Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 09.03.2021 - L 8 U 49/18
Fundstelle
openJur 2021, 14727
  • Rkr:
Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 16. Mai 2018 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 20. Januar 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. Mai 2016 nur dazu verurteilt wird, das Ereignis vom 15. November 2015 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Auslagen im Vor-, Klage- und Berufungsverfahren zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung eines Verkehrsunfalls als Wegeunfall.

Die 1989 geborene Klägerin arbeitete seit 1. Januar 2012 im Bereich Verkauf und als stellvertretende Leitung in der Tankstelle ihrer Mutter. Am 15. November 2015 verunfallte sie nach dem Ende ihrer Arbeitszeit (14.30 Uhr) um 14:55 Uhr mit ihrem Pkw, da sie auf nasser Fahrbahn mit diesem nach rechts von der Fahrbahn abkam und an den Straßengraben stieß. Der Pkw überschlug sich mehrfach und die Klägerin wurde dabei aus dem Fahrzeug geschleudert. Sie wurde zunächst im W ...klinikum Standort H ... stationär aufgenommen, an der Wirbelsäule operiert und sodann zur Weiterbehandlung in das B... Klinikum Ha ... verlegt (Berichte vom 17. November 2015 bzw. 6. Januar 2016). Die Klägerin erlitt bei dem Unfall Frakturen mehrerer Wirbelkörper, diverse Querfortsatzfrakturen beidseits sowie einen Pleuraerguss nach Thoraxtrauma mit Rippenserienfrakturen 5. bis 8. sowie 11. Diese Verletzungen führten zu einer inkompletten Querschnittlähmung unter dem 11. Brustwirbelkörper mit neurogener Harnblasen- und Mastdarmfunktionsstörung bei dorsaler Spondylodese beim 10. Brustwirbelkörper und 2. Lendenwirbelkörper. Sie wurde vollständig mobilisiert als eingeschränkte Fußgängerin ohne Hilfsmittel entlassen und befand sich dann in laufender ärztlicher und physiotherapeutischer Behandlung.

Die Klägerin teilte der Beklagten am 15. Dezember 2015 in einem persönlichen Gespräch mit deren Mitarbeiterin ausweislich deren Vermerks mit, am 15. No-vember 2015 auf dem Weg von der Arbeit nach Hause bemerkt zu haben, dass ihr Verlobter, der in der vorherigen Nacht bei ihr geschlafen hatte, ihren Schlüssel eingesteckt und ihr nicht ausgehändigt habe. Um in ihre Wohnung zu gelangen, habe sie einen geringfügigen Umweg von 2 bis 3 km fahren müssen, um den Schlüssel bei ihrem Verlobten abzuholen (Gesprächsvermerk vom 16. Dezember 2015). Ihr Verlobter wohnte in der F ... Straße. Sie verunfallte kurz vor dem Wohnort ihres Verlobten, mit dem sie seit 15. Juli 2016 verheiratet ist. Die Entfernung von ihrem Arbeitsplatz (H ...straße ... in M ...) zu ihrer Wohnung (Ma ... in M ...) betrug 602 m, der Unfallort in der F ... ... Straße Höhe Hausnummer 13 war 6,6 km vom Arbeitsplatz entfernt.

Die Beklagte lehnte einen Anspruch auf Entschädigungsleistungen aufgrund des Unfalles vom 15. November 2015 mit Bescheid vom 20. Januar 2016 ab, da die Klägerin sich zum Zeitpunkt des Unfalles nicht auf dem unmittelbaren Weg zu ihrer Wohnung, sondern auf einem gegenüber ihrem üblichen Heimweg zu ihrer Wohnung etwa 6 km längeren Weg befunden habe. Sie habe sich auf einem nicht versicherten Abweg befunden. Diesen Weg habe sie aus eigenwirtschaftlichen Gründen zurückgelegt, da sie die Wohnungsschlüssel von ihrem Lebenspartner habe abholen wollen.

