OLG Hamm, Beschluss vom 02.11.2020 - 6 U 132/19
Fundstelle
openJur 2021, 20221
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 8 O 307/16
Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das am 03.05.2019 verkündete Urteil des Einzelrichters der 8. Zivilkammer des Landgerichts Münster (08 O 307/16) wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die Kosten der Berufung.

Der vorliegende Beschluss und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Der Streitwert wird für die Berufung des Beklagten auf 13.139,36 festgesetzt.

Gründe

I.

Die Parteien streiten über Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls.

Am 00.02.2008 kam es auf der Kreisstraße 0 in A zu einem schweren Verkehrsunfall zwischen dem Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen01 der Halterin B, welcher bei dem Beklagten pflichtversichert war und von der Mutter der Klägerin geführt wurde, und dem Lkw der Firma C aus A mit dem amtlichen Kennzeichen02, der von dem D geführt wurde und für den ebenfalls bei dem Beklagten eine Pflichtversicherung bestand. Der Unfall wurde dadurch verursacht, dass die Mutter der Klägerin den von ihr geführten Pkw plötzlich stark abbremste, worauf hin dieser ins Schleudern geriet und gegen den Lkw prallte.

Bei dem Unfall wurde die damals auf dem Beifahrersitz des Pkw sitzende 10-jährige Klägerin schwer verletzt. Sie erlitt ein schweres Schädelhirntrauma mit multiplen intracerebralen Hirnkontusionen, welches zu einer dauerhaften körperlichen und geistigen Behinderung der Klägerin führte. Bei der Klägerin bestehen infolge des Unfalls ein organisches Psychosyndrom mit ausgeprägten kognitiven Störungen und fehlender sprachlicher Kommunikationsfähigkeit sowie eine hohe motorische Beschränkung mit der Unfähigkeit des freien Stehens und des selbständigen Gehens. Die Klägerin ist auf den Rollstuhl angewiesen und bedarf umfassender Betreuung und Beaufsichtigung.

Für die Klägerin wurde Rechtsanwältin E aus F zur Ergänzungsbetreuerin bestellt.

Nach dem Unfall befand sich die Klägerin über ein Jahr lang durchgehend in stationärer Behandlung. Im April 2009 kehrte sie ins Elternhaus zurück und wird seitdem dort von ihren Eltern gepflegt. Pflegedienste werden nicht in Anspruch genommen. Die Klägerin besuchte von Mai 2009 bis Juli 2015 vormittags die Gschule in H, eine integrative Schule für Kinder mit körperlichen und motorischen Entwicklungsstörungen. Seit August 2015 ist die Klägerin halbtags in den Werkstätten für Behinderte des I in F tätig.

Die Einstandspflicht des Beklagten für die Unfallfolgen ist dem Grunde nach zwischen den Parteien unstreitig. Der Beklagte hat durch Erklärung vom 18.03.2011 gegenüber der Klägerin seine Leistungspflicht dem Grunde nach anerkannt.

Die Klägerin nahm den Beklagten daraufhin in dem Rechtsstreit 15 O 163/13 vor dem Landgericht Münster auf Zahlung von Pflegemehrbedarf für den Zeitraum von Februar 2008 bis Oktober 2013 in Anspruch. Das Landgericht holte ein Sachverständigengutachten des J zum Umfang des Pflegemehrbedarfs ein und unterbreitete den Parteien auf der Grundlage dieses Gutachtens im September 2015 einen umfassenden Vergleichsvorschlag. Die Parteien nahmen diesen Vergleich im Dezember 2015 an.

Vorliegend begehrt die Klägerin von dem Beklagten die Zahlung von Pflegemehrbedarf für die Zeit vom 01.11.2013 bis zum 31.10.2016. Sie forderte den Beklagten durch Schreiben vom 22.04.2016 unter genauer Darlegung des im Einzelnen erforderlichen Betreuungsaufwands zur Zahlung eines Betrages von 101.409,06 € unter Fristsetzung zum 17.05.2016 auf. Der Beklagte entgegnete, nach seiner Auffassung seien sog. Sowieso-Zeiten in Abzug zu bringen, die Berechnung der Klägerin sei daher zu korrigieren und der Pflegebedarf sei durch einen Sachverständigen zu ermitteln. Gleichzeitig leistete der Beklagte unter Vorbehalt einen Vorschuss von 70.000 €.

