VG Göttingen, Urteil vom 08.11.2018 - 2 A 292/17
Fundstelle
openJur 2020, 10791
  • Rkr:

1. Homosexuelle bilden im Irak eine soziale Gruppe im Sinne von §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.

2. Eine Strafbarkeit jedweden homosexuellen Geschlechtsverkehrs im Irak ist nach gegenwärtiger Erkenntnislage nicht mit der nötigen Sicherheit nachgewiesen.

3. Homosexuellen droht im Irak grundsätzlich Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure (im Anschluss an VG Berlin, Urteil vom 05.06.2018 – 25 K 327.17 A –).

4. Für Homosexuelle besteht im Irak keine innerstaatliche Fluchtalternative.

Tatbestand

Der 1994 geborene, ledige Kläger ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Nach eigenen Angaben reiste er am 25.07.2015 aus seinem Heimatland aus und erreichte die Bundesrepublik Deutschland am 10.08.2015 auf dem Landweg. Am 28.01.2016 stellte er einen Asylantrag.

Die Erstbefragung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) fand am Tag der Antragstellung statt. Die persönliche Anhörung zum Asylantrag bei der Beklagten erfolgte am 29.02.2016. Hier gab der Kläger an, dass er „Kurde aus Mosul“, der kurdischen Sprache aber wenig mächtig sei. Bis zum Jahr 2014 habe er in Mosul mit seiner Familie, bestehend aus seinen Eltern und seinen beiden Schwestern, gelebt. Er habe zwei Tanten in der Autonomen Region Kurdistan (im Folgenden: ARK). Nach dem Schulabschluss (11. Klasse) habe er als Automechaniker mit seinem Vater (Fahrzeugelektriker) zusammengearbeitet. Am 11.06.2014 sei er mit seiner Familie vor dem sog. IS in das Flüchtlingscamp Domiz in Dohuk geflohen. Kurz darauf habe sich die Familie ein Haus in Dohuk gemietet. Als Gründe für seine Ausreise gab er an, dass sich im Jahr 2006 Soldaten der US-Streitkräfte länger im Haus seiner Familie in Mosul aufgehalten und sich mit ihnen unterhalten hätten. Danach habe es Nachfragen in der Nachbarschaft gegeben, weshalb dies so gewesen sei und ob die Familie mit den Soldaten zusammengearbeitet habe. Im Jahr 2014 habe die Familie, noch in Mosul lebend, ca. drei Monate vor ihrer Flucht vor dem sog. IS einen Drohbrief erhalten. Darin habe gestanden, dass die Familie mit den Amerikanern zusammenarbeite und dass der Kläger und sein Vater gesucht würden. Die Flucht nach Dohuk sei dann mit dem Abrücken der irakischen Streitkräfte aus Mosul im Juni 2014 aufgrund des Einmarsches des sog. IS erfolgt. Er selbst sei aber nie verfolgt worden.

Mit Bescheid vom 22.03.2017 lehnte es die Beklagte ab, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und Asyl zu gewähren. Den subsidiären Schutzstatus gewährte sie ebenfalls nicht. Gleichzeitig stellte sie fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG – nicht vorliegen. Sie forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss seines Asylverfahrens zu verlassen, wobei sie für den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung in den Irak androhte. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete sie auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, dass es an einer flüchtlingsrelevanten Verfolgungshandlung und an einem flüchtlingsrelevantem Anknüpfungsmerkmal fehle. Als junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann könne der Kläger seinen Lebensunterhalt im Irak aus eigenen Kräften bestreiten. In Dohuk gebe es auch keinen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt.

Hiergegen hat der Kläger am 04.04.2017 Klage erhoben.

Zu deren Begründung trägt er im Wesentlichen vor, in der Provinz Ninawa dauere ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt an. Die Lebensumstände im Flüchtlingscamp in Dohuk seien äußerst prekär. Erstmals mit Schriftsatz vom 17.04.2018 trägt der Kläger ergänzend vor, dass er homosexuell sei. Er sei in seinem muslimisch geprägten Umfeld bereits vor der Anhörung bei der Beklagten Ausgrenzung und Diskriminierung ausgesetzt gewesen, als seine sexuelle Orientierung bekannt geworden sei. Daher habe er seine sexuelle Orientierung auch nicht in der Anhörung offenbart.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 22.03.2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise,

ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

äußerst hilfsweise,

festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf den Staat Irak zugunsten des Klägers vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid.

Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung ergänzend zu seinen Fluchtgründen angehört. Wegen des Ergebnisses dieser Befragung wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, die Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die Ausländerakten der Stadt Göttingen Bezug genommen. Diese Unterlagen sind ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen wie Erkenntnismittel, die aus der den Beteiligten mit der Ladung übersandten Liste – nebst deren Ergänzungen, die dem Prozessbevollmächtigten des Klägers vor der mündlichen Verhandlung übermittelt worden sind – ersichtlich sind.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Kammer hat nach dem in der mündlichen Verhandlung erhaltenen Eindruck die Überzeugung gewonnen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG i.V.m. Art. 9, 10 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Homosexuellen droht. Der Kläger hat daher in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 22.03.2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO), soweit er dem entgegensteht.

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II Seite 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II Seite 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

Dabei muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG und der Verfolgungshandlung oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.

Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung im Sinne des § 3d AsylG zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn sich die Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen als unzumutbar erweist, weil bei Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände die für eine bevorstehende Verfolgung streitenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen als die dagegensprechenden Gesichtspunkte. Nach Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie, dass der Ausländer erneut von einem solchen Schaden bedroht wird, setzt einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künftigen Schaden voraus (BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 – 10 C 5/09, juris Rn. 21). Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden.

Die Gefahr eigener Verfolgung kann sich nicht nur aus gegen den Ausländer selbst gerichteten, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Eine solche Gefahr kann auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen (BVerwG, Urt. v. 21.04.2009 – 10 C 11/08, juris Rn. 14; VGH München, Beschl. v. 03.06.2016 – 9 ZB 12.30404, juris Rn. 5). Erforderlich ist demnach eine alle Gruppenmitglieder erfassende gruppengerichtete Verfolgung, die – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraussetzt, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Diese Verfolgung muss landesweit drohen (VGH München, aaO, juris Rn. 5).

Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.

Es obliegt bei alledem dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.02.1988 – 9 C 32/87; BVerfG, Beschl. v. 29.11.1990 – 2 BvR 1095/90, jeweils zitiert nach juris). Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 – 9 C 109.84, zitiert nach juris).

Im Falle innerer Tatsachen ist dabei zu beachten, dass zur Anerkennung schon die bloße Glaubhaftmachung, also die wahrheitsgemäße Schilderung eines insoweit beachtlichen Vortrages durch den Kläger, genügen kann, soweit es sich um asylbegründende Vorgänge außerhalb des Gastlandes handelt (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.11.1977 – I C 33.71, juris Rn. 15). Dies gilt auch für die Frage der sexuellen Orientierung, wenn es sich hierbei auch nicht um Umstände handelt, die nur im Herkunftsland stattfinden (VG Ansbach, Urt. v. 31.01.2018 – AN 10 K 17.31735, juris Rn. 23). Denn dies sind Umstände, die in der Person des Klägers selbst begründet liegen und daher einer Überprüfung, die außerhalb der Würdigung des Vortrags des Klägers liegt, nur schwer zugänglich sind. Tests zum Nachweis der Homosexualität sind aus Rücksicht auf das Persönlichkeitsrecht des Asylbewerbers unzulässig (EuGH, Urt. v. 02.12.2014 – C 148/13, juris Rn. 65 f. und zuletzt EuGH, Urt. v. 25.1.2018 – C 473/16, juris Rn. 34 f.). Des Weiteren darf wegen des Persönlichkeitsrechts des Asylbewerbers nicht verlangt werden, dass der Asylbewerber homosexuelle Handlungen vornimmt oder Videoaufnahmen solcher Handlungen vorlegt und derartige Beweise dürfen, sofern sie angeboten werden, auch nicht verwertet werden. Man kann auch nicht allein deswegen von einer mangelnden Glaubhaftmachung ausgehen, weil der Asylbewerber seine behauptete sexuelle Ausrichtung nicht bei der ersten ihm gegebenen Gelegenheit zur Darlegung der Verfolgungsgründe geltend gemacht hat (EuGH, Urt. v. 02.12.2014 – C 148/13, juris Rn. 71). Bedeutsam für die Frage der Glaubhaftigkeit der Angaben zur Homosexualität sind nicht zuletzt ihre Kohärenz und Plausibilität sowie ob sie mit allgemeinen Informationen in Widerspruch stehen (EuGH, Urt. v. 25.1.2018 – C 473/16, juris Rn. 33).