Ihren Widerspruch vom 27. Januar 2016 begründete die Klägerin im Wesentlichen damit, sich auf dem direkten Weg von der Arbeitsstätte befunden zu haben und nicht an ihrer Wohnung vorbeigefahren zu sein. Sie habe die Wohnung ihres damals Verlobten - jetzt Ehemanns - als dritten Ort aufgesucht. Da sie ihren Wohnungsschlüssel dringend benötigt habe, sei wesentlich darauf abzustellen, dass sie den dritten Ort als Zwischenort angesteuert habe, um nach der Arbeit ihre Wohnung aufzusuchen. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11. Mai 2016 zurück. Sie bekräftigte ihre Auffassung.

Die dagegen erhobene Klage ist am 9. Juni 2016 beim Sozialgericht Itzehoe eingegangen. Die Klägerin hat vorgetragen, auch ein nicht nur unbedeutend längerer Weg könne unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehen. Die von ihr gewählte Strecke sei an dem Tag erforderlich gewesen, um letztlich ihren Wohnort zu erreichen. Ihre Handlungstendenz sei darauf ausgerichtet gewesen, ihre Wohnung zu erreichen. Sie habe dieses Ziel zwischendurch nicht aufgegeben und ihren Weg daher nicht unterbrochen, um zwischendurch eine private Verrichtung zu erledigen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hat die Klägerin darauf verwiesen, bereits seit Juni 2015 verlobt gewesen zu sein. Sie hat geschildert, ihren eigentlichen Lebensmittelpunkt zum Unfallzeitpunkt bereits im Haus der Eltern ihres damals noch Verlobten gehabt zu haben. Sie sei nur noch selten in ihrer Wohnung gewesen und habe mit ihrem Verlobten mehr oder minder bei seinen Eltern gewohnt. Sie habe gelegentlich Wäsche aus ihrer Wohnung geholt und etwa zweimal im Monat dort übernachtet.

Die Beklagte hat unter Verweis auf den verwaltungsaktenkundigen Ausdruck der Wegstrecken darauf verwiesen, dass der Abweg eindeutig erkennbar sei.

Das Sozialgericht hat der Klage mit Urteil vom 16. Mai 2018 stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20. Januar 2016 idF des Widerspruchsbescheides vom 9. Mai 2016 dazu verurteilt, den Unfall vom 15. November 2015 als Arbeitsunfall anzuerkennen und der Klägerin die entsprechenden Leistungen nach den Vorschriften des gesetzlichen Unfallversicherungsrechts zu gewähren. Die Klägerin habe zum Unfallzeitpunkt in der Wohnung der Eltern ihres Verlobten einen weiteren Lebensmittelpunkt gehabt, in dem sie mindestens so viel Zeit verbracht habe wie in ihrer eigenen Wohnung, so dass der Weg zu diesem unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden habe.

Gegen das ihr am 8. August 2018 zugestellte Urteil richtet sich die am 15. August 2018 eingegangene Berufung der Beklagten. Die Klägerin habe in der mündlichen Verhandlung erstmals vorgetragen, dass sich ihr Lebensmittelpunkt von ihrer eigenen Wohnung hin zur Wohnung der Eltern ihres damals Verlobten verlagert habe. Weitere Nachweise seien nicht vorgelegt worden. Die Anknüpfungstatsachen für einen Unfallversicherungsschutz zum Unfallzeitpunkt stünden nicht im Vollbeweis fest. Das Sozialgericht habe weitere Ermittlungen unterlassen. Entscheidend sei, dass die Klägerin ihre Wohnung habe aufsuchen wollen und den Weg - aus ihrer Sicht einen Abweg - aus eigenwirtschaftlichen Motiven zurückgelegt habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 16. Mai 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend und benennt Zeugen für ihren regelmäßigen Aufenthalt im Haus ihrer - damals noch zukünftigen - Schwiegereltern.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Für die weiteren Einzelheiten wird auf die aktenkundigen Unterlagen und Schriftsätze Bezug genommen. Der Senat hat die Klägerin im Termin am 9. März 2021 ergänzend befragt sowie die Schwiegermutter der Klägerin und ihren Ehemann als Zeugen gehört. Für ihre Aussagen wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

Gründe

Die Berufung der Beklagten ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingegangen, jedoch im Wesentlichen unbegründet.