Die Pflegeversicherung erbrachte für die Klägerin zunächst bis April 2011 Leistungen nach der Pflegestufe 3 und seit Mai 2011 Leistungen nach der Pflegestufe 2. Für den hier in Rede stehenden Zeitraum von November 2013 bis Oktober 2016 erhielt die Klägerin von der Pflegeversicherung Pflegeleistungen in Höhe von insgesamt 16.104 €.

Die Klägerin hat behauptet, sie habe aufgrund der unfallbedingten Verletzungen auch während des streitgegenständlichen Zeitraums nach wie vor rund um die Uhr einer Betreuung und Beaufsichtigung bedurft. Sie hat ferner die Auffassung vertreten, es seien seit ihrer im April 2015 eingetretenen Volljährigkeit und seit ihrer im August 2015 aufgenommenen Berufstätigkeit keine Abzüge mehr für Sowieso-Zeiten von täglich 7 Stunden, die Eltern durchschnittlich für die Betreuung gesunder Kinder ebenfalls aufwenden, in Abzug zu bringen, weil ein altersentsprechender Betreuungsaufwand gesunder Kinder mit Eintritt in das Erwachsenenleben und der Aufnahme einer Berufstätigkeit nicht mehr bestehe.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, der Beklagte könne die von der Pflegeversicherung geleisteten Zahlungen nicht in Abzug bringen, weil zu Gunsten der Klägerin das Angehörigenprivileg des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X Anwendung finde. Aufgrund des Angehörigenprivilegs seien Schadensersatzansprüche der Klägerin nicht auf den Träger der Pflegeversicherung übergegangen.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an sie 69.054,05 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 31.409,06 € seit dem 18.05.2016 und aus 37.644,99 € ab Rechtshängigkeit zu zahlen und

den Beklagten zu verurteilen, die Klägerin von vorgerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 2.885,51 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit gegenüber Rechtsanwältin E freizustellen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat behauptet, die Klägerin bedürfe nicht mehr rund um die Uhr einer Betreuung, denn es sei davon auszugehen, dass sie einen durchgehenden nächtlichen Schlaf von durchaus 8 Stunden habe, während dessen eine Versorgung und Betreuung nicht erforderlich sei und dass zunehmend eine gewisse Selbständigkeit bestehe, so dass die Klägerin tagsüber nicht mehr ständig einer Beaufsichtigung bedürfe. Die von der Klägerin behaupteten täglichen Zeiten der Betreuung würden bestritten.

Der Beklagte hat die Auffassung vertreten, die Klägerin müsse sich die von der Pflegeversicherung an sie geleisteten Zahlungen anrechnen lassen und sei insoweit nicht aktivlegitimiert. Schadensersatzansprüche der Klägerin seien gemäß § 116 Abs. 1 SGB X auf den Träger der Pflegeversicherung übergegangen. Das Familienprivileg finde vorliegend auf den Direktanspruch aus § 115 VVG keine Anwendung. In diesem Zusammenhang sei die Vorschrift des § 86 Abs. 3 VVG entsprechend anzuwenden, demnach komme es zwar zu einem Anspruchsübergang, jedoch könne der Sozialversicherungsträger den Anspruch gegen den Angehörigen nicht geltend machen. Die Ungleichbehandlung von gesetzlich und privat Versicherten widerspreche dem Gleichheitsgrundsatz. Daher sei eine verfassungskonforme Auslegung des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X geboten.

Das Landgericht hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens des J unter Klageabweisung im Übrigen den Beklagten zur Zahlung von 13.139,36 € nebst Zinsen sowie zur Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.723,67 € verurteilt.

Zur Begründung hat es ausgeführt, der unfallbedingte Pflege-, Betreuungs- und Beaufsichtigungsmehrbedarf belaufe sich nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen für den hier in Rede stehenden Zeitraum auf insgesamt 6.928,28 Stunden. Der aufzuwendende Nettostundenlohn einer vergleichbaren entgeltlich eingesetzten Hilfskraft werde auf 12 € geschätzt. Hieraus errechne sich ein Pflegemehrbedarf in Höhe von insgesamt 83.139,36 €, von dem der vom Beklagten bereits geleistete Vorschuss von 70.000 € anzurechnen sei, so dass sich ein verbleibender Anspruch von 13.139,36 € errechne.