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

Gemessen hieran ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Es ist nach Auffassung der Kammer beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei Rückkehr in den Irak einer asylrechtlich relevanten Verfolgung durch (insbesondere schiitische) Milizen aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Homosexuellen ausgesetzt sein würde (vgl. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3a Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4, 3c Nr. 3 AsylG), ohne dass ihm wirksamer staatlicher Schutz (vgl. § 3d AsylG) oder eine inländische Fluchtalternative (vgl. § 3e AsylG) zur Verfügung stünde.

Die Kammer ist nach Würdigung aller Umstände davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist. Seine Angaben waren inhaltlich kohärent und plausibel. Sie standen zudem mit allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch. Zwar waren seine Angaben zu den Abläufen der Flucht vor dem sog. IS in der mündlichen Verhandlung widersprüchlich. Diese Widersprüchlichkeit erstreckte sich jedoch nicht auf den Vortrag zu seiner sexuellen Orientierung. Der Vortrag des Klägers zu seiner sexuellen Orientierung hob sich – im Gegenteil – auffallend von seinen (widersprüchlichen) Angaben zum Ablauf der Flucht ab, was die Glaubhaftigkeit des Vortrags zur sexuellen Orientierung unterstreicht. Der Kläger schilderte in sich schlüssig und widerspruchsfrei, wie er mit 14 oder 15 Jahren zu merken begann, dass er „eher Männer mag“. Mit einem etwa ein Jahr jüngeren Cousin, mit dem er aufgewachsen sei und zu dem er großes Vertrauen gehabt habe, habe er dann im Alter von ca. 16 oder 17 Jahren ein einziges Mal Geschlechtsverkehr gehabt. Die Schilderung des Kontaktverlaufs war insoweit glaubhaft, als der Kläger detailreich berichtete, wie der Cousin zunächst immer wieder spaßhaft gesagt habe, dass sowohl der Kläger als auch der Cousin Männer mochten. Aus diesen anfänglichen, an das Thema herantastenden Witzen sei dann später etwas Ernsthaftes geworden, das zu dem einmaligen Geschlechtsverkehr geführt habe. Beide hätten danach große Angst gehabt, dass die Familien etwas davon mitbekommen würden. Im Irak habe er niemandem davon erzählt, weil „diese Dinge im Irak im Wesentlichen privat behandelt“ würden. Auch seine weitere Entwicklung zum bekennenden Homosexuellen schilderte der Kläger glaubhaft: In der Anhörung beim Bundesamt habe er nichts von seinen Neigungen erzählt, weil es ihm unangenehm gewesen sei und er Sorge gehabt habe, dass seine Familie von seiner Homosexualität erfährt. In Göttingen habe er dann auf der Straße erstmalig gesehen, dass zwei Männer oder zwei Frauen sich in der Öffentlichkeit küssten. Dies machte ihn so neugierig, dass er wissen wollte, wie man in Deutschland damit umgeht und welche Freiheiten es gibt. Er habe dann einen Mitschüler an der Berufsbildenden Schule Göttingen gefragt, ob Homosexualität in Deutschland erlaubt sei. Hier schilderte er auf Nachfrage detailreich, dass er darauf geachtet habe, nichts von seiner eigenen Situation zu erzählen. Stattdessen habe er nur erzählt, dass er zwei Männer gesehen habe, die sich in der Öffentlichkeit geküsst hätten. Der Mitschüler habe geantwortet, dass dies in Deutschland erlaubt sei. Der Kläger habe sich dann an eine Lehrerin gewandt und diese habe ihm sofort geholfen, indem sie ihm Organisationen