OLG Hamburg, Beschluss vom 02.09.2020 - 5 Rev 3/20
Fundstelle
openJur 2020, 79989
  • Rkr:
Tenor

Auf die Revision des Angeklagten werden das Urteil des Landgerichts Hamburg, Kleine Strafkammer 3, vom 13.03.2020 (Az.: 703 Ns 1/19) und das Urteil des Amtsgerichts Hamburg, Abteilung 247, vom 23.10.2018 (Az.: 247 Cs 40/18) aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Hamburg zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Hamburg hat mit Urteil vom 23.10.2018 den Einspruch des Angeklagten gegen den – am 08.02.2018 wegen Beleidigung ergangenen – Strafbefehl über eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen verworfen. Der Angeklagte war trotz ordnungsgemäßer Ladung ausgeblieben und hatte sich auch nicht durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten lassen. Die hiergegen frist- und formgerecht eingelegte Berufung wurde in Anwesenheit des Angeklagten mit Urteil vom 13.03.2020 verworfen. Der Angeklagte hat gegen die Entscheidung Revision eingelegt. Er rügt, dass das in der Berufungsinstanz ergangene Verwerfungsurteil den Rechtsbegriff der genügenden Entschuldigung verkannt habe. Eine mit Schriftsatz vom 02.07.2020 zudem erhobene Inbegriffsrüge hat der Angeklagte mit Schriftsatz vom 20.08.2020 zurückgenommen.

Der Angeklagte beantragt die Aufhebung der Verwerfungsurteile und die Zurückverweisung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Revision als unzulässig oder jedenfalls als unbegründet zu verwerfen (§ 349 Abs. 2 StPO).

II.

Die Revision ist zulässig.

1. Das Vorbringen des Angeklagten ist als Verfahrensrüge auszulegen. Allein mit der Verfahrensrüge kann nach allgemeiner Ansicht überprüft werden, ob das Landgericht rechtsfehlerfrei darauf erkannt hat, dass das Amtsgericht den Einspruch gegen den Strafbefehl zu Recht gemäß §§ 412 S.1, 329 Abs. 1 StPO zu Recht verworfen hat, ob also das Gericht die in Betracht kommenden Entschuldigungsgründe hinreichend aufgeklärt und den Rechtsbegriff der genügenden Entschuldigung fehlerfrei ausgelegt und angewendet hat (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 329 Rn. 48). Demgegenüber wird auf die Sachrüge nur – hinsichtlich des Umfangs im Einzelnen umstritten – geprüft, ob Verfahrenshindernisse vorliegen. Der Angeklagte hat demgegenüber ausdrücklich gerügt, dass das Landgericht den Rechtsbegriff der genügenden Entschuldigung verkannt habe.

2. Die Verfahrensrüge ist formgerecht erhoben. Der Senat schließt sich der Ansicht an, dass an die Zulässigkeit einer Verfahrensrüge des Angeklagten gegen ein nach §§ 412 S.1, 329 Abs. 1 S. 1 StPO ergangenes Verwerfungsurteil oder ein dies bestätigendes Berufungsurteil grundsätzlich keine strengen Anforderungen zu stellen sind. Wird in der Revisionsbegründung unter Angabe bestimmter Tatsachen ausgeführt, das Gericht habe das Fernbleiben nicht als unentschuldigt ansehen dürfen, bezieht dieser Vortrag den Inhalt des angefochtenen Urteils und dessen Feststellungen zu einem möglichen Entschuldigungsvorbringen unmittelbar in das zu prüfende Revisionsvorbringen mit ein, so dass es ausreicht, wenn die Revision unter Angabe bestimmter Tatsachen ausführt, das Gericht habe den Rechtsbegriff der genügenden Entschuldigung verkannt (OLG Karlsruhe, Urteil vom 28.10.2009 – 1 Ss 126/08, Rn. 4, NStZ-RR 2010, 287 f., m. w. Nachw.). Diese geringeren Anforderungen ergeben sich aus Folgendem: Jedenfalls bei Verwerfungsurteilen nach § 412 StPO ist der erste Zugang zum Gericht betroffen, was nicht erst bei der Auslegung und Anwendung des Begriffs des Ausbleibens oder der genügenden Entschuldigung von Bedeutung sein kann. Die ansonsten übliche Systematik der Revisionsrügen gerät zudem bei einem „Prozessurteil“ an ihre Grenzen, wenn der Inhalt des Urteils nicht auf die Sachrüge, sondern nur auf die – ansonsten allein den Weg zur Entscheidung betreffende – Verfahrensrüge überprüft wird, dennoch aber erst auf die – im Übrigen untunliche – Sachrüge der Inhalt des Urteils einbezogen wird, der sich auf rein prozessuale Fragen beschränkt. Soweit die Generalstaatsanwaltschaft sich insoweit auf ein Urteil des Thüringer Oberlandesgerichts (Urteil vom 03.06.2010 – Ss 242/09) bezieht, ist eine andere Konstellation betroffen. Dort wurde die Revision von der Staatsanwaltschaft mit dem Ziel geführt, ein Verwerfungsurteil nach § 412 StPO zu bestätigen, so dass es dort nicht darum ging, dem Angeklagten eine Entscheidung in der Sache zu ermöglichen. Vielmehr hätte eine Erleichterung der Verfahrensrüge in dieser Konstellation dies zulasten des Angeklagten erschwert, weshalb das Thüringische Oberlandesgericht von einer Absenkung der Anforderungen abgesehen hat. Die in der Entscheidung in Bezug genommene weitere Entscheidung betrifft allein die Verwerfung nach § 329 StPO, also nicht den ersten Zugang zum Gericht.