Die Klägerin sei aktivlegitimiert, der Schadensersatzanspruch sei nicht gemäß § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X auf den Träger der Pflegeversicherung in Höhe der von ihm erbrachten Leistungen von 16.104,00 € übergegangen. Denn ein Anspruchsübergang sei aufgrund des Angehörigenprivilegs, § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X, ausgeschlossen. Das Angehörigenprivileg gelte nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch für den Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer. Einem vom Haftpflichtanspruch losgelösten Übergang des Direktanspruchs auf den Sozialversicherungsträger stehe die Rechtsnatur des Direktanspruchs als akzessorisches Recht entgegen. Auch finde eine Anrechnung der von der Pflegeversicherung empfangenen Leistungen im Rahmen einer Vorteilsausgleichung nicht statt, denn diese Leistungen sollten nach ihrem Sinn und Zweck nicht dem Schädiger, sondern dem Geschädigten zugutekommen. Eine Übertragung des Regelungsinhalts des § 86 Abs. 3 VVG im Wege der Auslegung oder Analogie komme nicht in Betracht, weil dies der eindeutigen Intention des Gesetzgebers, welche sich aus dem Gesetzgebungsverfahren ergebe, zuwiderlaufen würde. Die sich aus § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X ergebende Gefahr einer doppelten Entschädigung des durch einen Familienangehörigen verletzten sozialversicherten Geschädigten und seine damit verbundene Bevorzugung gegenüber privat Versicherten oder durch nichtangehörige Schädiger sei verfassungsrechtlich hinnehmbar und verstoße nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz. Es sei zwar eine gewisse Tendenz zur Konvergenz einerseits der Privatversicherung und der Sozialversicherung andererseits festzustellen, jedoch bestünden ungeachtet dessen nach wie vor fundamentale Unterschiede zwischen den beiden Versicherungssystemen. Die Vorschrift des § 86 Abs. 1 S. 1 VVG diene auch dazu, eine doppelte Entschädigung des Geschädigten gerade deshalb zu vermeiden, um einem Fehlanreiz für eine vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalls entgegenzuwirken.

Mit seiner hiergegen gerichteten Berufung begehrt der Beklagte abändernd die vollständige Abweisung der Klage, wobei das Urteil nicht angefochten wird, soweit darin die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren bis zu 2.561,83 € ausgesprochen worden ist. Der Beklagte rügt, das Landgericht habe rechtsfehlerhaft angenommen, dass wegen des Angehörigenprivilegs ein Übergang von Schadensersatzansprüchen der Klägerin gegen den Beklagten auf den Träger der Pflegeversicherung nicht stattgefunden habe. Die Ungleichbehandlung von gesetzlich Versicherten, die gemäß § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X trotz kongruenter Leistungen der Sozialversicherung Inhaber des Schadensersatzanspruchs bleiben und von privat Versicherten, die gemäß § 86 Abs. 3 VVG ihren Schadenersatzanspruch verlieren, stelle eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung dar und verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz. Das Landgericht sei gehalten gewesen, das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 100 GG eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Das Angehörigenprivileg des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X solle zwar den Regress des Sozialversicherungsträgers in die Haushaltskasse vermeiden, dürfe aber nicht zu einer doppelten Entschädigung und damit Bereicherung des Geschädigten führen. Der Gesetzgeber habe es aus Unachtsamkeit unterlassen, die nun in § 86 VVG vorgenommene Ausgestaltung des Familienprivilegs (Anspruch geht zwar auf den Sozialversicherungsträger über, dieser kann den Anspruch jedoch nicht geltend machen) auf § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X zu übertragen. Der Bundesgerichtshof habe in seiner jüngeren Entscheidung vom 17.10.2017 (VI ZR 423/16 -, BGHZ 216, 149 ff.), in welcher er seine Rechtsprechung überprüft habe, noch einmal ausdrücklich hervorgehoben, dass Schadensersatz und kongruente Sozialversicherungsleistungen nicht zur Bereicherung des Schädigers führen dürften und habe insoweit selbst rechtliche Bedenken geäußert, ob eine hiermit verbundene Privilegierung von sozialversicherten Geschädigten gegenüber privat Versicherten verfassungsrechtlich hinnehmbar sei. Diese Frage habe der Bundesgerichtshof nur deshalb nicht entscheiden müssen, weil er aufgrund der besonderen Fallkonstellation die Bereicherung des Geschädigten habe vermeiden können. Vor diesem Hintergrund sei § 116 SGB X verfassungskonform in Relation zu § 86 VVG so auszulegen, dass auch bei Vorliegen des Angehörigenprivilegs eine Anrechnung der gesetzlichen Leistungen zu erfolgen habe.