nannte, die ihm Unterstützung bieten könnten. In der Folge habe er über die sozialen Medien eine Transsexuelle namens J., wohnhaft in Hamburg, kennengelernt. Die fünf- bis sechsmonatige Beziehung mitsamt den Plänen einer Heirat sei beendet worden, weil J. Geld und Schmuck verlangt habe, den er ihr aber nicht habe bieten können. Der Kläger konnte auch plausibel beschreiben, dass J. – trotz geschlechtsumwandelnder Operation – für ihn keine Frau sei und dass er Männer möge, aber auch für Transsexuelle eine Neigung habe. Einmal sei der Kläger mit zwei anderen Homosexuellen nach Oldenburg zu einer Party für Homosexuelle gefahren. Dort habe er auch Selfies gemacht und diese auf sein Facebook-Profil gestellt. Der Kläger hat diese Bilder in der mündlichen Verhandlung vorgelegt. Sie zeigen ihn und einen Freund in einer Menschenmenge, in der Pappschilder u.a. mit der Aufschrift hochgehalten werden „Wir haben den homophoben Angriff auf den CSD Oldenburg 2017 nicht vergessen“. Die Bilder habe er aber kurze Zeit danach wieder gelöscht, weil ihm seine Familie einfiel, die davon nichts erfahren sollte. Er habe dann von einer irakischen Nummer aus Mosul Drohungen über „WhatsApp“ erhalten, die sich auf die Bilder bezogen. Diese Drohungen hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung ebenfalls in Form von Fotos vorgelegt. Sie sind vom Dolmetscher übersetzt worden und hatten demnach den vom Kläger zuvor mündlich angegebenen Inhalt, dass sein Leben in Mosul nunmehr gefährdet sei und dass mit ihm dort nie mehr gesprochen werde, sollte er dorthin zurückkehren. Dem Kläger war ferner bekannt – was sich mit der sogleich wiedergegebenen Erkenntnislage deckt –, dass er im Irak Gefahr laufe, von Milizen allein wegen seiner Homosexualität getötet zu werden. Von Strafvorschriften war ihm nichts bekannt, was ebenfalls mit der Erkenntnislage in Einklang zu bringen ist (zu dieser sogleich). Der Kläger hat in diesem Kontext auch erklären können, weshalb er seine Homosexualität erst so spät in das Verfahren eingebracht hat. Er habe über die Drohungen, die er per WhatsApp erhalten hatte, mit seiner Rechtsanwältin gesprochen. Als diese von seiner Homosexualität erfuhr, brachte sie diese in das Verfahren ein. Er selbst wäre darauf von selbst nicht gekommen. Dieser insgesamt inhaltlich schlüssige Vortrag genügt bereits, um die Angaben des Klägers zu seiner sexuellen Orientierung als glaubhaft zu beurteilen. Sie wurden unterstrichen durch rechtstatsächliche Glaubhaftigkeitsmerkmale. Der Kläger sprach – abweichend von seinem Vortrag zur Flucht vor dem sog. IS – flüssig und konnte auf Nachfragen der Kammer ganz überwiegend spontan sowie ohne Zögern (inhaltlich kohärent) antworten. Er sprach zumeist leise und zurückgenommen, was die Glaubhaftigkeit seiner Angaben insoweit unterstrich, als er angab, dass das Thema ihm lange Zeit unangenehm gewesen sei. Die Homosexualität des Klägers steht zur Überzeugung der Kammer fest.

Homosexuelle bilden im Irak eine soziale Gruppe, die eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Hierzu hat das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 05.06.2018 (25 K 327.17 A, juris Rn. 18 f.) ausgeführt:

„Homosexuelle im Irak sind eine soziale Gruppe iSv § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Eine Gruppe gilt danach insbesondere dann als eine soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet.

