Schleswig-Holsteinisches OVG, Beschluss vom 15.10.2020 - 3 MR 45/20
Fundstelle
openJur 2020, 74602
  • Rkr:

Im Rahmen der nach § 47 Abs. 6 VwGO wegen offener Erfolgsaussichten der Hauptsache anzustellenden Folgenabwägung überwiegen die Interessen der Gesamtbevölkerung am Schutz vor einer Weiterverbreitung des Coronavirus gegenüber den Interessen der Antragsteller an einer touristischen Reise nach Schleswig-Holstein, ohne ein negatives Testergebnis vorlegen zu können.

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Antragsteller, die aus dem Kreis Recklinghausen stammen und von dort anreisen werden, beabsichtigen, die Zeit vom 16. bis 25. Oktober 2020 auf Sylt in einem gebuchten Familienappartement zu verbringen, der Antragsteller zu 1. zunächst zu beruflichen, die übrigen Familienmitglieder (Antragstellerinnen zu 2., 3. und 5. sowie der Antragsteller zu 4) ausschließlich zu touristischen Zwecken.

Sie beantragen,

durch Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO das sogenannte Beherbergungsverbot des § 17 Abs. 2 Landesverordnung zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-Cov-2 SH bis zur Entscheidung über ihren angekündigten Normenkontrolleilantrag außer Vollzug zu setzen.

Der zulässige Eilantrag (1.) hat in der Sache keinen Erfolg (2.).

1. Der Antrag nach § 47 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 6 VwGO ist zulässig.

Danach entscheidet das Oberverwaltungsgericht im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit auf Antrag über die Gültigkeit von anderen im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften, sofern das Landesrecht dies bestimmt. Eine entsprechende Bestimmung ist in § 67 Landesjustizgesetz enthalten. Die Antragsteller wenden sich gegen § 17 Abs. 2 der Landesverordnung zur Bekämpfung des Coronavirus SARS Cov-2 (Corona-Bekämpfungsverordnung - CoronaBekämpfVO) vom 1. Oktober 2020 in der Fassung vom 8. Oktober 2020, mithin gegen eine untergesetzliche Norm.

Die Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO setzt nicht voraus, dass das Normenkontrollverfahren in der Hauptsache bereits anhängig ist (vgl. Ziekow in: Sodan/Ziekow, VwGO-Großkommentar, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 386 m.w.N.).

Die Antragsteller sind auch antragsbefugt, denn sie können jedenfalls geltend machen, zumindest in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) in absehbarer Zeit verletzt zu werden (vgl. § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO), wenn sie ihre Reise nach Sylt nicht wie beabsichtigt antreten können, weil sie nicht über ein negatives Testergebnis in Bezug auf eine Infektion mit dem Coronavirus verfügen, das nicht mehr als 48 Stunden vor Ankunft festgestellt worden ist.

2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet, weil die Voraussetzungen gemäß § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, im Ergebnis nicht vorliegen.

Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015 - 4 VR 5.14 -, juris Rn. 12; OVG Schleswig, Beschl. v. 09.04.2020 - 3 MR 4/20 -, juris). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn - wie hier - die in der Hauptsache angegriffene Norm in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Grundrechtseingriffe enthält oder begründet, sodass sich das Normenkontrollverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweisen dürfte.

Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange der Antragstellerin, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für die Antragstellerin günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist.

Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens im Zeitpunkt der Entscheidung über den Eilantrag nicht (hinreichend) abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, das Normenkontrollverfahren aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015 - 4 VR 5.14 -, juris Rn. 12; vgl. auch BayVGH, Beschl. v. 30.03.2020 - 20 NE 20.632 -, juris Rn. 31ff.).

Die Erfolgsaussichten eines noch einzureichenden Normenkontrollantrags sind offen. Ein solcher Antrag wäre weder offensichtlich unzulässig noch unbegründet. Die von den Antragstellern aufgeworfenen Fragen - insbesondere zur Verhältnismäßigkeit der Anknüpfung des Beherbergungsverbots an die sieben-Tage-Inzidenz von SARS-CoV-2-Neuinfektionen bezogen auf 100.000 Einwohner und Kreis bzw. kreisfreie Stadt - lassen sich angesichts der äußerst knappen Fristsetzung nicht im Eilverfahren abschließend beantworten. Die Antragsteller haben den Antrag am 13. Oktober 2020, nachmittags, anhängig gemacht und begehren eine Entscheidung noch am heutigen Tage.

Aufgrund der offenen Erfolgsaussichten ist eine Folgenabwägung anzustellen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.06.2020 - 1 BvQ 69/20 -, juris Rn. 11).

Durch den weiteren Vollzug der angegriffenen Verordnung kommt es zwar zu einem Eingriff jedenfalls in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit. Dabei hätten es die Antragsteller jedoch in der Hand, durch den Nachweis einer entsprechenden negativen Testung auf eigene Kosten den geplanten Aufenthalt auf Sylt zeitnah zu realisieren. Die vorherige Testung ist ihnen finanziell wie auch im Übrigen zumutbar. Dies gilt umso mehr, als eine Infektion oft unbemerkt auftritt und die Ansteckungsgefahr bereits vor dem Auftreten erster Symptome gegeben ist. Würde der Vollzug der Verordnung jedoch ausgesetzt, könnten ebenso wie die Antragsteller Personen aus inländischen Risikogebieten zu touristischen Zwecken unkontrolliert nach Schleswig-Holstein kommen. Sofern bei solchen Personen Infektionen mit dem Coronavirus vorlägen, ginge hiervon das Risiko von dessen möglicherweise unentdeckter und schwer kontrollierbarer Weiterverbreitung einher, womit entsprechende gesundheitliche Gefahren für die Gesamtbevölkerung verbunden wären. Nach dem Lagebericht des Robert-Koch-Instituts (Stand: 15.10.2020) ist gegenüber dem Vortag aktuell ein weiterer Anstieg an neu Infizierten um 6.638 zu verzeichnen. Dies bedeutet bereits jetzt ein exponentielles Wachstum der Infektionszahlen, woraus relativ umgehend Gefährdungen für das öffentliche Gesundheitswesen folgen. Der Verordnungsgeber ist angesichts des bundesweit zunehmend rasanten Anstiegs der Infektionen nicht gehalten, zuzuwarten, bis sich in Schleswig-Holstein die Situation in ähnlicher Weise entwickelt.

Aufgrund der Erfahrungen aus dem vergangenen Frühjahr, was ein "Lockdown" für jeden einzelnen und insbesondere auch für die Wirtschaft - hier sind in erster Linie die Beherbergungsbetriebe zu nennen - bedeutet, überwiegen bei Gesamtsicht die Interessen der Gesamtbevölkerung am Schutz vor einer Weiterverbreitung des Coronavirus gegenüber den Interessen der Antragsteller an einer touristischen Reise nach Sylt, ohne ein negatives Testergebnis vorlegen zu können. Dies gilt auch im Hinblick auf die Interessen der Beherbergungsbetriebe, Menschen zu touristischen Zwecken ohne Negativattest zu beherbergen. Nach vorläufiger Einschätzung ist das Erfordernis eines solchen Attestes ein hinzunehmender Eingriff in die Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).