Der Beklagte beantragt,

das erstinstanzliche Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen, soweit der Beklagte verurteilt worden ist, an die Klägerin 13.139,36 € nebst Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 18.05.2016 zu zahlen und verpflichtet worden ist, die Klägerin von vorgerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten in Höhe von mehr als 2.561,83 € gegenüber Rechtsanwältin E, Kstraße 0 in F, freizustellen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt widerklagend,

festzustellen, dass der Klägerin gegenüber dem Beklagten und bei ihm mitversicherten Personen aus dem Unfallereignis vom 00.02.2008 keine Schadensersatzansprüche zustehen, soweit seitens der für die Klägerin zuständigen Sozialversicherungsträger mit den Schadensersatzansprüchen der Klägerin kongruente Leistungen erbracht worden sind und in Zukunft erbracht werden.

Die Klägerin beantragt,

die Widerklage abzuweisen.

Die Klägerin verteidigt die angefochtene Entscheidung.

Sie beantragt,

festzustellen, dass der Beklagte nicht berechtigt ist, das von der Pflegekasse an die Klägerin gezahlte Pflegegeld aus der Pflegeversicherung vom zu ersetzenden Schaden hinsichtlich der Pflege- und Betreuungskosten in Abzug zu bringen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst ihrer Anlagen sowie auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Wegen der getroffenen Feststellungen wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.

II.

1. Der Senat ist einstimmig davon überzeugt, dass die Berufung des Beklagten offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, § 522 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.

Gemäß § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Landgericht in seiner sorgfältig begründeten Entscheidung im ausgeurteilten Umfange einen Schadensersatzanspruch der Klägerin gegenüber dem Beklagten wegen Pflegemehrbedarfs aus §§ 7, 11 S. 1, 18 StVG, § 812 Abs. 1 BGB, § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG, § 1 PflVG bejaht und den Beklagten entsprechend zur Zahlung verurteilt.

a) Die Verpflichtung des Beklagten zum Schadensersatz steht dem Grunde nach zwischen den Parteien nicht im Streit. Die Feststellungen des Landgerichts zum Umfang des Pflegemehrbedarfs und zur Höhe des Schadensersatzanspruchs werden von dem Beklagten mit der Berufung nicht angegriffen.

Die Berufung richtet sich allein gegen die Feststellung des Landgerichts, wonach die Klägerin in voller Höhe aktivlegitimiert sei, weil wegen des Angehörigenprivilegs des § 116 Abs. 6 S. 2 SGB X ein Übergang von Schadensersatzansprüchen der Klägerin gegen den Beklagten auf den Träger der Pflegeversicherung nicht stattgefunden habe.

Der Senat sieht jedoch keine Veranlassung zu einer hiervon abweichenden Bewertung, weil die vom Landgericht im Einzelnen dargelegten rechtlichen Grundsätze in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stehen und auch der Senat die diesbezügliche Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs teilt.

