Hessisches LAG, Beschluss vom 17.04.2007 - 4 TaBV 59/07
Fundstelle
openJur 2012, 28562
  • Rkr:

Zur Erfüllung der innerbetrieblichen Verhandlungs- und Beratungspflichten genügt es, wenn der Betriebspartner, der die Bildung einer Einigungsstelle anstrebt, einen ernsthaften Verhandlungsversuch unternommen hat. Ein Dissens über den Umfang und die ausreichende Erfüllung der Unterrichtungsansprüche des Betriebsrats steht der Bestellung einer Einigungsstelle über die Beratung eines Interessenausgleichs dann nicht entgegen.

Tenor

Die Beschwerde des Beteiligten zu 2) gegen den Beschluss desArbeitsgerichts Darmstadt vom 21. Februar 2007 – 1 BV 4/07– wird zurückgewiesen.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten über die Bestellung einer Einigungsstelle.

Die antragstellende Arbeitgeberin betreibt eine Rehaklinik. Sie gehört zu dem mehrere Krankenhausgesellschaften umfassenden ...-Konzern und beschäftigt in ihrer Klinik 61 Arbeitnehmer auf 47,54 Vollzeitstellen. Die Arbeitnehmern werden von dem zu 2) beteiligten Betriebsrat repräsentiert. Die Bettenkapazität der Klinik beträgt derzeit 195 Betten, von denen bisher durchschnittlich 100 bis 120 belegt waren. Vor einigen Jahren wurden die Dienstleistungsfunktionen Reinigung, Küche und technische Betreuung auf drei von der Arbeitgeberin abgespaltene Konzerngesellschaften (sog. „Pro-Gesellschaften“) übertragen, die auf der Grundlage von Dienstleistungsverträgen mit der Arbeitgeberin tätig waren. Deren gut zwanzig Arbeitnehmer waren an der letzten Betriebsratswahl nicht beteiligt.

Nachdem in den beiden vorangegangenen Geschäftsjahren der Betrieb hochdefizitär war und in dem vom 01. Juli 2006 bis 30. Juni 2007 laufenden Geschäftsjahr 2006/2007 bis 30. November 2006 bereits ein Defizit von € 0,5 Mio. entstanden war, so dass ein Gesamtverlust im Geschäftsjahr von € 1,5 Mio. prognostiziert wurde, entschloss sich die Arbeitgeberin, den Betrieb zum 31. Januar 2007 stillzulegen. Der Betriebsrat wurde darüber in einer Sitzung vom 26. Januar 2007 unterrichtet. Nach der Zustellung einer von der Verpächterin beantragten einstweiligen Verfügung des Landgerichts Darmstadt vom 25. Januar 2007 - 12 O 32/07 -, durch die die Arbeitgeberin verpflichtet wurde, den tatsächlichen Betrieb der Klinik über den 31. Januar 2007 hinaus aufrechtzuerhalten, revidierte die Arbeitgeberin ihre Planungen. Sie unterrichtete den Betriebsrat in einer Sitzung vom 30. Januar 2007 über ihre Absicht, die Klinik unter Reduzierung der Durchschnittsbelegung der Betten auf 50 und der Vollzeitstellen auf 23 weiterzuführen. Der Betriebsrat lehnte das Angebot der Arbeitgeberin, bereits in dieser Sitzung den Entwurf eines Interessenausgleichs vorzulegen, ab und verlangte eine umfassende schriftliche Unterrichtung über das Konzept und die diesem zugrundeliegende Prognose. Zum 31. Januar 2007 kündigte die Arbeitgeberin die Dienstleistungsverträge mit den „Pro-Unternehmen“ fristlos, was von diesen akzeptiert wurde. Der Betriebsrat richtete mit Schreiben vom 31. Januar 2007 ein umfangreiches Unterrichtungsverlangen an die Arbeitgeberin. Diese nahm mit einem Schreiben vom 02. Februar 2007 zu den Fragen Stellung und teilte dem Betriebsrat mit, dass sie nunmehr beabsichtige, die Anzahl der Vollzeitstellen um 16,69 auf 30,85 zu reduzieren. Die Prognose der zugrundegelegten Durchschnittsbettenbelegung erläuterte sie nicht. Sie wies darauf hin, dass durch die Maßnahme die Personalkosten um € 0,6 Mio. und die Sachkosten um € 1,3 Mio. pro Jahr reduziert würden. Bei einer Auslastung von durchschnittlich 50 Betten ergebe sich ein negatives Betriebsergebnis von ca. € 1,5 Mio. und ein Jahresfehlbetrag von € 1,7 Mio. Die vom Betriebsrat verlangte Vorlage des Pachtvertrages lehnte die Arbeitgeberin ab.