1. Die Entscheidung des Sozialgerichts ist zutreffend, soweit die Beklagte verurteilt wurde, anzuerkennen, dass die Klägerin am 15. November 2015 einen Arbeitsunfall erlitten hat. Die streitgegenständliche Entscheidung der Beklagten ist insoweit rechtswidrig. Allerdings hat das Sozialgericht in dem Entscheidungstenor den ebenfalls gestellten, inhaltlich aber nicht ausreichend bestimmten Leistungsantrag der Klägerin (gerichtet auf die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung) berücksichtigt, dem nach der mittlerweile ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung bei einer sinnentsprechenden Auslegung nach § 123 SGG aber keine eigenständige Bedeutung zukommt (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. September 2004 - B 2 U 46/03 R - juris Rn 11/12). Auf die Berufung der Beklagten hat der Senat daher den Entscheidungstenor des Sozialgerichts richtiggestellt, wonach die Beklagte - entsprechend dem eigentlichen Begehren der Klägerin - "nur" dazu zu verurteilen ist, das Ereignis vom 15. November 2015 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

2. Die so verstandene und insgesamt zulässige Klage ist auch begründet. Die Klägerin stand bei ihrem Verkehrsunfall am 15. November 2015 unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit) (§ 8 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - SGB VII). Versicherte Tätigkeiten sind auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII).

Für einen Arbeitsunfall - und gleichermaßen einen Wegeunfall i.S.v. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII - ist daher aufgrund der Regelung in § 8 Abs. 1 SGB VII erforderlich, dass die Verrichtung - bzw. der zurückgelegte Weg - des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit - bzw. dem Arbeitsweg - zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung - bzw. der zurückgelegte Weg - zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls, sondern für die Gewährung einer Verletztenrente. Hinsichtlich des Beweismaßstabs gilt dabei, dass das "Unfallereignis" und der "Gesundheitserst- bzw. Gesundheitsfolgeschaden" sowie die Tatsachen, die den inneren Zusammenhang der Verrichtung im Zeitpunkt des Unfalls zur versicherten Tätigkeit begründen im Wege des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - für das Gericht feststehen müssen (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - Rn 10, 20; Urteil vom 31. Januar 2012, B 2 U 2/11 R - Rn 17).

a) Dass die Klägerin sich am 15. November 2015 mit ihrem PKW mehrfach überschlug und aus ihrem Fahrzeug geschleudert wurde, stellt ein plötzliches, von außen auf ihren Körper einwirkendes Ereignis dar, das u. a. zu mehreren Wirbelkörperbrüchen und mehreren Rippenbrüchen als Gesundheitserstschaden - und langandauernden Folgen in Form einer inkompletten Querschnittlähmung ab dem 11. Brustwirbelkörper - führte. Das Unfallereignis und der Gesundheitserstschaden stehen im Vollbeweis fest. Die Kausalität zwischen dem Pkw-Unfall und den Gesundheitserstschäden steht - mindestens - mit hinreichender Wahrscheinlichkeit fest. Die Klägerin stand als Angestellte bei der Tankstelle ihrer Mutter in einem Beschäftigungsverhältnis und damit als Beschäftigte grundsätzlich unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII. Da sie sich zum Unfallzeitpunkt von ihrer Arbeitsstätte entfernte, befand sie sich auf einem Weg von der Arbeit im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII.

b) Diesen Weg von der Arbeit legte die Klägerin als versicherten Arbeitsweg im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII zurück.

aa) Beim Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort dieser versicherten Tätigkeit als Vor- bzw. Nachbereitungshandlung zur versicherten Tätigkeit ist nicht der Weg als solcher, sondern dessen Zurücklegen versichert, also der Vorgang des Sichfortbewegens auf einer Strecke, die durch einen Ausgangs- und einen Zielpunkt begrenzt ist (BSG, Urteil vom 06. Oktober 2020 - B 2 U 9/19 R - Rn 19). Der innere Zusammenhang zur versicherten Tätigkeit setzt voraus, dass der Weg, den der Versicherte zurücklegt, wesentlich dazu dient, den Ort der Tätigkeit oder nach deren Beendigung - in der Regel - die eigene Wohnung oder einen anderen Endpunkt des Weges von dem Ort der Tätigkeit zu erreichen. Maßgebend ist dabei die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch die objektiven Umstände des Einzelfalles bestätigt wird (BSG, Urteil vom 3. Dezember 2002 - B 2 U 19/02 R - Rn 14; Urteil vom 30. Januar 2020, B 2 U 19/18 R - Rn 19; Urteil vom 6. Oktober 2020, B 2 U 9/19 R - Rn 25, 26). Die Handlungstendenz als eine von den Tatsachengerichten festzustellende innere Tatsache ist aufgrund der objektiven Umstände des Einzelfalls zur Überzeugung des Tatrichters im Vollbeweis festzustellen, wobei die Objektivierung der Handlungstendenz als innerer Haupttatsache voraussetzt, dass alle nach Lage des Einzelfalls als Hilfstatsachen (Indizien) in Betracht kommenden Umstände festgestellt, in eine Gesamtschau eingestellt sowie nachvollziehbar und widerspruchsfrei unter- und gegeneinander abgewogen werden (BSG, Urteil vom 6. Oktober 2020, B 2 U 9/19 R, Rn 26,27).