Hierzu im Einzelnen:

(1) Das Angehörigenprivileg des § 116 Abs. 6 S. 2 SGB X verhindert auch den Anspruchsübergang des Direktanspruchs (§ 115 VVG) gegen den Versicherer des Familienangehörigen. Dies folgt aus der Rechtsnatur des gegen den Haftpflichtversicherer gerichteten Direktanspruchs. Er dient der Sicherung der Forderung des Geschädigten und ist deshalb in seinem Bestand und seinen Wirkungen grundsätzlich von dem Haftpflichtanspruch abhängig, er ist ein akzessorisches Recht (BGH, Urteil vom 17.10.2017 - VI ZR 423/16 -, BGHZ 216, 149, juris Rn. 15; BGH, Urteil vom 28.11.2000 - VI ZR 352/99 - BGHZ 146, 108 - VersR 2001, 215 - juris Rn. 8; OLG Köln, Urteil vom 20.05.2020 - 5 U 137/19 -, BeckRS 2020, 10371 Rn. 24; OLG Köln, Urteil vom 01.09.2016 - I-15 U 179/15 - juris Rn. 37).

(2) Eine teleologische Reduktion des Angehörigenprivilegs auf diejenigen Fälle, in denen kein Haftpflichtversicherungsschutz besteht, kommt nicht in Betracht. Dieses liefe im Ergebnis auf eine Durchbrechung des Akzessorietätsgrundsatzes hinaus. Eine Änderung dieser Rechtslage wäre Sache des Gesetzgebers (BGH, Urteil vom 17.10.2017 - a.a.O., juris Rn. 15; BGH, Urteil vom 28.11.2000, a.a.O., juris Rn. 10 f.; OLG Köln, Urteil vom 01.09.2016 - I-15 U 179/15 - juris Rn. 37). Der Bundesgerichtshof hat sich in seiner Entscheidung vom 28.11.2000 ausdrücklich mit Erwägungen im Schrifttum auseinandergesetzt, die für eine "teleologische Reduktion" des Angehörigenprivilegs auf die Fälle eintreten, in denen kein Haftpflichtversicherungsschutz besteht und seine Rechtsprechung nach nochmaliger Überprüfung ausdrücklich bestätigt (BGH, Urteil vom 28.11.2000, a.a.O., juris Rn. 10 f.). In seiner späteren Entscheidung vom 17.10.2017 hat der Bundesgerichtshof insoweit nochmals ausdrücklich bestätigt, er halte - trotz kritischer Stimmen in der Literatur - an seiner Rechtsprechung fest und sehe sich nach wie vor angesichts der klaren Normaussage des § 116 Abs. 6 SGB X sowie der Ausgestaltung des Direktanspruchs als akzessorisches Recht nicht legitimiert, etwa im Wege einer teleologischen Reduktion den Direktanspruch gegen den Versicherer von dem Angehörigenprivileg auszunehmen, dem Geschädigten so den Direktanspruch zu entziehen und dem Sozialversicherungsträger einen Rückgriff gegen den Haftpflichtversicherer zu ermöglichen (BGH, Urteil vom 17.10.2017 a.a.O., juris Rn. 15). Dem schließt sich der Senat an.

(3) Die geschädigte Klägerin muss sich die Anrechnung der Leistungen der Pflegekasse auf ihren Schadensersatzanspruch auch nicht nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung gefallen lassen (vgl. BGH, Urteil vom 17.10.2017, a.a.O., juris Rn. 17; BGH, Urteil vom 28.11.2000, a.a.O., juris Rn. 12 f.). Zwar bewirken diese Folgerungen aus der in § 116 Abs. 6 SGB X getroffenen gesetzgeberischen Entscheidung insoweit eine tatsächliche Besserstellung der Geschädigten. Eine Vorteilsausgleichung hat gleichwohl nicht stattzufinden, weil ihr der Rechtsgedanke aus § 843 Abs. 4 BGB entgegensteht. Leistungen eines Sozialversicherungsträgers, die gerade im Hinblick auf eine besondere Situation des Geschädigten erbracht werden, in die er durch das schädigende Ereignis geraten ist, sollen nach ihrem Sinn und Zweck nicht dem Schädiger, sondern dem Geschädigten zugutekommen, und zwar unabhängig davon, ob diesen Leistungen eigene Beiträge des Geschädigten zugrunde liegen oder nicht (BGH, Urteil vom 17.10.2017, a.a.O., juris Rn. 17; BGH, Urteil vom 28.11.2000, a.a.O., juris Rn. 14; OLG Köln, Urteil vom 20.05.2020 - 5 U 137/19 -, BeckRS 2020, 10371 Rn. 25; OLG Köln, Urteil vom 01.09.2016 - I-15 U 179/15 - juris Rn. 52).