III.

Die Revision hat auch in der Sache Erfolg. Genügend entschuldigt ist das Ausbleiben des Angeklagten, wenn ihm nach Abwägung aller Umstände billigerweise kein Vorwurf gemacht werden kann, wobei zugunsten des Angeklagten eine weite Auslegung geboten ist (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 Rn. 23). Zwar ist grundsätzlich von einer Pflicht zum Erscheinen auszugehen, anerkannt ist aber, dass berufliche Angelegenheiten das Ausbleiben entschuldigen, wenn sie unaufschiebbar und von solcher Bedeutung sind, dass dem Angeklagten das Erscheinen billigerweise nicht zugemutet werden kann (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 Rn. 28). Dabei darf die Bedeutung der Strafsache nicht außer Acht gelassen werden.

Maßgeblich ist, ob der Angeklagte danach hinreichend entschuldigt war, nicht ob er sich hinreichend entschuldigt hat (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 Rn. 18 m. w. Nachw.). Im Berufungsverfahren kann somit auch neues Entschuldigungsvorbringen berücksichtigt werden und neues sowie bereits vorgetragenes Vorbringen in tatsächlicher Hinsicht durch das Berufungsgericht unter den Bedingungen des Strengbeweises aufgeklärt werden. Bei der revisionsrechtlichen Überprüfung, ob der Angeklagte am 23.10.2018 unentschuldigt geblieben ist, ist der Senat aber an die Feststellungen des angefochtenen Urteils gebunden, er darf sie weder – freibeweislich – nachprüfen noch ergänzen.

Danach ist vorliegend auf der Grundlage der landgerichtlichen Feststellungen davon auszugehen, dass das Ausbleiben des Angeklagten hinreichend entschuldigt war und die Kammer den Begriff der Entschuldigung verkannt hat.

Die Kammer hat insoweit festgestellt, dass der Angeklagte auch auf Malta eine Rechtsanwaltskanzlei betreibt und sich am 23.10.2018 auf einer Geschäftsreise auf Malta aufgehalten hat, wobei er nach Erhalt der Ladung die Flüge gebucht habe (UA, S. 4). Offensichtlich geht die Kammer ausweislich der Ausführungen zur Entschuldigung (UA, S. 7) auch davon aus, dass die Geschäftsreise, wie vom Angeklagten vorgetragen, dazu gedient hat, ein Wohnbüro auf Malta bis zum 31.10.2018 zu räumen und zu übergeben sowie ein neues Büro zu suchen und anzumieten.

Weder die Tätigkeit des Angeklagten auf Malta noch die Buchung der Reise, ihren geschäftlichen Zweck und den Antritt der Reise hat sich die Kammer durch entsprechende Unterlagen, namentlich die vergeblich angeforderten Buchungsunterlagen, aber auch Fluggastlisten, Mietverträge/Kündigungen etc., belegen lassen. Sie hat ihre Feststellungen – ungeachtet der vagen und ausweichenden Erklärungen des Angeklagten im Schreiben vom 26.09.2018 (Revisionsschrift, S. 5) – allein anhand der Einlassung des Angeklagten gewonnen. Feststellungen zur Planung der Reise hat die Kammer ebenfalls nicht getroffen, so dass nicht festgestellt ist, zu welchem Zeitpunkt gegebenenfalls die Reisevorbereitungen abgeschlossen waren. Der Senat hat diese Feststellungen aus den soeben genannten Gründen hinzunehmen und kann auf die Revision des Angeklagten zu dessen Lasten weder eigene Aufklärung betreiben noch weitere Aufklärung durch das Berufungsgericht veranlassen.

Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen war das Ausbleiben des Angeklagten entschuldigt. Angesichts des bagatellhaften Tatvorwurfs einerseits, der festgestellten geschäftlichen Belange des Angeklagten und des zeitlichen und finanziellen Aufwandes einer Reiseunterbrechung andererseits, musste die öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung ausnahmsweise zurücktreten.

Die Ausführungen der Kammer, nach denen es sich um verschiebbare, sei es aufschiebbare, sei es vorziehbare, Geschäftsvorgänge gehandelt habe (UA, S. 7), entbehren jeglicher Grundlage in den Feststellungen und erschöpfen sich zudem in Möglichkeitsbehauptungen. Das gilt auch für die Behauptung (UA, S. 8), dass der Angeklagte, wäre er nicht nach Malta gereist, „wahrscheinlich in jedem Fall“ von auswärts zur Hauptverhandlung hätte anreisen müssen. Selbst wenn dies feststünde, fehlte es doch – unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit – an Erkenntnissen, dass die Kosten und der zeitliche Aufwand einer Anreise nach Hamburg aus Großbritannien denjenigen einer Anreise aus Malta entsprechen.