bb) Die Klägerin befand sich zum Unfallzeitpunkt nicht auf dem direkten Weg von ihrer Arbeitsstätte in der Tankstelle ihrer Mutter zu der von ihr angemieteten Wohnung, sondern auf dem Weg zum Wohnhaus der Eltern ihres Verlobten und sie wollte von dort aus, nachdem sie einen Schlüssel für diese Wohnung - den ihres Verlobten - an sich genommen hatte, zu der von ihr angemieteten Wohnung fahren. Diese Handlungstendenz des von ihr am 15. November 2015 gewählten und zurückgelegten Weges steht für den Senat im Rahmen der freien Überzeugungsbildung (§ 128 SGG) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest. Die Klägerin schilderte diesen Anlass und dieses Ziel ihres Weges bereits am 15. Dezember 2015 gegenüber einer Mitarbeiterin der Beklagten und beschrieb beides schriftsätzlich im Widerspruchs- und im Klageverfahren. Der Senat ist davon überzeugt, dass die Klägerin am 15. November 2015 bereits zu Beginn ihres nach der Arbeit angetretenen Weges das Ziel hatte, das Haus ihrer seinerzeit künftigen Schwiegereltern zu erreichen, um dort einen Schlüssel für ihre Wohnung an sich zu nehmen und erst dann zu ihrer Wohnung zu fahren. Denn die Klägerin hatte nach ihren glaubhaften und glaubwürdigen Angaben im Termin am 9. März 2021 bereits vor Fahrtantritt bemerkt, dass sie den Schlüssel für die von ihr angemietete Wohnung nicht bei sich führte. Sie hatte an dem Morgen die von ihr angemietete Wohnung mit ihrer Handtasche verlassen, ohne ihren Schlüssel mitzunehmen. Da ihr seinerzeit Verlobter sich noch in der Wohnung aufhielt ist nachvollziehbar, dass die Klägerin - bei lebensnaher Betrachtung - die Wohnungstür nicht verschloss und auch nicht abschließen wollte, so dass ihr nicht bewusst war, die Wohnung ohne ihren Schlüssel verlassen zu haben. Der Vermerk einer Mitarbeiterin der Beklagten vom 16. Dezember 2015 steht dieser Beweiswürdigung nicht entgegen, da es sich nicht um eine aktenkundige Angabe der Klägerin handelt.

cc) Der Weg von der Arbeitsstätte zum Wohnhaus ihrer - seinerzeit künftigen - Schwiegereltern ist mit 6,6 km etwa zehnmal so lang wie der Weg von der Arbeitsstätte zu der von ihr angemieteten Wohnung (602 m) und sie hatte zum Unfallzeitpunkt das Haus ihrer Schwiegereltern fast erreicht. Die Klägerin befand sich dabei jedoch nicht - wie die Beklagte annimmt - auf einem von ihrer angemieteten Wohnung wegführenden und nicht versicherten Abweg. Ein Abweg wird angenommen, wenn der Versicherte sich nicht auf direktem Weg in Richtung seiner Arbeitsstätte oder seiner Wohnung, sondern in entgegengesetzter Richtung von diesem Ziel fortbewegt (siehe BSG, Urteil vom 22. Dezember 2016, B 2 U 16/15 R - Rn 17). Denn die Klägerin legte einen Weg zu einem häuslichen Bereich zurück, der als Arbeitsweg im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand.