Die Leistungen, die der Sozialversicherungsträger infolge des Unfalls an die Klägerin erbringt, verringern weder den von den Schädigern zu ersetzenden Schaden noch entfalten sie Erfüllungswirkung für die Schädiger und deren Versicherer. Zwischen dem Sozialversicherungsträger und den Schädigern besteht kein Gesamtschuldverhältnis, da es insoweit an der erforderlichen Gleichstufigkeit der Verpflichtungen fehlt. Wie sich schon aus der Zielrichtung des § 116 Abs. 1 SGB X ergibt, ist der Sozialversicherungsträger nur zum vorläufigen Eintreten verpflichtet, während die nach Deliktsrecht (oder nach dem Recht der Gefährdungshaftung) Verantwortlichen den Schaden endgültig tragen sollen (BGH, Urteil vom 17.10.2017, a.a.O., juris Rn. 19).

Diesen rechtlichen Erwägungen schließt der Senat sich an.

(4) Angesichts des klaren Wortlauts des § 116 Abs. 6 SGB X und der Tatsache, dass die Ausgestaltung der Wirkungen des Familienprivilegs zwischenzeitlich nur im Versicherungsvertragsrecht, nicht aber im Sozialversicherungsrecht eine Änderung erfahren hat, ist eine Übertragung des diesbezüglichen Regelungsgehalts des § 86 Abs. 3 VVG n.F. auf § 116 Abs. 6 SGB X im Wege der Auslegung oder Analogie ausgeschlossen (BGH, Urteil vom 17.10.2017, a.a.O., juris Rn. 20). Diese für das Versicherungsvertragsgesetz erfolgte Änderung von einem Ausschluss des Forderungsübergangs hin zu einem Ausschluss des Regresses hat der Gesetzgeber trotz der bekannten Konsequenzen nicht auf § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X erstreckt. Der vorherige Gleichlauf zwischen § 67 Abs. 2 VVG a.F. und § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X wurde mit der Änderung des Versicherungsvertragsgesetzes in diesem Punkt aufgegeben. Der Gesetzgeber hat sich allein für eine diesbezügliche Änderung des Versicherungsvertragsgesetzes entschieden. Mit der Annahme eines Forderungsübergangs auch im Rahmen des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X entgegen dem Wortlaut der Regelung, wonach ein solcher Übergang ausdrücklich "ausgeschlossen" ist, und entgegen den unterschiedlichen gesetzgeberischen Entwicklungen im Versicherungsvertragsrecht einerseits und dem Sozialversicherungsrecht andererseits würden die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschritten (BGH, Urteil vom 17.10.2017, a.a.O., juris Rn. 21; OLG Köln, Urteil vom 20.05.2020, a.a.O., Rn. 28).

Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen dort, wo sie zum Wortlaut der Norm und zum klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde. Das Argument des Beklagten, schon einmal habe das Bundesverfassungsgericht im Interesse der Einheitlichkeit des Familienprivilegs eine nicht dem Wortlaut entsprechende verfassungskonforme Auslegung des § 116 SGB X vorgenommen, verfängt nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 12.10.2010 (BVerfGE 127, 263 ff.) die Vorschrift des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X verfassungskonform dahingehend ausgelegt, dass bei getrennt lebenden Eltern auch derjenige Elternteil die Tatbestandsvoraussetzungen eines Lebens in häuslicher Gemeinschaft erfülle, der mit seinem Kind zwar nicht ständig zusammenlebe, aber seine Elternverantwortung in dem ihm rechtlich möglichen Maße tatsächlich nachkomme und regelmäßig längeren Umgang mit seinem Kind pflege, so dass das Kind zeitweise auch in seinen Haushalt integriert sei und damit bei ihm ein Zuhause habe. Eine Auslegung der Vorschrift entgegen ihres Wortlautes hat das Bundesverfassungsgericht nicht vorgenommen. Der Begriff der häuslichen Gemeinschaft ist im Hinblick auf getrennt lebende Eltern, die zeitweise aber in unterschiedlichem Zeitumfang mit dem gemeinsamen Kind zusammenleben auslegungsfähig. Hingegen ist die Formulierung in § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X "Ein Übergang nach Abs. 1 ist ... ausgeschlossen" der Auslegung nicht fähig. Sie kann insbesondere nicht dahingehend ausgelegt werden, dass ein Übergang zwar stattfinden, gegenüber dem Familienangehörigen aber nicht geltend gemacht werden könne (OLG Köln, Urteil vom 20.05.2020 - 5 U 137/19, BeckRS 2020, 10371, Rn. 30).

