AG Königs Wusterhausen, Urteil vom 13.04.2017 - 4 C 2780/16 (2)
Fundstelle
openJur 2020, 35529
  • Rkr:
Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

4. Der Streitwert wird auf 250,00 € festgesetzt.

5. Die Berufung gegen dieses Urteil wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um Ausgleichsansprüche wegen der Annullierung eines Fluges von Schönefeld nach London Gatwick. Der Kläger verlangt von der Beklagten die Leistung einer Ausgleichszahlung in Höhe von 250,00 € nach der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.02.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (nachfolgend: Fluggastrechteverordnung oder Verordnung).

Der Kläger hatte bei der Beklagten eine Flugreise von Schönefeld (SXF) nach London Gatwick (LGW) gebucht. Der Flug mit der Flugnummer U25410 sollte am 29.09.2016 um 10.05 Uhr in Schönefeld starten, planmäßige Ankunft in London war um 11.10 Uhr. Tatsächlich startete der Flug U25410 in Schönefeld verspätet und landete in London Gatwick erst um 16.48 Uhr. Nachdem der Kläger am Flughafen Schönefeld pünktlich zum Abflug erschienen war und eine Bordkarte erhalten hatte, wurde er am Gate von der mehrstündigen Verspätung seiner Maschine unterrichtet. Er trat daher den Flug U25410 nicht an, sondern buchte für sich auf eigene Kosten einen anderen Flug nach London Gatwick. Sein neuer Flug D82751 mit Norwegian Air International startete am 29.09.2016 in Schönefeld bereits um 9.50 Uhr und kam um 11.00 Uhr in London Gatwick an. Mit Schreiben vom 25.11.2016 forderten die Bevollmächtigten des Klägers die Beklagte dazu auf, einen Entschädigungsbetrag von 250,00 € bis zum 02.12.2016 auf ihr Geschäftskonto zu zahlen.

Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagte sei nach der Fluggastrechteverordnung dazu verpflichtet, ihm für den stark verspäteten Flug angesichts der unstreitigen Flugstrecke von weniger als 1.500 km eine Entschädigung von 250,00 € zahlen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 250,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.12.2016 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, dem Kläger keine Ausgleichszahlungen nach Art. 7 der Verordnung zu schulden, da er den Flug nicht angetreten und zudem ohne Zeitverlust den Zielort erreicht habe. Sein Verhalten am 29.09.2016 sei als Rücktritt vom Beförderungsvertrag zu werten.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.

1. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf die begehrte Ausgleichszahlung.

Ihm steht für den stark verspäteten Flug vom 29.09.2016 kein Anspruch auf eine Ausgleichszahlung in Höhe von 250,00 € nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b), Art. 5 Abs. 1 Buchst. c) der Verordnung zu.

a) Zwar mussten die Reisenden bei dem Flug U25410 von Schönefeld (SXF) nach London Gatwick (LGW) am 29.09.2016 eine Flugverspätung von mehr als drei Stunden hinnehmen, was grundsätzlich einen Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung begründet.

b) Eine Ausgleichzahlung nach Art. 7 der Verordnung ist jedoch ausgeschlossen, da der Kläger durch die Buchung eines anderen Fluges nicht verspätet an seinem Zielort angekommen ist.

aa) Offen bleiben kann in diesem Fall, ob die Teilnahme an dem stark verspäteten Flug eine Anspruchsvoraussetzung für eine Ausgleichszahlung nach der Verordnung ist. Bei sachgerechter Würdigung der Interessenlage und Zielrichtung der Verordnung - die Ausgleichszahlung soll für den Verbraucher eine Kompensation für seinen Zeitverlust und andere Unannehmlichkeiten sein - liegt es allerdings nahe, die tatsächliche Teilnahme an dem verspäteten Flug nicht zur Anspruchsvoraussetzung zu erheben. So hat der EuGH bereits in der Sturgeon-Entscheidung vom 19.11.2009 (Az.: C-402/07 und C-432/07) für den Anspruch auf eine Ausgleichszahlung bei einem stark verspäteten Flug nicht auf die Teilnahme des Passagiers an dem Flug, sondern auf seine verspätete Ankunft am Zielort abgestellt. Es ist auf dieser Grundlage folgerichtig, dass bei einem aufgrund der angekündigten starken Verspätung von dem Verbraucher gebuchten Ersatzflug die Teilnahme an dem verspäteten Flug nicht Anspruchsvoraussetzung für die Ausgleichszahlung ist (so auch LG Frankfurt/Main, Urteil vom 25.04.2013, Az.: 2-24 S 213/12; AG Bremen, NJW 2013, 705; befürwortend Schmid, NJW 2015, 516; a. A. LG Darmstadt, Urteil vom 19.09.2012, Az.: 7 S 81/12). Mithin spricht viel dafür, dass es unerheblich ist, ob der Verbraucher die große Verspätung während der Beförderung auf dem ursprünglich gebuchten Flug oder bei einem Ersatzflug erlitten hat.

bb) Ungeachtet dessen ist es jedoch zur Begründung einer Ausgleichszahlung erforderlich, dass der Reisende überhaupt mit starker Verspätung seinen Zielort erreicht. Der Kläger hat jedoch aufgrund der Buchung eines anderen Fluges in diesem Fall gar keine Verspätung erlitten; London Gatwick hat er sogar mit dem Alternativflug zehn Minuten früher erreicht als ursprünglich geplant. Allein die hypothetische mehr als dreistündige Ankunftsverspätung des Klägers, die er bei einem Festhalten an dem gebuchten Flug U25410 erlitten hätte, führt zu keinem Anspruch auf eine Ausgleichszahlung. Aus der Nelson-Entscheidung des EuGH (Az.: C-581/10 und C-629/10, NJW 2013, 671) lässt sich entnehmen, dass auch in solchen Fällen jedenfalls eine Ankunftsverspätung von mehr als drei Stunden vorgelegen haben muss. Wenn eine solche Verspätung im Ergebnis gar nicht eingetreten ist, gibt es auch kein Bedürfnis, den Verbraucher für seinen Zeitverlust und andere Unannehmlichkeiten zu entschädigen, da ihm bei einer an den tatsächlichen Abläufen orientierten Betrachtung gar kein Zeitverlust entstanden ist. Im vorliegenden Fall hat der Kläger sogar durch den selbst organisierten Ersatzflug einen Zeitgewinn von zehn Minuten erzielt und damit den drohenden erheblichen Zeitverlust mehr als ausgeglichen.

cc) Auch der Umstand, dass das unverspätete Eintreffen des Klägers am Zielort allein auf sein eigenes "schadenminderndes" Bemühen zurückgeht, begründet gegen die Beklagte keinen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung. Für eine solche Geschäftsführung im eigenen und zugleich im fremden Interesse weist die Verordnung keine europarechtliche Anspruchsgrundlage zugunsten des Verbrauchers auf.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr. 11 i. V. m. § 711 ZPO.

3. Die Voraussetzungen des § 511 Abs. 4 ZPO liegen vor, so dass der Anregung des Klägers folgend die Berufung gegen dieses Urteil zuzulassen ist. Angesichts der oben aufgezeigten noch nicht abschließend geklärten Rechtsfragen ist zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erforderlich.

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