VG Hamburg, Urteil vom 24.09.2018 - 8 A 7823/16
Fundstelle
openJur 2020, 2064
  • Rkr:

1. Homosexuelle Männer im Irak sind eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.

2. a. Homosexuelle Männer, die ihre Homosexualität nicht aus verfolgungsfernen Gründen vollständig verbergen, unterliegen im Irak einer landesweiten Gruppenverfolgung, die an ihre Zugehörigkeit zu der bestimmten sozialen Gruppe der homosexuellen Männer anknüpft.

b. Die Annahme einer alle „offen“ homosexuellen Männer betreffenden Gruppenverfolgung befreit nicht davon, sich die Überzeugungsgewissheit darüber zu verschaffen, dass ein Schutzsuchende sich im Falle einer Rückkehr so verhalten würde, dass seine homosexuelle Orientierung für Dritte sicht- oder entdeckbar ist. Insoweit ist im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Prognose vorzunehmen, wie der Schutzsuchende unter Berücksichtigung des vorherigen Lebens im Herkunftsland und des Lebens in der Bundesrepublik Deutschland seine Homosexualität in seinem Herkunftsland leben würde. Dabei ist von dem Grundsatz auszugehen, dass von einer homosexuellen Person nicht generell erwartet werden kann, dass diese ihre sexuelle Ausrichtung geheim hält (vgl. EuGH, Urt. v. 7.11.2013, C-199/12 u.a., juris, Rn. 65 ff.). Außerdem kann nicht erwartet werden, dass eine homosexuelle Person zur Vermeidung einer Verfolgungsgefahr beim Ausleben ihrer sexuellen Ausrichtung größere Zurückhaltung übt als eine heterosexuelle Person (vgl. EuGH, Urt. v. 7.11.2013, C-199/12 u.a., juris, Rn. 74 f.). Knüpft eine Verfolgung – wie vorliegend – nicht erst an bestimmte homosexuelle Verhaltensweisen, sondern schlechthin an die nach außen erkennbare Homosexualität an, beschränkt sich die Prüfung im Ergebnis darauf, ob der Schutzsuchende seine sexuelle Orientierung auch beim Fehlen einer Verfolgung – aus verfolgungsfernen Gründen – vollständig verbergen würde.

3. Einzelfall einer Beurteilung, ob der Kläger homosexuell veranlagt ist, und der Prognose des hypothetischen Geschlechtslebens im Falle einer Rückkehr.

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 9. Dezember 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Der Kläger, irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am XX. Dezember 2015 in das Hoheitsgebiet der Beklagten ein und erhielt am YY. April 2016 die Gelegenheit zur Stellung eines Asylantrags bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt), den er später auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkte.

Das Bundesamt hörte den Kläger am ZZ. Juni 2016 persönlich zu dessen Asylantrag an. Im Rahmen seiner Anhörung gab er im Wesentlichen an, dass er sich vor seiner Ausreise aus dem Irak zuletzt in „A.“ aufgehalten habe. Dort habe er mit seinen Verwandten, nämlich seinen Eltern, Geschwistern und den Kindern seines Bruders, gelebt, die alle auch nach Deutschland gereist seien. Zu den Gründen seines Asylantrags befragt, gab er weiter an, dass es in seiner Stadt und im Irak keine Sicherheit gebe. Er habe Angst, dass ihm dasselbe passiere wie seinem Vater und seiner Schwester, die 2005 bei einer Bombenexplosion in der Stadt verletzt worden seien. Die Schwester habe ihre Beine verloren und der Vater habe Verletzungen am Bauch erlitten. Eine ärztliche Untersuchung in Deutschland habe ergeben, dass er etwas im Gehirn habe, das gefährlich sein könnte. Persönlich sei ihm im Irak nichts passiert, er könne in dieser Lage aber nicht mehr leben.

Im Verwaltungsverfahren legte der Kläger einen Entlassungsbericht der Zentralen Notaufnahme des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf vom XX. Mai 2016 vor, wonach bei dem Kläger eine Migräne ohne Aura unter Ausschluss intrakranieller Raumforderungen diagnostiziert worden sei.

Mit Bescheid vom 9. Dezember 2016 erkannte die Beklagte dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus nicht zu. Sie stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen, forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung oder, im Falle einer Klageerhebung, nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen, und drohte ihm die Abschiebung in den Irak an. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG befristete sie auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.