Dem schließt sich der Senat an.

(5) Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 17.10.2017 (BGH, a.a.O. - juris Rn. 22 ff.) entschieden, dass die Geltendmachung eines dem Geschädigten zustehenden Anspruchs sich insoweit als treuwidrig darstellt, als der Geschädigte mit der Durchsetzung seines auf kongruente Leistungen gerichteten Anspruchs gegen den Haftpflichtversicherer des angehörigen Schädigers den Regressanspruch des Sozialversicherungsträgers gegenüber dem letztlich vollumfänglich haftenden Fremdschädiger und dessen Haftpflichtversicherer zum Erlöschen bringt, § 242 BGB. Die Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs durch den Geschädigten gegenüber dem privilegierten Schädiger (bzw. dessen Versicherer) stellt sich dann als unzulässige Rechtsausübung dar. Denn der Geschädigte verschafft sich eine nur vorübergehende Bereicherung, die er ohnehin wieder herauszugeben hätte. Dadurch wären die in der Vorschrift des § 116 Abs. 1 SGB X zum Ausdruck kommenden beachtlichen Interessen der Versichertengemeinschaft verletzt. Eine vergleichbare Fallkonstellation liegt hier jedoch nicht vor. Die vollumfängliche Haftung trifft vorliegend nicht einen Fremdschädiger, sondern die unter das Angehörigenprivileg fallende Mutter der Klägerin. Beide Parteien haben insoweit übereinstimmend vorgetragen, dass die Mutter der Klägerin durch das plötzliche Abbremsen den Unfall grob fahrlässig allein verschuldet habe und dass Anhaltspunkte für ein Verschulden des Führers des Lkw nicht ersichtlich gewesen seien.

Auch ist für die hier vorliegende Fallkonstellation eine Anwendung des § 242 BGB nicht geboten. Mit Inanspruchnahme des Beklagten (als Versicherer der unter das Angehörigenprivileg fallenden Mutter der Klägerin) wird derjenige in Haftung genommen, der nach der Haftungsverteilung im Innenverhältnis den Schaden letztlich in voller Höhe zu tragen hat. An den Fremdschädiger kann sich der Träger der Rentenversicherung von vornherein nur insoweit halten, als dieser im Innenverhältnis zum angehörigen Schädiger den Schaden zu tragen hat (vgl. BGH, Urteil vom 17.10.2017, a.a.O., juris Rn. 32). Daher führt eine Leistung des Beklagten an die Klägerin hier auch nicht dazu, dass Ansprüche des Trägers der Rentenversicherung gegenüber dem Fremdschädiger zum Erlöschen gebracht werden.

Der Beklagte wird auch nicht etwa doppelt in Anspruch genommen. Der Umstand, dass die Klägerin neben dem Schadenersatz auch kongruente Leistungen der Pflegeversicherung behalten darf, rechtfertigt keine Korrektur über § 242 BGB, da eine solche Auswirkung vom Gesetzgeber als Folge des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X in Kauf genommen worden ist.

(6) Die vorstehenden Grundsätze führen zu dem Ergebnis, dass aufgrund des Angehörigenprivilegs dem geschädigten Angehörigen das Pflegegeld anrechnungsfrei verbleibt, während das nicht verwandte Unfallopfer in Höhe der Pflegegeldleistungen infolge des Anspruchsübergangs gemäß § 116 Abs. 1 SGB X seinen Schadensersatzanspruch verliert. Diese Ungleichbehandlung bedeutet jedoch nicht einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Sie ist als eine Konsequenz des Angehörigenprivilegs, das sich seinerseits als spezielle Ausprägung der in Art. 6 Abs. 1 GG getroffenen objektiven Wertentscheidung darstellt, gerechtfertigt (BGH, Urteil vom 28.11.2000 - VI ZR 352/99 - BGHZ 146, 108 - VersR 2001, 215 - juris Rn. 15; OLG Köln, Urteil vom 01.09.2016 - I-15 U 179/15 - juris Rn. 52).