Am 05. Februar 2007 verhandelten die Beteiligten zwischen 16.45 Uhr und 21.00 Uhr über die Maßnahme. Der Betriebsrat beschloss in einer Sitzung vom selben Tag, von der Arbeitgeberin die Vorlage des Pachtvertrages und die Zustimmung zur Hinzuziehung eines betriebswirtschaftlichen Sachverständigen zu fordern. Am Folgetag setzten die Beteiligten die Verhandlungen in der Zeit zwischen 9.00 Uhr und 12.00 Uhr fort. Die Arbeitgeberin lehnte die Finanzierung eines Sachverständigen ab und gewährte dem Betriebsrat für eine Stunde Einsicht in den Pachtvertrag. Sie verlangte vom Betriebsrat die Zustimmung zur Bildung einer Einigungsstelle zur Verhandlung über einen Interessenausgleich, was vom Betriebsrat mit der Begründung abgelehnt wurde, dass er noch nicht ausreichend unterrichtet worden sei und die innerbetrieblichen Verhandlungen damit noch nicht gescheitert seien. Im vorliegenden Verfahren verfolgt die Arbeitgeberin ihr Anliegen weiter.

Wegen des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes und der dort gestellten Anträge wird auf den tatbestandlichen Teil des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen. Das Arbeitsgericht hat den Richter am Arbeitsgericht Wiesbaden Zink zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle mit dem Ziel des Versuchs einer Einigung über einen die Betriebsänderung betreffenden Interessenausgleich bestellt und die Zahl der Beisitzer auf zwei pro Seite festgesetzt. Wegen der Begründung wird auf die Ausführungen unter II. des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen.

Der Betriebsrat hat gegen den am 26. Februar 2007 zugestellten Beschluss am 12. März 2007 Beschwerde eingelegt und diese gleichzeitig begründet. Er hält an seiner Auffassung fest, dass er nicht ausreichend unterrichtet worden sei und die Beteiligten nicht ausreichend innerbetrieblich verhandelt hätten. Über die Vorstellungen der Arbeitgeberin habe bereits deshalb nicht ernsthaft verhandelt werden können, weil der Betriebsrat das Konzept der Arbeitgeberin wegen des sich aus diesem ergebenden höheren Jahresverlustes nicht verstanden habe. Es sei von Anfang an Absicht der Arbeitgeberin gewesen, den Betriebsrat zu überfahren. Zudem müssten die Arbeitnehmer der „Pro-Gesellschaften“ in die Unterrichtung und die Beratung einbezogen werden, da diese Gesellschaften mit der Arbeitgeberin einen Gemeinschaftsbetrieb bildeten.

Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Vortrags des Betriebsrats wird auf die Schriftsätze vom 12. März sowie vom 11. und 16. April 2007 Bezug genommen.

Der Betriebsrat beantragt,

den Beschluss des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 21. Februar 2007 - 1 BV 4/07 - zum Teil abzuändern und die Anträge insgesamt zurückzuweisen.

Die Arbeitgeberin verteidigt zur Begründung ihres Zurückweisungsantrags die Entscheidung des Arbeitsgerichts wie in den Schriftsätzen vom 30. März und 16. April 2007 ersichtlich.

II.

