Niedersächsisches FG, Beschluss vom 14.06.2021 - 5 K 24/21
Fundstelle
openJur 2021, 20248
  • Rkr:

Keine Übersendung der Akten in Kanzleiräume in Pandemiezeiten, wenn das FG seine Diensträume unter Beachtung der Hygiene- und Abstandsregeln für die Einsichtnahme in die Gerichts- und Steuerakten eröffnet.

Tenor

Der Antrag auf Akteneinsicht durch Übersendung der den Streitfall betreffenden Akten an die Kanzlei der Prozessbevollmächtigten wird abgelehnt.

Die Entscheidung ergeht kostenfrei.

Gründe

I.

Nachdem die Prozessbevollmächtigte des Klägers Akteneinsicht beantragt und das Gericht die Steuerakten antragsgemäß an das Finanzgericht Münster zur Durchführung der Akteneinsicht übersandt hatte, beantragte die Prozessbevollmächtigte unter Hinweis auf den BFH-Beschluss vom 13. Juni 2020 zum Aktenzeichen VIII B 149/19 und den Beschluss des Finanzgerichts Hamburg vom 1. Februar 2018 zum Aktenzeichen 4 K 136/20 im Hinblick auf die anhaltende Corona-Pandemie Aktenübersendung in ihre Kanzleiräume.

II.

1. Der Antrag auf Akteneinsicht in den Kanzleiräumen der Prozessbevollmächtigten ist unbegründet. Es entspricht auch im derzeitigen Stadium der COVID-19-Pandemie pflichtgemäßem Ermessen, der Prozessbevollmächtigten die den Streitfall betreffenden Akten zur Einsicht in Diensträumen zur Verfügung zu stellen.

a) Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) können die Beteiligten die Gerichtsakte und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen. Die Vorschrift gewährt den Beteiligten des finanzgerichtlichen Verfahrens ein umfassendes Recht auf Akteneinsicht als wesentlichem Bestandteil des in Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes verbürgten Anspruchs auf rechtliches Gehör. Allerdings wird die Akteneinsicht gem. § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO, wenn die Gerichts- und Steuerakten – wie vorliegend – in Papierform geführt werden, nur durch Einsichtnahme in Diensträumen gewährt. Die Kanzleiräume der Prozessbevollmächtigten sind jedoch keine Diensträume im Sinne des § 78 Abs. 3 FGO (vgl. BFH-Beschluss vom 13. Juni 2020 VIII B 149/19, BFH/NV 2020, 1268 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen).

aa) Insoweit erscheint es dem beschließenden Senat - wie schon dem III. Senat des Bundesfinanzhofs - zweifelhaft, ob auch nach Einführung der vorstehend genannten Bestimmung in § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO überhaupt noch ausnahmsweise eine Aktenübersendung in Kanzleiräume in Betracht kommt. Denn der Wortlaut der Vorschrift deutet keinen Ermessensspielraum an. Die Finanzgerichtsordnung weicht insoweit von anderen Verfahrensordnungen ab (vgl. hierzu § 100 Abs. 3 Satz 3 der Verwaltungsgerichtsordnung, § 120 Abs. 3 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes, § 32 f Abs. 2 Satz 3 der Strafprozessordnung). Der Gesetzgeber hat mit der Einengung des Orts der Einsichtnahme auf Diensträume den Streit über die Versendung der Akten in die Kanzlei eines Prozessbevollmächtigten gerade beseitigen wollen (vgl. BFH-Beschluss vom 6. September 2019 III B 38/19, BFH/NV 2020, 91).

bb) Demgegenüber soll aber nach Auffassung des VIII. und X. Senats des Bundesfinanzhofs auch unter Geltung der Neufassung des § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO in eng begrenzten Ausnahmefällen zur Gewährung rechtlichen Gehörs und aus Gründen der Waffengleichheit der Beteiligten ein Anspruch auf Einsicht in Papierform geführte Akten in den Geschäftsräumen eines Prozessbevollmächtigten bestehen. Wann ein solcher Ausnahmefall anzunehmen sei, hänge von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Die Entscheidung darüber, ob ausnahmsweise eine Akteneinsicht durch Übersendung der Akten in die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten zu gewähren ist, sei eine Ermessensentscheidung des Gerichts. Für die Art und Weise der Anwendung des Ermessens sei der vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 FGO gesteckte Ermessensrahmen zu beachten. Die gegen eine Aktenversendung sprechenden Umstände - wie zum Beispiel die Gefahr von Aktenverlusten, insbesondere wenn diese potentielle Beweismittel wie zum Beispiel Steuererklärungen mit Originalbelegen enthalten, die Gefahr der Verletzung des Steuergeheimnisses, die Einschränkung der Verfügbarkeit der Akten für die Bearbeitung im Gericht und die Gefahr von Aktenbeschädigungen bzw. -manipulationen - sei gegen die vom Antragsteller vorgetragenen, eine Ausnahme rechtfertigenden Umstände abzuwägen. Soweit im Regelfall die Akteneinsicht in Diensträumen zu gewähren sei, während die Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten lediglich eine durch besondere Umstände des Einzelfalls gebotene Ausnahme darstelle, folge hieraus aber auch, dass Erschwernisse, die regelmäßig mit der Akteneinsicht außerhalb der Kanzleiräume verbunden sein können, keine Ausnahme von der Regel zu rechtfertigen im Stande seien (vgl. zu alledem BFH-Beschlüsse vom 28. November 2019 X B 132/19, BFH/NV 2020, 779, und vom 4. Juli 2019 VIII B 51/19, BFH/NV 2019, 1235).