(7) Die vorstehenden Grundsätze führen auch zu dem Ergebnis, dass gesetzlich Versicherte gemäß § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X trotz des Erhalts kongruenter Leistungen der Sozialversicherung Inhaber des Schadensersatzanspruchs bleiben, während privat Versicherte durch Erhalt kongruenter Leistungen eines privaten Rentenversicherers gemäß § 86 Abs. 3 VVG ihren Schadensersatzanspruch verlieren.

Zur Klärung der Rechtsfrage, ob hierin ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG liegt, kommt eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG vorliegend nicht in Betracht.

Für die Zulässigkeit einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht wäre indes Voraussetzung, dass im vorliegenden Verfahren Ansprüche der benachteiligten Personengruppe strittig wären. Das ist hier nicht der Fall. Es steht die Verfassungsgemäßheit einer Vorschrift in Frage, die die Klägerin begünstigt. Solange der Gesetzgeber einer Personengruppe eine Begünstigung gewährt, haben die Angehörigen dieser Gruppe einen gesetzlichen Anspruch, den sie nicht dadurch verlieren könnten, dass einer anderen Gruppe die Vergünstigungen nicht gewährt worden sind (BVerfG, Beschluss vom 18.07.1984 - 1 BvL 3/81, abgedruckt in NVwZ 1985, 481). Mit anderen Worten: Da der Kläger gesetzlich versichert ist und er durch die auf ihn anwendbare Vorschrift des § 116 Abs. 6 S. 1 SGB X begünstigt wird, hingegen privat Versicherte, die möglicherweise durch die Vorschrift des § 86 Abs. 3 VVG in ihren Grundrechten beeinträchtigt werden, an dem Verfahren nicht beteiligt sind, ist eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht unzulässig (OLG Köln, Urteil vom 20.05.2020 - 5 U 137/19, BeckRS 2020, 10371, Rn. 32). Dem schließt sich der Senat an.

b) In Bezug auf die Höhe des Anspruchs auf Freistellung von vorgerichtlich entstandenen Rechtsanwaltsgebühren ist die Entscheidung des Landgerichts nach den vorstehenden Ausführungen nicht zu beanstanden.

c) Die von dem Beklagten im Berufungsrechtszug erhobene Widerklage hindert einen Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO nicht; sie verliert entsprechend § 524 Abs. 4 ZPO ihre Wirkung, wenn die Berufung durch einstimmigen Beschluss zurückgewiesen wird (BGH, Urteil vom 03.11.2016 - III ZR 84/15 - juris Rn. 14; BGH, Beschluss vom 06.11.2014 - IX ZR 204/13 - juris Rn. 2; BGH, Urteil vom 24.10.2013 - III ZR 403/12 - juris Rn. 8 und 19; Rimmelspacher in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Auflage 2016, § 522 ZPO Rn. 22; Ball in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Auflage 2020 Rn. 28a). Deshalb ist die erstmals seitens des Beklagten in der Berufungsinstanz erhobene Widerklage nicht Gegenstand dieser Entscheidung.

d) Entsprechendes gilt für den im Wege der Klageerweiterung von der Klägerin im Berufungsrechtszug erstmals gestellten Feststellungsantrag.

2. Die übrigen Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 Nr. 2 bis 4 ZPO liegen ebenfalls vor. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung, und eine Entscheidung des Berufungsgerichts ist auch nicht zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Eine mündliche Verhandlung ist nicht geboten.

3. Der Senat hat den Parteien bereits durch Hinweisbeschluss vom 28.09.2020 einen den vorstehenden Ausführungen entsprechenden Hinweis erteilt. Die von dem Beklagten hiergegen durch Schriftsatz vom 24.10.2020 erhobenen Einwendungen prozessualer Art vermögen nicht zu überzeugen. Der Rechtsstreit eignet sich für eine Entscheidung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO, weil der Senat von der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, welche von diesem mehrfach bestätigt worden ist, nicht abweicht.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 709, 711, 713 ZPO.