Dies ist bezogen auf Homosexuelle im Irak der Fall (vgl. VG Ansbach, Urteil vom 31. Januar 2018 – AN 10 K 17.31735 –, juris Rn. 21 mwN). Sie haben eine gemeinsame unveränderliche Eigenschaft und teilen eine eindeutige Identität. Man kann von ihnen auch nicht abverlangen, ihre Neigung zu unterdrücken bzw. geheim zu halten. Von einem Homosexuellen ist insoweit auch nicht mehr Zurückhaltung als von einem Heterosexuellen abzuverlangen (vgl. EuGH, Urteil vom 07. November 2013 – C-199/12 bis C-201/12 –, juris). Die irakische Gesellschaft nimmt Homosexuelle als andersartig war. Sie diskriminiert sie und grenzt sie sozial aus (Auswärtiges Amt, Lagebericht, 12. Februar 2018, S. 14; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Sexuelle Minderheiten in Irakisch Kurdistan, 13. März 2018, S. 2).“

Diese zutreffenden Ausführungen macht sich die Kammer für den vorliegenden Fall vollumfänglich zu eigen.

Es ist ferner beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger als Homosexueller im Irak von (insbesondere schiitischen) Milizen verfolgt werden würde, und zwar unabhängig von seinem weiteren Vorbringen, er habe aufgrund seiner sexuellen Orientierung elektronische Nachrichten mit Drohungen von Unbekannten, die in seiner Heimatstadt Mosul wohnten, erhalten. Innerstaatlichen Schutz (vgl. § 3d AsylG) oder inländische Fluchtalternativen (vgl. § 3e AsylG) hat der Kläger nicht. Das Verwaltungsgericht Berlin hat mit Blick auf die Lage der sozialen Gruppe der Homosexuellen im Irak zur Verfolgungshandlung, den möglichen Akteuren der Verfolgung und den Möglichkeiten innerstaatlichen Schutzes und inländischen Fluchtalternativen in seinem Urteil vom 05.06.2018 (– 25 K 327.17 A, juris Rn. 21 ff.) ausgeführt:

„Im Irak sind Homosexuelle betroffen von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die gem. § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (vgl. insoweit für auch westlich geprägte Afghaninnen: OVG Lüneburg, Urteil vom 21. September 2015 – 9 LB 20/14 –, juris Rn. 31; wohl von einem Nachfluchtgrund für Homosexuelle im Irak ausgehend: VG Ansbach, Urteil vom 31. Januar 2018 – AN 10 K 17.31735 –, juris Rn. 26). Insbesondere droht ihnen physische oder psychische Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG). Dies ergibt sich aus den gerichtlichen Erkenntnissen:

Das irakische Strafgesetzbuch stellt im gegenseitigen Einvernehmen durchgeführte homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Personen nicht mehr unter Strafe (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, 12. Februar 2018, S. 15). Allerdings verbietet Art. 394 des irakischen Strafgesetzbuches außereheliche Sexualkontakte mit Frauen (vgl. Irakisches Strafgesetzbuch Nr. 111 von 1969 idF vom 14. März 2010). Gleichgeschlechtliche Sexualbeziehungen sollen auch hiervon erfasst sein, weil das Gesetz im Irak gleichgeschlechtliche Ehen nicht vorsieht (vgl. VG Ansbach, Urteil vom 31. Januar 2018 – AN 10 K 17.31735 –, juris Rn. 14 unter Bezugnahme auf eine für das Verfahren eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 9. November 2017, siehe ebenso: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 24. August 2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 18. Mai 2018, S. 144). Ferner sollen die Gesetze, die sich mit der „öffentlichen Moral“, Sodomie oder der „Ehre“ auseinandersetzen, so vage definiert sein, dass sie laufend gegen Mitglieder sexueller Minderheiten eingesetzt werden können (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Sexuelle Minderheiten in Irakisch Kurdistan, 13. März 2018, S. 2). Auf der Ebene des Stammesrechts können Stämme Mitglieder aus ihrem eigenen Stamm töten, wenn sie ein sog. schwarzes Verbrechen (as-souda) begehen – wie etwa homosexuelle Handlungen (vgl. UNCHR, Tribal Conflict Resolution in Iraq, 15. Januar 2018, S. 2 Fußnote Nr. 9 mwN). Scharia-Richter sollen bekannt dafür sein, Hinrichtungen von Männern und Frauen aufgrund von gleichgeschlechtlichen Beziehungen anzuordnen, obwohl das irakische Rechtssystem nicht an Entscheidungen der Scharia-Gerichte gebunden ist (vgl. Accord, Lage von LGBTI-Personen, 9. Februar 2017, S. 3 mwN). Große Teile der Bevölkerung lehnen Homosexualität als unvereinbar mit Religion und Kultur ab. Es besteht ein hohes Risiko sozialer Ächtung bis hin zu Ehrenmorden (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12. Februar 2018, S. 14). Dokumentiert sind etwa Steinigungen von Personen, die allein unter dem Verdacht standen, homosexuell zu sein (vgl. U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2016 S. 60), Todesschwadronen gegen Homosexuelle (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe, Gefährdung von Homosexuellen – Sexuelle Übergriffe, 9. November 2009, S. 1), Kampagnen bewaffneter Gruppierungen gegen Homosexuelle (vgl. U.S. Department of State, Human Rights Report 2017, S. 48) sowie Folterungen und Entführungen Homosexueller (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe, Gefährdung von Homosexuellen – Sexuelle Übergriffe, 9. November 2009, S. 1; Accord, Lage von LGBTI-Personen, 9. Februar 2017, S. 3 mwN). Während den Jahren 2003 bis 2009 sollen im Irak zwischen 480 und 680 Homosexuelle getötet worden sein (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe, Gefährdung von Homosexuellen – Sexuelle Übergriffe, 9. November 2009, S. 1-2). Das Erstarken nichtstaatlicher bewaffneter Akteure (zum Hintergrund: SWP, Die »Volksmobilisierung« im Irak, August 2016) soll die Schutzbedürftigkeit von Personen noch verstärkt haben, deren sexuelle Orientierung und/oder geschlechtliche Identität nicht den traditionellen Vorstellungen entsprechen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 24. August 2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 18. Mai 2018, S. 145 mwN). Dies dürfte insbesondere den Süden des Landes betreffen, indem die schiitischen Milizen starken Einfluss haben (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, 12. Februar 2018, S. 15; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Schiitische Milizen – Zwangsrekrutierung, 26. Juli 2016; Accord, Anfragebeantwortung zum Irak: Sicherheitslage in Basra, 29. Dezember 2016). Aber auch in Bagdad – der Herkunftsregion des Klägers – haben diese Einfluss (Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft vom 22. November 2017 S. 3; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Zwangsrekrutierung, 26. Juli 2016, S. 7) und gehen auch hier gegen Homosexuelle vor (Finnish Immigration Service, Security Situation in Baghdad, 29. April 2015, S. 20; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Sexuelle Minderheiten in Irakisch Kurdistan, 13. März 2018, S.16 mwN; Accord, Lage von LGBTI-Personen, 9. Februar 2017, S. 7 mwN). Schließlich sind auch in der Region Kurdistan-Irak keine Fälle von Personen bekannt, die nach ihrem Outing hier weitergelebt haben. Es kommt es zu Gewalt gegen LGBT und es finden „Hexenjagden“ auf diese Personengruppen statt (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Sexuelle Minderheiten in Irakisch Kurdistan, 13. März 2018, S. 3).

Vor diesem Hintergrund geht die Verfolgung jedenfalls von nichtstaatlichen Akteuren iSv § 3c Nr. 3 AsylG aus – wie etwa den schiitischen Milizen (vgl. Finnish Immigration Service, Security Situation in Baghdad, 29. April 2015, S. 20, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 24. August 2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 18. Mai 2018, S. 145 mwN; Counter Extremism Project, Asaib Ahl al-Haq, 2017, S. 19), den Sharia-Gerichten (vgl. Accord, Lage von LGBTI-Personen, 9. Februar 2017, S. 3) oder den Stammesführern (vgl. UNCHR, Tribal Conflict Resolution in Iraq, 15. Januar 2018, S. 2 Fußnote Nr. 9 mwN).

