangels derzeit vollziehbarer Ausreisepflicht war auch die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung anzuordnen.