OLG Hamm, Beschluss vom 12.04.2021 - 1 Vollz (Ws) 524/20
Fundstelle
openJur 2021, 20196
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 161 StVK 23/20
Tenor

Die Rechtsbeschwerde wird zur Fortbildung des Rechts zugelassen.

Die Rechtsbeschwerde wird als unbegründet verworfen.

Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens fallen dem Betroffenen zur Last (§ 121 Abs. 2 StVollzG).

Gründe

I.

Senatsbekannt befindet sich der Betroffene seit dem 00.00.1986 ununterbrochen in Unfreiheit, derzeit in der JVA A. Gegen ihn sind aus zwei Verurteilungen zwei lebenslange Freiheitsstrafen zu vollstrecken.

Der Betroffene wendet sich gegen den Beschluss der 2. kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kleve (im Weiteren: Strafvollstreckungskammer) vom 06. November 2020, mit dem sein ursprünglich gemäß § 113 StVollzG als Vornahmeantrag gestellter Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 12. April 2020, den die Strafvollstreckungskammer nach zwischenzeitlich durch den Leiter der JVA A am 26. Mai 2020 erfolgter (ablehnender) Bescheidung des Antrags des Betroffenen vom 08. März 2020, ihm auf eigene Kosten die Beschaffung der für seine Selbsttötung erforderlichen Medikamente zu ermöglichen, als Verpflichtungsantrag für zulässig erachtet hat, in Ermangelung eines Anspruchs des Betroffenen auf bzw. einer Verpflichtung des Leiters der JVA A zur "Beihilfe zur Selbsttötung" als unbegründet zurückgewiesen worden ist.

Der Beschluss ist dem Betroffenen am 16. November 2020 zugestellt worden. Am 03. Dezember 2020 hat er dagegen zu Protokoll des Rechtpflegers bei der Auswärtigen Rechtsantragsstelle der JVA A Rechtbeschwerde eingelegt, mit der er die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses beantragt und unter Erhebung der Rüge der Verletzung materiellen Rechts sein erstinstanzliches Verpflichtungsbegehren weiterverfolgt. Zur Begründung hat er unter Hinweis auf das bereits erstinstanzlich in Bezug genommene Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 (2 BvR 2347/15 u.a., veröffentlicht bei juris) betreffend die Verfassungswidrigkeit des am 10. Dezember 2015 in Kraft getretenen § 217 StGB ("Geschäftsmäßige Förderung der Suizidhilfe") im Wesentlichen ausgeführt, er begehre lediglich die bloße Genehmigung zur Beschaffung bzw. Aushändigung der zur Selbsttötung erforderlichen Medikamente und damit keine Beihilfe im Sinne eines irgendwie gearteten aktiven Tuns seitens des Leiters der JVA.

Das Ministerium der Justiz hat unter dem 23. Februar 2021 Stellung genommen und beantragt, wie beschlossen. Der Betroffene hat sich dazu privatschriftlich unter dem 20. März 2021 geäußert.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, hat aber in Sache keinen Erfolg.

1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 118 Strafvollzugsgesetz des Bundes (im Folgenden: StVollzG) zulässig, also form- und fristgerecht angebracht und mit einer Begründung versehen, sowie gemäß § 116 Abs. 1 StVollzG zur Fortbildung des Rechts zuzulassen.