dd) Unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht nicht nur ein Weg zur und von der Arbeitsstätte, der von oder zu einem Wohnraum als privatem Rückzugsraum führt, den der nach § 2 SGB VII Versicherte finanziert und für den eine Meldeadresse behördlich registriert ist, sondern auch der Weg zu dem privaten Rückzugsraum, an dem der Versicherte sich durch soziale Bindungen zu anderen Personen regelmäßig aufhält. Diese Fallkonstellation wird unter dem Stichwort "erweiterter häuslicher Bereich" (BSG, Urteil vom 18. Oktober 1994, 2 RU 31/93; Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 8. März 2017, L 2 U 26/16; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13. Dezember 2017, L 10 U 448/17) diskutiert und ist davon geprägt, dass der Versicherte nicht nur in einem von ihm angemieteten häuslichen Bereich mit melderechtlicher Adresse lebt, sondern sich auch regelmäßig in einem anderen Haushalt einer Person aufhält, zu der eine enge persönliche Verbindung besteht, z. B. Partner einer Liebesbeziehung, und in deren Haushalt der Versicherte integriert ist. Der Weg zum und von dem Ort der Tätigkeit wird dann gewöhnlich von wechselnden Ausgangspunkten aus angetreten, ohne dass einer für sich genommen den einzigen Lebensmittelpunkt bildet. Auf dem Weg von und zu jedem dieser Orte besteht Versicherungsschutz, solange der Versicherte einen dieser beiden Orte direkt ansteuert. Das anschließende Weiterfahren zu oder Pendeln zwischen beiden Lebensmittelpunkten ist nicht nach dem SGB VII versichert. Der Senat schließt sich der vorhandenen Rechtsprechung zur Anerkennung des Weges zu einem erweiterten häuslichen Bereich an und legt sie der weiteren Prüfung zugrunde. Die Annahme eines erweiterten häuslichen Bereichs wird der heutigen gesellschaftlichen Realität gerecht. Dabei hält es der Senat mit dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (a.a.O. Rn 33) auch für allgemeinkundig, dass vor allem bei Beginn einer neuen Partnerschaft die Betroffenen zwar noch die jeweiligen bisherigen Wohnungen beibehalten, ein Zusammensein aber in beiden Wohnungen gelebt wird, selbst wenn möglicherweise in einem der beiden Wohnräume als privater Rückzugsraum quantitativ mehr gemeinsame Zeit verbracht wird.