b) Nach diesen Grundsätzen kommt die Übersendung der den Streitfall betreffenden Akten in die Kanzlei der Prozessbevollmächtigten nicht in Betracht. Es kann dabei offenbleiben, ob seit der Einführung der Regelung in § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO überhaupt noch Ausnahmen von der Durchführung der Akteneinsicht in Diensträumen zulässig sind. Jedenfalls ist es ermessensgerecht, den Prozessbevollmächtigten die den Streitfall betreffenden Akten zur Einsichtnahme in den Diensträumen des Finanzgericht Münster - wie ursprünglich beantragt - zur Verfügung zu stellen.

aa) Zwar hat das Finanzgericht Hamburg nach den vorgenannten Grundsätzen einen solchen engen Ausnahmefall darin gesehen, dass eine Einsichtnahme in die Akten in den Räumlichkeiten des Gerichts in Hamburg vor dem Hintergrund des Infektionsgeschehens im Zusammenhang mit der Pandemie und dem in der Freien und Hansestadt Hamburg mit der sog. Eindämmungsverordnung (Verordnung zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 vom 21.01.2021, HmbGVBl. S. 25) verfolgten gesetzgeberischen Anliegens, körperliche Kontakte zu anderen Personen als den Angehörigen des eigenen Haushalts auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren (vgl. § 3 Abs. 1 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO), bis auf weiteres nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich sei. Der Prozessbevollmächtigte könne auch nicht darauf verwiesen werden, Akteneinsicht zu einem späteren ungewissen Zeitpunkt zu nehmen, zu dem das Finanzgericht Hamburg eine Einsichtnahme in die Akten in seinen Räumlichkeiten wiedereröffnet. Da die Gerichte aber dennoch nach dem Willen der politisch Verantwortlichen ihrer verfassungsrechtlichen Aufgabe der effektiven Rechtsschutzgewährleistung auch in Zeiten der Pandemie gerecht werden sollen, sei den Beteiligten eines finanzgerichtlichen Verfahrens auch in diesen Zeiten die Möglichkeit zu geben, Einsicht in die dem Gericht vorgelegten Akten zu nehmen. Diese Möglichkeit der Akteneinsicht auch zu Pandemiezeiten sei im konkreten Fall durch Übersendung der Akten in die Kanzleiräume zu realisieren gewesen (FG Hamburg, Beschluss vom 1. Februar 2021 4 K 136/20, EFG 2021, 386).

bb) Demgegenüber verfügen aber sowohl das Niedersächsische Finanzgericht (vgl. hierzu auch https://finanzgericht.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/fgaktuell/informationen-zum-umgang-mit-dem-coronavirus-186868.html) als auch das Finanzgericht Münster (nach fernmündlicher Auskunft und den weitergehenden Hinweisen auf der Internetseite des Finanzgerichts Münster unter …) über ein umfassendes Hygienekonzept, um den Schutz der Gesundheit von Besuchern und Gerichtsangehörigen zu gewährleisten. Dieses umfasst jedenfalls im Niedersächsischen Finanzgericht die Verpflichtung von Besuchern, innerhalb von Justizgebäuden einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, die Bereitstellung von Desinfektionsmitteln am Eingang, ein Einbahnstraßen-Wegesystem, getrennte Ein- und Ausgänge, die regelmäßige Desinfektion von Räumen und Tischen sowie die Nutzung großer, regelmäßig belüfteter Räume oder Säle für die Durchführung einer Akteneinsicht unter Aufsicht des Urkundsbeamten. Zugleich haben sowohl das Niedersächsischen Finanzgericht als auch das Finanzgericht Münster eine Einsichtnahme in die Akten in ihren Räumlichkeiten - unter Beachtung der Hygienemaßnahmen, Abstandsregeln etc. - anders als das Finanzgericht Hamburg eröffnet.

cc) Die Prozessbevollmächtigten hatten hingegen weder dargetan, dass in ihrer Kanzlei bessere hygienische Schutzbedingungen als im Niedersächsischen Finanzgericht beziehungsweise im Finanzgericht Münster herrschen, noch hatten sie angegeben, einer besonderen gesundheitlichen Risikogruppe anzugehören oder anderweitige konkrete Bedenken gegen eine Akteneinsicht beim Finanzgericht Münster - wie ursprünglich von ihnen beantragt - vorgebracht.

dd) In Anbetracht der vorstehend dargelegten schwerwiegenden Gründe, die gegen eine Aktenversendung in die Kanzleiräume der Prozessbevollmächtigten sprechen, kann die COVID-19-Pandemie im Hinblick auf die mit einer Akteneinsicht in Diensträumen verbundenen Ansteckungsgefahr jedenfalls im Streitfall nicht die Zulassung einer solchen eng begrenzten Ausnahme gebieten. Auch die persönliche Zuverlässigkeit der Prozessbevollmächtigten als Rechtsanwältin oder eine etwa abweichende Praxis anderer Gerichte beziehungsweise Gerichtsbarkeiten führen zu keinem anderen Ergebnis. Abstrakte Bedenken - wenngleich vorliegend von der Prozessbevollmächtigten noch nicht einmal ausdrücklich mitgeteilt - wegen des mit der Durchführung der Akteneinsicht in Diensträumen verbundenen Infektionsrisikos sind im Lichte dieser Umstände jedenfalls dann nicht geeignet, eine eng begrenzte Ausnahme vom Regelfall der Durchführung der Akteneinsicht in Diensträumen zu begründen, wenn die Diensträume - wie auch im Finanzgericht Münster - zum Zwecke der Durchführung der Akteneinsicht zugänglich sind und die im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie notwendigen Hygienemaßnahmen eingehalten werden.

2. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen. Das Verfahren über die Gewährung von Akteneinsicht ist ein unselbständiges Nebenverfahren.

Zitiert0
Referenzen0
Schlagworte