Der vorliegende Einzelfall gibt in der Zusammenschau mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 betreffend die Verfassungswidrigkeit des am 10. Dezember 2015 in Kraft getretenen § 217 StGB vor dem Hintergrund des vom Bundesverfassungsgericht in der vorgenannten Entscheidung anerkannten Rechts auf selbstbestimmtes Sterben zwar keinen Anlass, Leitsätze für die Auslegung der Vorschriften der §§ 43 Abs. 1 S. 2, 45 StVollzG NRW aufzustellen. Denn auch unter Berücksichtigung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben betrifft der S. 2 des § 43 Abs.1 StVollzG (weiterhin) die damit gerade nicht in Zusammenhang stehende Verpflichtung der Vollzugsanstalt, den Gefangenen die Bedeutung einer gesunden Ernährung und Lebensführung zu vermitteln. In Bezug auf § 45 StVollzG, der den Anspruch der Gefangenen auf die notwendige, ausreichende und zweckmäßige medizinische Versorgung regelt, die grundsätzlich im Umfang der gesetzlichen Krankenversicherung gewährleistet ist (§ 45 Abs. 1 S. 3 StVollzG NRW), bleibt es auch in Ansehung der vorgenannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dabei, dass insoweit lediglich Heilbehandlungen und Früherkennungs- sowie Vorsorgeleistungen nach Maßgabe des § 11 SBG V umfasst sind, wozu der Bereich des selbstbestimmten Sterbens schon begrifflich ersichtlich nicht gehört. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des am 08. Dezember 2015 in Kraft getretenen Hospiz- und Palliativgesetzes (HPG), durch das die palliative Versorgung Teil der Krankenbehandlung i.R.d. der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. § 27 Abs. 3 S. 1 SGB V) und die Sterbebegleitung Teil des von der gesetzlichen Pflegeversicherung abgedeckten Leistungsspektrums geworden ist (vgl. § 28 Abs. 4 SGB XI). Denn es geht weder um eine palliativmedizinische Behandlung des Betroffenen noch um dessen "Sterbebegleitung", die ein minus zu der (straflosen) indirekten Sterbehilfe darstellt und bereits begrifflich voraussetzt, dass der Sterbevorgang bereits begonnen hat.

Ein solcher Anlass zur Aufstellung von Leitsätzen ergibt sich in der Zusammenschau mit dem genannten Bundesverfassungsgerichtsurteils indes in Bezug auf die Vorschrift des § 43 Abs. 1 S. 1 StVollzG NRW, so dass die Rechtsbeschwerde vor diesem Hintergrund zur Fortbildung des Rechts gemäß § 116 Abs. 1 StVollzG zuzulassen ist. Nach dieser Vorschrift ist seitens der Vollzugsanstalt für "das körperliche, seelische, geistige und soziale Wohlergehen der Gefangenen" zu sorgen; in der Zusammenschau mit dem vorgenannten Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist indes nicht geklärt, ob zu der insoweit sehr weit gefassten (Für-)Sorge für das (insbesondere seelische) Wohlergehen der Gefangenen die "Ermöglichung" der Durchführung eines eigenverantwortlichen Selbsttötungsentschlusses eines Gefangenen und damit die Verwirklichung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben - und sei es auch bereits im Sinne eines tatsächlichen bloßen Duldens - gehört.

2. Die Rechtsbeschwerde ist allerdings nicht begründet. Die Verletzung eines Rechts des Betroffenen ist nicht gegeben.

Die Strafvollstreckungskammer hat im Anschluss an den Leiter der JVA A in rechtlich nicht zu beanstandender Weise dessen Verpflichtung zur bzw. einen Anspruch des Betroffenen auf "Ermöglichung" der Beschaffung und Aushändigung der für seine Selbsttötung erforderlichen Medikamente in Ermangelung einer Rechtsgrundlage verneint. Aus dem einzig in Betracht kommenden § 43 Abs. 1 S. 1 StVollzG NRW ergibt sich auch in der Zusammenschau mit dem genannten Urteil des Bundesverfassungsgerichts kein entsprechender Anspruch des Betroffenen bzw. keine entsprechende Verpflichtung der Vollzugsanstalt.

a. In seinem Urteil vom 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht zwar ausdrücklich als Ausfluss des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG) in Zusammenschau mit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) das Recht eines jeden Einzelnen anerkannt, selbstbestimmt die Entscheidung zu treffen, sein Leben eigenhändig bewusst und gewollt zu beenden (BVerfG, a.a.O., zitiert nach juris Rn. 203 ff.), und zwar unabhängig von sog. fremddefinierten Situationen, also insbesondere (auch) gänzlich ohne palliativen bzw. hospizgeprägten Hintergrund und unabhängig von bestimmten Lebens- und Krankheitsphasen (BVerfG, a.a.O., zitiert nach juris Rn. 210). Dabei hat es zudem ausgesprochen, dass das von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Recht, sich selbst zu töten, auch die Freiheit umfasst, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe in Anspruch zu nehmen, allerdings nur, "soweit sie angeboten wird" (BVerfG, a.a.O., zitiert nach juris Rn. 212 f.). In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht deutlich ausgesprochen, dass es eine "Verpflichtung zur Suizidhilfe nicht geben darf" (BVerfG, a.a.O., zitiert nach juris Rn. 342) und sich aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben (gerade) kein Anspruch der sterbewilligen Person gegenüber Dritten darauf ableitet, "bei einem Selbsttötungsvorhaben unterstützt zu werden" (BVerfG, a.a.O., zitiert nach juris Rn. 289). Vielmehr ist die Entscheidung des Dritten als Gewissensentscheidung nach Art. 4 Abs. 1 GG gleichfalls verfassungsrechtlich geschützt (BVerfG, a.a.O., zitiert nach juris Rn. 299 - ausdrücklich zur ärztlichen Gewissensfreiheit).