ee) Die Klägerin war zum Unfallzeitpunkt verlobt. Dieses teilte sie der Beklagten bereits am 15. Dezember 2015 mit und wurde von ihr im Termin vor dem Sozialgericht erneut erklärt. Sie hielt sich seit 1. April 2015 regelmäßig bei ihrem jetzigen Ehemann auf, der seinerzeit und am Unfalltag im Haus seiner Eltern in einem Zimmer lebte. Sie hielt sich dort mindestens fünf bis sechsmal pro Woche auf, nahm dort gemeinsam mit der Familie ihres Verlobten ihre Mahlzeiten zu sich, half bei anfallenden Haushaltsaufgaben, hatte persönliche Gegenstände wie Bekleidung und Schuhe, Kosmetika und Utensilien zur Körperpflege vor Ort und nahm am abendlichen Familienleben ihres zum Unfallzeitpunkt Verlobten teil. Diese Umstände stehen zur Überzeugung des Senats im Vollbeweis und ohne Restzweifel fest. Diese Überzeugung hat der Senat aus den Angaben der Klägerin in der Gerichtsakte und insbesondere durch die persönliche Anhörung im Termin am 9. März 2021 und den Aussagen der Zeugen (§ 118 Abs. 1 SGG, § 373 ZPO) S ... R ... und J ... R ... gewonnen. Die Angaben der Klägerin und der Zeugen sind glaubhaft. Sie sind in sich und im Vergleich untereinander widerspruchsfrei. Es ist keineswegs lebensfern, in dem Alter der Klägerin und ihres seinerzeit Verlobten ein familiäres Leben mit den Eltern unter einem Dach zu suchen, anstatt sich zurückgezogen in der Wohnung aufzuhalten, die die Klägerin angemietet hatte und finanzierte. Die Angaben der Klägerin und die Aussagen der Zeugen S ... R ... und J ... R ... sind glaubwürdig. Sowohl die Klägerin als auch die Zeugen haben spontan und freimütig auf die Fragen geantwortet. Gleichzeitig haben die Aussagen nicht den Eindruck erweckt, vorher aufeinander abgestimmt worden zu sein. So haben die Klägerin und ihre Schwiegermutter unterschiedliche Hilfeleistungen der Klägerin im Haushalt ihrer Schwiegereltern geschildert. Die Klägerin hat erzählt, beim Staubsaugen, Geschirrspüler ausräumen, Bettenbeziehen geholfen zu haben. Die Zeugin R ... hat ausgesagt, die Klägerin habe regelmäßig geholfen, so auch beim Frühjahrsputz und Fensterputzen. Sowohl die Klägerin als auch die Zeugin R ... haben über Bekleidung und persönliche Utensilien berichtet, die die Klägerin regelmäßig im Haus ihrer Schwiegereltern aufbewahrte. Der Senat hat der Zeugin R ... ihr - glaubwürdiges - Wohlwollen gegenüber der Klägerin angemerkt, als sie davon berichtet hat, welche persönlichen Gegenstände die Klägerin in ihren Haushalt einbrachte und die sich demzufolge - wie die Sachen ihrer Söhne - in den Familienalltag einfügten und ihren Platz im Haushalt hatten. Ihre Aussage war von einer Herzlichkeit geprägt, die keine Zweifel daran aufkommen ließ, dass die Klägerin in den Familienalltag ihres Verlobten integriert war. Auch dem Zeugen J ... R ... hat der Senat die - glaubwürdige - tiefe Zuneigung zur Klägerin angemerkt, die bereits zum Unfallzeitpunkt gereift war. So bestand er während der Protokollierung seiner Aussage spontan und inbrünstig darauf, dass die Klägerin zum fraglichen Zeitpunkt - dem Unfalltag - seine Verlobte und nicht - nur - seine Freundin war. Auch seine Aussage lässt daher keine Zweifel daran aufkommen, dass die Klägerin im November 2015 in den Alltag seiner Familie integriert war und sie im Haus seiner Eltern einen Lebensmittelpunkt hatte, den sie regelmäßig nach der Arbeit ansteuerte und von dem aus sie sich regelmäßig auf den Weg zu ihrer Arbeit machte. Angesichts dessen, dass die Klägerin sich nahezu täglich dort aufhielt und übernachtete und sie die eigene Wohnung nur unregelmäßig zur Erledigung einiger Alltagsverrichtungen (z. B. Post holen, Wäsche waschen) oder zum gemeinsamen Treffen mit Freunden aufsuchte, spricht bei Gesamtwürdigung aller Umstände in diesem Fall sogar mehr dafür, das Haus ihrer Schwiegereltern als zentralen Wohnort der Klägerin anzusehen, der durch die von ihr angemietete Wohnung um einen häuslichen Bereich ergänzt wird. Eine abschließende Festlegung ist jedoch nicht rechtserheblich.

ff) Die Klägerin befand sich am 15. November 2015 zum Unfallzeitpunkt auf dem direkten Weg zu diesem (erweiterten) häuslichen Bereich. Dass sie diesen (erweiterten) häuslichen Bereich am Ende dieser Fahrt nur kurz aufsuchen wollte, um einen Schlüssel für die von ihr angemietete Wohnung abzuholen, und dann zu ihrer Wohnung fahren wollte, ist unschädlich. Der an dem Tag versicherte Arbeitsweg endete zwar mit dem Erreichen des anvisierten häuslichen Bereichs bei ihren seinerzeit künftigen Schwiegereltern, endete aber auch nicht vorher.

gg) Da die Klägerin am 15. November 2015 nach der Arbeit ihren häuslichen Bereich im Haus ihrer Schwiegereltern ansteuerte, kommt es nicht darauf an, ob die Klägerin nach der Arbeit mit ihrem Heimweg im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII einen dritten Ort im Sinne der jüngsten Rechtsprechung des BSG (dazu Urteil vom 30. Januar 2020, B 2 U 2/18 R) aufsuchen wollte oder nicht.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.

4. Es liegt keiner der in § 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG genannten Gründe für die Zulassung der Revision vor.

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