Am vorliegenden Verfahren sind auf Arbeitgeberseite nicht auch die „Pro-Gesellschaften“ neben der Arbeitgeberin zu beteiligen. Insoweit kann dahinstehen, ob zwischen den Arbeitgeberin und den „Pro-Gesellschaften“ ein Gemeinschaftsbetrieb besteht oder bis zur fristlosen Kündigung der Dienstleistungsaufträge bestanden hat. Die Belegschaften der „Pro-Gesellschaften“ unterliegen jedenfalls deshalb nicht dem Mandat des Betriebsrats, weil sie den Betriebsrat nicht mitgewählt haben. Wurde ein Betriebsrat nur für einen Teil eines Gemeinschaftsbetriebes gewählt, bleibt dieser bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Wahlanfechtungsverfahrens im Amt. Seine Zuständigkeit beschränkt sich auf den Betriebsteil, der an der Wahl beteiligt wurde. Er hat kein Mandat für die Teile des Gemeinschaftsbetriebes, die an der Wahl nicht teilgenommen haben (BAG 07. Dezember 1988 - 7 ABR 10/88 - BAGE 60/276, B 5; 31. Mai 2000 - 7 ABR 78/98 - AP BetrVG 1972 § 1 Gemeinschaftsbetrieb Nr. 12, zu B II 1 a). Da sich das Mandat des Betriebsrats daher allein auf die Arbeitnehmer der Arbeitgeberin bezieht, wären die „Pro-Gesellschaften“ selbst im Fall des Vorliegens eines Gemeinschaftsbetriebs nichts durch das vorliegende Verfahren in ihrer betriebsverfassungsrechtlichen Stellung betroffen. Sie sind dementsprechend nicht an diesen zu beteiligen.

III.

Die Beschwerde des Betriebsrats ist nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat die Einigungsstelle zu Recht bestellt.

Gemäß § 98 Abs. 1 Satz 2 ArbGG kann ein Antrag auf Bestellung einer Einigungsstelle nach § 76 Abs. 2 Satz 2, 3 BetrVG wegen fehlender Zuständigkeit der Einigungsstelle nur zurückgewiesen werden, wenn die Einigungsstelle offensichtlich unzuständig ist. Dies ist der Fall, wenn die Zuständigkeit der Einigungsstelle unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt als möglich erscheint, wenn ihre Zuständigkeit also bei sachgerechter Beurteilung auf den ersten Blick unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt begründet ist. Das Bestellungsverfahren soll weder durch die Klärung komplizierter Rechtsfragen noch durch die Aufklärung streitiger Tatsachen belastet werden; diese Aufgaben sind ggf. der Einigungsstelle vorbehalten. Für deren Bestellung ist entscheidend, ob an ihrer Unzuständigkeit ernsthafte rechtliche Zweifel möglich sind oder nicht. Nur in letzterem Fall ist der Bestellungsantrag zurückzuweisen. Bei Kontroversen in Rechtsprechung und Literatur über die für die Zuständigkeit maßgeblichen Rechtsfragen besteht der Zurückweisungsgrund der offensichtlichen Unzuständigkeit nicht (ständige Rechtsprechung, vgl. nur Hess. LAG 01. August 2006 - 4 TaBV 111/06 - NZA-RR 2007/199, zu II 2 a, m.w.N.).