Die in § 3 Nr. 1 AsylG (Staat) und Nr. 2 AsylG (Parteien oder Organisationen) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen sind nicht willens oder in der Lage, Schutz iSd § 3d AsylG vor Verfolgung zu bieten (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe, Gefährdung von Homosexuellen – Sexuelle Übergriffe, 9. November 2009, S. 3). Die Polizei wird mitunter eher als Bedrohung denn als Schutzmacht empfunden. Staatliche Rückzugsorte für LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender) gibt es nicht. Die Anzahl privater Schutz-Initiativen ist sehr beschränkt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, 12. Februar 2018, S. 14; siehe ferner: Accord, Lage von LGBTI-Personen, 9. Februar 2017, S. 6 ff.). Darüber hinaus existiert im Irak weder ein Gesetz gegen Hassverbrechen noch gegen Diskriminierungen bzw. sonstige hilfreichen strafrechtlichen Mittel (vgl. Accord, Lage von LGBTI-Personen, 9. Februar 2017, S. 3; U.S. Department of State, Human Rights Report, 2016, S. 61).

Für den Kläger besteht im Irak keine innerstaatliche Fluchtalternative. Nach § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d (Nr. 1) hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Nach dieser Maßgabe ist dem Kläger die Rückkehr in einen anderen Teil des Iraks auch nicht zuzumuten. Es fehlt – wie aufgezeigt – an der nötigen Schutzfähigkeit und -willigkeit staatlicher Institutionen im gesamten Irak (siehe hierzu auch: VG Ansbach, Urteil vom 31. Januar 2018 – AN 10 K 17.31735 –, juris Rn. 30; VG München, Urteil vom 24. April 2014 – M 4 K 13.30114 –, juris Rn. 39).“

Die Kammer macht sich für das vorliegende Verfahren auch diese Ausführungen im Grundsatz vollumfänglich zu eigen, zumal sie sich im Ergebnis mit der bisherigen Rechtsprechung der Kammer decken (VG Göttingen, Beschl. v. 07.09.2018, 2 B 363/18, n.v.). Zweifel hat die Kammer zwar daran, dass aus Art. 394 Irakisches Strafgesetzbuch formalrechtlich eine Strafbarkeit jedweden außerehelichen Geschlechtsverkehrs – und damit auch jedweden homosexuellen Geschlechtsverkehrs – folgt, weil sich die Vorschrift ihrem Wortlaut nach auf Geschlechtsverkehr mit Menschen unter 18 Jahren zu beziehen scheint. Aufgrund der Zweifel stellt die Kammer nicht auf die möglicherweise gegebene Gefahr einer Freiheitsstrafe für außerehelichen (homosexuellen) Geschlechtsverkehr ab (diese würde bei Vorliegen einer entsprechenden Behördenpraxis schon per se eine Verfolgung durch den Staat Irak begründen, vgl. EuGH, Urt. v. 07.11.2013 – C-199/12 u.a., juris Rn. 56 ff.). Vielmehr wird darauf abgestellt, dass die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, insbesondere schiitische Milizen, nach der zitierten Erkenntnislage gegeben ist.

Im Falle des Klägers sind auch keine Besonderheiten erkennbar, die nahelegen, dass er von Verfolgungshandlungen im Irak durch die genannten Akteure frei wäre oder dass er über Möglichkeiten innerstaatlichen Schutzes (vgl. § 3d AsylG) oder inländische Fluchtalternativen (vgl. § 3e AsylG) verfügt, die sich von der zitierten schutzlosen Lage der Homosexuellen im Irak wesentlich abheben. Auch in den ARK, wo zwei Tanten des Klägers leben, bietet sich für Homosexuelle gemäß der vorstehend wiedergegebenen Erkenntnislage keine wesentlich geschütztere Lage.

Über die Hilfsanträge zu Ziffern 3 und 4 des Bundesamtsbescheids war nicht mehr zu entscheiden, weil dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Abschiebungsandrohung und die Befristungsentscheidung (Ziffern 5 und 6) sind aufgrund des Anspruchs auf Flüchtlingszuerkennung rechtswidrig.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.