b. Unter Berücksichtigung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben ergibt sich somit, dass die im Rahmen seines Organisationsermessens getroffene und von Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Entscheidung des Leiters der JVA A, dem Betroffenen seitens der Anstalt nicht bei einer Selbsttötung zu assistieren, d.h. ungeachtet des strafrechtlichen Begriffs der "Beihilfe" i.S.d. § 27 StGB die Durchführung der Selbsttötung auf irgendeine Art (aktiv) zu unterstützen, auch in der Zusammenschau mit dem nunmehr vom Bundesverfassungsgericht anerkannten Recht auf selbstbestimmtes Sterben nicht zu beanstanden ist.

c. Etwas anderes ergibt sich auch nicht angesichts der vom Betroffenen in der Rechtsbeschwerdebegründung vorgetragenen Ansicht, er begehre gerade keine (aktive) helfende Tätigkeit seitens der Justizvollzugsanstalt, sondern gleichsam lediglich die "Ermöglichung" der Durchführung seines Selbsttötungsentschlusses im Sinne einer bloßen Duldung.

Dabei kann zunächst dahinstehen, ob unter die (Für-)Sorge für das Wohlergehen der Gefangenen i.S.d. § 43 Abs. 1 S. 1 StVollzG NRW begrifflich überhaupt die bloß (passive) Duldung eigenverantwortlich vorgenommener Handlungen des Gefangenen fallen kann, was nicht vorn vorneherein ausgeschlossen erscheint. Darauf kommt es namentlich mit Blick auf die besonderen Umstände der Vollzugssituation allerdings nicht an. Denn im Rahmen des besonderen Vollzugsverhältnisses ist bereits mit Blick auf die Sicherheit und Ordnung in der Anstalt stets eine irgendwie geartete Mitwirkung bzw. Begleithandlung seitens der Vollzugsanstalt nötig (z.B. Genehmigung des Gewahrsams an den todbringenden Präparaten gemäß § 15 Abs. 2 S. 2 StVollzG NRW bzw. im Falle der Aushändigung Beaufsichtigung und Kontrolle des Gefangenen bei der Einnahme der Präparate zur Verhinderung etwaiger Missbräuche), die über eine bloße Duldung hinausgeht und unter Berücksichtigung der oben dargestellten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts gerade nicht erzwungen werden darf.

d. Etwas anderes ergibt sich auch nicht deshalb, weil dem Betroffenen die Verwirklichung seines grundrechtlich geschützten Rechts auf selbstbestimmtes Sterben faktisch unmöglich wäre. Es ist weder vom Betroffenen vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass ihm die Durchführung seiner eigenverantwortlichen Selbsttötung gerade angesichts der ablehnenden (Einzelfall-)Entscheidung des Leiters der JVA A dauerhaft (absolut) unmöglich wäre. Insoweit übersieht der Senat nicht, dass der Betroffene infolge seiner Stellung als Strafgefangener im Verhältnis zu in Freiheit befindlichen Personen zusätzlich auf die nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht erzwingbare Unterstützungsbereitschaft vollzuglicher Entscheidungsträger angewiesen sein wird. Dies resultiert jedoch ausschließlich reflexartig aus den seine Freiheit im Rahmen der zu vollziehenden Freiheitsstrafen anderweitig einschränkenden Regelungen des Strafvollzugsgesetzes NRW, die für sich genommen jedoch gerade nicht etwa den eigenständigen Zweck verfolgen, die Möglichkeiten des Betroffenen auf ein selbstbestimmtes Sterben einzuschränken (vgl. dazu BVerfG, a.a.O., zitiert nach juris Rn. 217).

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