Dieser Maßstab gilt auch für die Prüfung, ob die Betriebspartner vor der Anrufung einer Einigungsstelle in hinreichendem Maß ernsthafte innerbetriebliche Verhandlungen geführt haben. Auch diese Frage ist eine Frage der Zuständigkeit der Einigungsstelle (Hess. LAG 13. September 2005 - 4 TaBV 86/05 - AuR 2006/173 L, zu II 1, mit näherer Begründung). Nach der ständigen Rechtsprechung der erkennenden Kammer genügt zur Erfüllung der Verhandlungs- und Beratungspflichten gemäß §§ 74 Abs. 1 Satz 2, 111 Satz 1 BetrVG, dass die Seite, die die Bildung der Einigungsstelle anstrebt, zumindest einen ernsthaften Verhandlungsversuch unternommen hat. Ist dies geschehen, kann zur Verhinderung von Verzögerungstaktiken und der damit verbundenen Entwertung des Einigungsstellenverfahrens jede Seite frei entscheiden, ob sie die Verhandlungen außerhalb der Einigungsstelle für nicht mehr aussichtsreich erachtet und daher die Bestellung einer Einigungsstelle betreibt (LAG Frankfurt am Main 12. November 1991 - 4 TaBV 148/91 - LAGE BetrVG 1972 § 76 Nr. 39, zu II 1; Hess. LAG 22. November 1994 - 4 TaBV 112/94 - LAGE BetrVG 1972 § 76 Nr. 43, zu II 1; 13. Juni 2003 - 4 TaBV 187/03 - LAGE ArbGG 1979 § 98 Nr. 41, zu II 1 a; 13. September 2005 a.a.O., zu II 2 a). Dies gilt insbesondere für die häufig eilbedürftigen Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleichs. Weitere Verhandlungswünsche oder Informationsansprüche des Betriebsrats stehen der Bildung der Einigungsstelle dann nicht entgegen. Diese können im oder parallel zum Einigungsstellenverfahren weiterverfolgt werden. Der Seite, die auf die Durchführung eines Einigungsstellenverfahrens angewiesen ist, kann regelmäßig nicht zugemutet werden, dass vor der Bildung der Einigungsstelle zunächst häufig unsichere Fragen über den genauen Umfang von Informationsansprüchen geklärt werden müssen (LAG Frankfurt am Main 12. November 1991 a.a.O., zu II 1; 13. Juni 2003 a.a.O., zu II 1 a; LAG Niedersachsen 07. Dezember 1998 - 1 TaBV 74/98 - LAGE ArbGG 1979 § 98 Nr. 35, zu II 1 c aa). Das Beteiligungsrecht gemäß §§ 111, 112 BetrVG ist daher entgegen der Ansicht des Betriebsrats nicht streng in die drei Phasen Information, innerbetriebliche Verhandlungen und Einigungsstellenverfahren unterteilt. Das Einigungsstellenverfahren dient im Gegenteil auch dazu, eine aufgrund von Streitigkeiten über formelle Fragen wie den Umfang von Informationsansprüchen festgefahrene Zusammenarbeit der Betriebspartner mit Hilfe eines unparteiischen Vorsitzenden zügig wieder in Gang zu setzen (LAG Niedersachsen 07. Dezember 1998 a.a.O., zu II 1 c aa; LAG Rheinland-Pfalz 05. Januar 2006 - 6 TaBV 60/05 - AuR 2006/333 L).

Die Beteiligten haben nach der umfangreichen und die gesetzlichen Unterrichtungspflichten jedenfalls nicht offensichtlich auf den ersten Blick verletzenden Unterrichtung des Betriebsrats durch die Arbeitgeberin vom 02. Februar 2007 jedenfalls am 05. und 06. Februar 2007 über mehrere Stunden innerbetriebliche Verhandlungen geführt. Diese scheiterten an den kontroversen Vorstellungen der Beteiligten über den Umfang der Unterrichtungsansprüche des Betriebsrats und an dessen Forderung nach einem betriebswirtschaftlichen Sachverständigen. Die Beurteilung, ob diese Ansprüche tatsächlich bestehen, ist nicht Aufgabe des Verfahrens nach § 98 ArbGG, da diese Fragen nicht offensichtlich zu beantworten sind, sondern jeweils einer genauen einzelfallbezogenen Prüfung bedürfen. Sie können auch in den Verhandlungen innerhalb der Einigungsstelle erörtert werden. Diese kann zudem geeignet sein, durch die Moderation des Vorsitzenden Rechtsstreitigkeiten über den Umfang derartiger Ansprüche des Betriebsrats zu vermeiden und die offenbar aufgetretenen Kommunikations- und Verständnisschwierigkeiten zwischen den Beteiligten zu beseitigen. Die Verhandlungen der Beteiligten befinden sich inzwischen in einem Stadium, in dem die Einigungsstelle nicht offensichtlich unzuständig, sondern regelmäßig zu bestellen ist. Dadurch wird der Betriebsrat nicht „überfahren“. Vielmehr bietet die Einigungsstelle die Chance zu aussichtsreicheren Verhandlungen als denen, die die Beteiligten bisher ohne unparteiischen Vorsitzenden geführt haben.

Schließlich müssen die Arbeitnehmer der „Pro-Gesellschaften“ nicht in die Unterrichtung des Betriebsrats und in die Verhandlungen einbezogen werden. Wie dargelegt, fehlt dem Betriebsrat für diese das Mandat.