KG, Urteil vom 25.01.2010 - 12 U 108/09
Fundstelle
openJur 2012, 12231
  • Rkr:

Die erhöhten Sorgfaltspflichten beim Rückwärtsfahren (§§ 9 Abs. 5 StVO) dienen dem Schutz des Verkehrsraumes, in den das Fahrzeug fahren soll und den der Fahrer nicht so gut einsehen kann wie beim Vorwärtsfahren.

Kommt es auf einem Parkplatzgelände im Zuge des Rückwärtsfahrens aus einer Parkbox zu einer Kollision mit einem stehenden Fahrzeug, mit dem der Kläger zuvor aus einer gegenüberliegenden Parkbox ausgefahren war, so spricht der Anscheinsbeweis gegen den Rückwärtsfahrer.

Der Umstand, dass der Kläger zuvor seinerseits ebenfalls rückwärts aus einer Parkbox ausgefahren war, wirkt sich nicht mehr unfallursächlich aus, nachdem er angehalten hatte, um seine Ehefrau einsteigen zu lassen.

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das am 28. April 2009 verkündete Urteil der Zivilkammer 17 des Landgerichts Berlin – 17 O 302/08 - teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 3.288,50 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 6.267,00 € für die Zeit vom 20. September 2008 bis zum 19. Januar 2009 und aus 3.288.50 € seit dem 20. Januar 2009 zu zahlen.

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 777,20 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20. Dezember 2008 zu zahlen.

Die Beklagten haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Berufung ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Entgegen den Ausführungen des Landgerichts haften die Beklagten für den Schaden des Klägers zu 100 %.

1. Die Haftung der Beklagten folgt daraus, dass der Erstbeklagte beim Rückwärtsfahren gegen die Fahrerseite im Bereich der hinteren Tür des stehenden Klägerfahrzeugs gefahren ist.

Beim Rückwärtsfahren hatte der Erstbeklagte den Sorgfaltspflichten aus § 9 Abs. 2 StVO gerecht zu werden, also sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls hatte er sich einweisen zu lassen.

4Weil es im Zuge des Rückwärtsfahrens des Erstbeklagten zu dem Schaden am Klägerfahrzeug gekommen ist, spricht der Anscheinsbeweis für eine Sorgfaltsverletzung des Erstbeklagten (vgl. Senat, VM 1988, 32; VRS 108, 190 = KGR 2005, 151)

Dieser Anscheinsbeweis ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht erschüttert. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Erstbeklagte während des Zurücksetzens seines Fahrzeugs den hinteren Verkehrsraum hinreichen beobachtet hat; anderenfalls hätte er das Klägerfahrzeug sehen müssen.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme war die vom Erstbeklagten rückwärts zurückgelegte Fahrstrecke zwar relativ kurz, der Erstbeklagte hätte als zurücksetzender Kraftfahrer jedoch darauf achten müssen, dass der Gefahrraum hinter seinem Kfz frei ist und von hinten wie von den Seiten her frei bleibt ( vgl. OLG Oldenburg VRS 100, 432; OLG Düsseldorf VRS 87, 47; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., StVO § 9 Rn 51).

Der Erstbeklagte ist seiner Rückschaupflicht offenbar nicht gerecht geworden. Dies führt zur vollen Haftung (Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs tritt zurück), wenn nicht den Kläger ein Mitverschulden trifft.

2. Ein Mitverschulden des Klägers ist nicht bewiesen. Zwar trifft es zu, dass auch der Kläger zunächst aus der Parkbox rückwärts herausgefahren ist. Im Zuge der Rückwärtsbewegung ist es jedoch nicht zum Unfall gekommen. Dieser ereignete sich erst, nachdem der Kläger stand, und zwar in Richtung des Geradeausverkehrs zwischen den davon rechts und links schräg angezeichneten Parkboxen, um seine Ehefrau einsteigen zu lassen.

9Die erhöhten Sorgfaltspflichten beim Rückwärtsfahren (§ 9 Abs. 5, § 1 Abs. 2 StVO) dienen dem Schutz des Verkehrsraums, in den das Fahrzeug fahren soll und den der Fahrer nicht so gut einsehen kann wie beim Vorwärtsfahren (vgl. § 9 Abs. 5, 2. Halbsatz: erforderlichenfalls einweisen lassen). Beim Zurückfahren in den hinter seinem Pkw befindlichen Verkehrsraum hat der Kläger jedoch keinen Schaden verursacht. Vielmehr stand das Fahrzeug, und zwar so lange, dass die an der Beifahrerseite stehende Ehefrau des Klägers über das Fahrzeug hinweg das Beklagtenfahrzeug hat rückwärts anfahren sehen und noch “Nein” rufen konnte, bevor es zum Unfall gekommen ist.

10Das klägerische Fahrzeug stand so, dass der rückwärts fahrende Erstbeklagte mit seinem Heck gegen die linke Seite des Klägerfahrzeugs gestoßen ist. In dieser Position hätte sich der Kläger auch befinden können, wenn er vorwärts aus der Parkbox ausgefahren wäre oder er von der Straße kommend angehalten hätte, um auf einen freien Parkplatz zu warten.

Auch ein Verstoß des Klägers gegen die Pflicht, darauf zu achten, dass der Gefahrraum hinter dem Kfz frei ist und von hinten und von den Seiten her frei bleibt (vgl. oben), kann nicht festgestellt werden, weil sich diese Pflicht nur auf die Zeit während der Rückwärtsfahrt beziehen kann, die zweifellos beendet war.

Dass der Kläger den ausparkenden Beklagten zu 1) so rechtzeitig bemerkt hat, dass er ausreichend Zeit gehabt hätte, diesen durch ein Hupsignal auf die Gefahrensituation aufmerksam zu machen, haben die Beklagten nicht dargelegt.

Die nach Zustellung der angefochtenen Entscheidung seitens der Beklagten erbrachten Zahlungen waren bei der Abfassung des Tenors nicht zu berücksichtigen, da die diesen Zahlungen zugrunde liegende Verurteilung der Beklagten nicht Gegenstand des zweiten Rechtszuges war.

Die Revision war nicht zuzulassen, da weder die Sache grundsätzliche Bedeutung hat, noch eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Rechtsfortbildung oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 543 Absatz 1 Nr. 1, Absatz 2 ZPO n. F.).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 97 ZPO. Die weiteren prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. V. m § 26 Nr. 8 EGZPO.