BVerfG, Beschluss vom 01.05.2020 - 1 BvR 1003/20
Fundstelle
openJur 2020, 5072
  • Rkr:
Verfahrensgang
Rubrum

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

des Herrn C...,

gegen

a) den Beschluss des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. April 2020 - 5 Bs 66/20 -,

b) den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 29. April 2020

- 11 E 1790/20 -,

c) den Bescheid der Freien und Hansestadt Hamburg – Behörde für Inneres und Sport – vom 24. April 2020 - 574/2020 -

h i e r:  

Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

den Vizepräsidenten Harbarth,

die Richterin Britz

und den Richter Radtke

gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 1. Mai 2020 einstimmig beschlossen:

Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die der Antragsteller für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 7, 367 <371>; 134, 138 <140 Rn. 6>; stRspr). Erkennbare Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gegen eine verwaltungsgerichtliche Eilentscheidung sind zu berücksichtigen, wenn ein Abwarten den Grundrechtsschutz mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte (vgl. BVerfGE 111, 147 <153>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2018 - 1 BvQ 18/18 -, Rn. 5; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. April 2020 - 1 BvQ 37/20 -, Rn. 13; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. April 2020 - 1 BvQ 44/20 -, Rn. 7). Bei einem offenen Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfGE 131, 47 <55>; 132, 195 <232>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 131, 47 <55>; 132, 195 <232>; stRspr).

2. Ausgehend davon kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht in Betracht.

a) Die Verfassungsbeschwerde erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht von vornherein unzulässig und zumindest nicht offensichtlich unbegründet.

b) Die danach gebotene Folgenabwägung geht zum Nachteil des Beschwerdeführers aus.

Wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, sich nach Durchführung des Hauptsacheverfahrens jedoch herausstellte, dass die Verweigerung der Zulassung einer Ausnahme von dem grundsätzlichen Versammlungsverbot in § 2 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in der Freien und Hansestadt Hamburg (Hamburgische SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung – HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO) vom 2. April 2020 (HmbGVBl. S. 181), zuletzt geändert durch Verordnung vom 24. April 2020 (HmbGVBl. S. 232), nach § 3 Abs. 2 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO verfassungswidrig ist, wäre der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG verletzt. Diese Grundrechtsverletzung wäre von erheblichem Gewicht nicht nur im Hinblick auf den Beschwerdeführer, dem die Ausübung seiner grundrechtlichen Freiheit in Bezug auf diese Versammlung verunmöglicht worden wäre, sondern angesichts der Bedeutung der Versammlungsfreiheit für eine freiheitliche Staatsordnung auch im Hinblick auf das demokratische Gemeinwesen insgesamt.

Erginge demgegenüber eine einstweilige Anordnung und würde sich später herausstellen, dass die Ausnahmezulassung zu Recht abgelehnt worden ist, weil die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens im Einklang mit verfassungsrechtlichen Vorgaben annehmen durfte, dass eine Zulassung – auch unter Auflagen, insbesondere zur Beschränkung der Teilnehmerzahl – nicht im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO „aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist“, wären grundrechtlich geschützte Interessen einer großen Anzahl Dritter von hohem Gewicht betroffen. Das grundsätzliche Versammlungsverbot mit Ausnahmevorbehalt nach § 2 Abs. 1 Satz 1 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO, dessen Vereinbarkeit mit Art. 8 GG im Eilverfahren offenbleiben muss (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. April 2020 - 1 BvQ 37/20 -, Rn. 23), dient in Ansehung der aktuellen Coronavirus-Pandemie dem in § 1 Abs. 1 des der Verordnung zugrunde liegenden Infektionsschutzgesetzes umschriebenen Zweck, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern. Ziel der Verordnung ist namentlich der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, zu dem der Staat prinzipiell auch kraft seiner grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG angehalten ist (vgl. BVerfGE 77, 170 <214>; 85, 191 <212>; 115, 25 <44 f.>).

Bei Durchführung der Versammlung stünde nach übereinstimmender und anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls dargelegter Einschätzung der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens, des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts insbesondere zu erwarten, dass es nicht bei der von dem Beschwerdeführer zuletzt angegebenen – von der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens als grundsätzlich infektionsschutzrechtlich vertretbar angesehenen – Zahl von 25 Versammlungsteilnehmern bliebe. Die bereits seit August 2019 in zunächst umfassenderer Form geplante Veranstaltung sei im Internet sowie mit Flugblättern stark beworben worden. Deshalb sei ein erheblich größerer an einer Teilnahme interessierter Personenkreis zu erwarten, der überdies eine behördliche Beschränkung der Teilnehmerzahl nicht durchweg akzeptieren und sich dem steuernden Einfluss sowohl von Ordnern als auch der Polizei entziehen bzw. widersetzen werde. In der Folge sei die Einhaltung der aus Gründen des Infektionsschutzes gebotenen Mindestabstände nicht gewährleistet. In der Folge bestünde die Gefahr einer weiteren und nicht nachvollziehbaren Ausbreitung des Virus.

Gegen diese Einschätzung ist nichts zu erinnern. Insoweit legt das Bundesverfassungsgericht der Prüfung des Eilantrags die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde. Anderes wäre nur dann geboten, wenn die getroffenen Tatsachenfeststellungen offensichtlich fehlsam wären oder die Tatsachenwürdigungen unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechtsnormen offensichtlich nicht trüge (BVerfGK 3, 97 <99>; BVerfG, Beschluss vom 29. August 2015 - 1 BvQ 32/15 -, Rn. 1; jeweils m.w.N.). Das ist hier nicht der Fall, insbesondere auch soweit sich der Beschwerdeführer gegen die Einschätzung einer die Zahl von 25 erheblich übersteigenden Zahl potentieller Versammlungsteilnehmer wendet. Sein Verweis auf eine öffentliche Versammlung seiner Partei am 25. April 2020 in Bremerhaven, an der sich nur 27 Personen beteiligt hätten, sowie auf eine ebenfalls am 1. Mai 2020 geplante Kundgebung eines Kreisverbandes in Braunschweig und weitere ihm „kursorisch“ bekannte Versammlungspläne der NPD für den 1. Mai 2020 in Nordrhein-Westfalen ist nicht geeignet, die den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegende Teilnehmerprognose in Bezug auf die seit langem und ursprünglich in größerem Maßstab geplante sowie im Internet und mit Flugblättern stark beworbene Versammlung des Beschwerdeführers als offensichtlich fehlerhaft erscheinen zu lassen.

Bei Gegenüberstellung der danach jeweils zu erwartenden Folgen muss das Interesse des Antragstellers an der Durchführung der geplanten Versammlung zurücktreten. Die Beeinträchtigung seiner Versammlungsfreiheit ist zwar schwerwiegend, zumal die angeführten gesundheitlichen Risiken wesentlich auch – aber nicht ausschließlich – auf dem Verhalten Dritter beruhen, vor deren Störungen der Staat eine Versammlung grundsätzlich zu schützen hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 11. September 2015 - 1 BvR 2211/15 -, Rn. 3 f.). Gleichwohl überwiegt im vorliegenden Fall das Interesse an der Abwehr infektionsbedingter Risiken für Leib und Leben einer Vielzahl von Personen, weil unter den hier gegebenen Umständen voraussichtlich eine enge räumliche Nähe bis hin zu unmittelbaren Körperkontakten unvermeidlich wäre.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Harbarth

Britz

Radtke