Zur Begründung führte sie aus: Der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne des § 3 AsylG, da er keine auf ihn persönlich gerichteten Verfolgungshandlungen vorgetragen habe, sondern sich allein auf allgemeine Befürchtungen, die keine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellten, bezogen habe. Auch die Voraussetzungen des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG lägen nicht vor. Der Kläger habe in A. in der Provinz Dhi Qar gelebt, ihm drohe bei einer Rückkehr dorthin kein ernsthafter Schaden. Nach ihren Erkenntnissen herrsche dort kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Es bestünden auch keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger bei einer Rückkehr die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohe. Auch Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Insbesondere führten die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak nicht zu der Annahme, dass eine Abschiebung des Klägers Art. 3 EMRK verletzen würde. Die von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) für die Annahme eines solchen Verstoßes aufgestellten Anforderungen seien nicht erfüllt. Es werde dabei nicht verkannt, dass die gegenwärtige Versorgungslage im Irak sehr schwierig sei. Unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers, der keine relevanten individuell gefahrerhöhenden Umstände geltend gemacht habe, seien die humanitären Bedingungen bei einer Rückkehr aber nicht als derart schlecht zu bewerten, dass diese den Schweregrad einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung erreichten. Wegen der weiteren Begründung wird auf den Bescheid vom 9. Dezember 2016 (Bl. 74 ff. d. Asylakte) Bezug genommen.

Hiergegen hat der Kläger am 16. Dezember 2016 Klage erhoben und führt zur Begründung aus: Er befinde sich in einer schwierigen Situation, er sei krank. Er habe sich bei der Anhörung auch nicht getraut zu erzählen, dass er schwul sei. Vertiefend lässt er vortragen, dass ihm seit dem späten Teenageralter bewusst gewesen sei, dass er homosexuell sei. Diese Tatsache habe er jedoch vor seiner Familie und seinem sozialen Umfeld verbergen müssen, da Homosexualität im Irak extrem tabuisiert werde und bis vor einigen Jahren noch strafrechtlich verfolgt worden sei. Anfang 2009 sei es durch irakische Milizen, wie die seit einiger Zeit remobilisierte „Mahdi-Armee“, zu einer mehrere Monate anhaltenden Welle von brutalen Ermordungen homosexueller Männer gekommen, wodurch sich Betroffene gezwungen gesehen hätten, ihre sexuelle Identität vorsichtig zu verbergen, um sich und ihre Familien zu schützen. Unter diesen Umständen sei es für den Kläger keine Option gewesen, seiner Familie von seiner sexuellen Identität zu berichten. Im Jahre 2013 sei der Kläger drei Tage vor dem Fest „Arbeihinie“ in seiner Heimatstadt unterwegs gewesen. Er habe sich in der Nähe einer Gruppe anderer junger Männer befunden, als er von einem Zivilpolizisten angesprochen worden sei. Der Polizist habe sich ausgewiesen und habe sich das Handy des Klägers zeigen lassen. Daraufhin habe er den Kläger aufgefordert, ihn zur Wache zu begleiten, da er Fragen beantworten müsse. Auf der Wache hätten sich bereits mehrere Männer befunden, die ebenfalls festgenommen worden seien. Dem Kläger seien sowohl Fragen nach seiner politischen Auffassung als auch nach seiner Kleidung und seiner Haartracht gestellt worden. Wegen beleidigender Bemerkungen und Fragen zu seinem Aussehen habe der Kläger begonnen, zu vermuten, dass die Polizeikontrolle sich gezielt gegen Homosexuelle gerichtet habe. Später sei der Kläger zu einer Polizeistation gebracht worden, die zu einer Anti-Terror-Einheit gehört habe. Dort seien ihm erneut Fragen zu seiner Kleidung gestellt worden. Dann sei er zu Nachrichten in seinem Handy befragt worden, die die Polizisten als zweideutig betrachtet hätten. Er habe jedoch keine homosexuellen Kontakte eingeräumt. Der Kläger sei herumgeschubst und sehr rüde behandelt, allerdings nicht gefoltert worden. Er habe jedoch mitbekommen, dass andere Gefangene, u.a. mit Elektroschocks, gefoltert worden seien. Am zweiten Tag sei der Kläger fotografiert und ihm seien Fingerabdrücke abgenommen worden. Die Polizisten hätten gesagt, dass sie ihn für homosexuell hielten und dass man ihm das nicht durchgehen ließe. Dann sei ihm gesagt worden, dass man ihn am nächsten Tag freilassen, ihn aber im Auge behalten werde, um zu sehen, ob er sich in Zukunft „richtig“ verhalte. Nachdem der Kläger am Folgetag tatsächlich freigelassen worden sei, sei es ihm gelungen, seine Festnahme vor seiner Familie zu verheimlichen. Auch wenn der Kläger davon ausgegangen sei, dass die Polizisten sich in Bezug auf seine sexuelle Identität nicht sicher gewesen seien, habe er große Angst gehabt und habe es in der Folgezeit vermieden, in die Öffentlichkeit zu gehen. Im September 2013 habe der Kläger im Bus einen Herrn C. kennen gelernt. Sie hätten sich angefreundet und nach einiger Zeit hätten sie eine feste Beziehung begonnen, die sie sorgfältig geheim gehalten hätten, so dass sie manchmal für einige Zeit keinen Kontakt gehabt hätten. Beide Männer hätten ständig gefürchtet, dass ihre Homosexualität entdeckt würde, da sie immer wieder von gewalttätigen Übergriffen gehört hätten und sowohl der IS als auch andere radikalislamische Strömungen Homosexuelle offen bedroht hätten. Obwohl der Kläger in einem von der Regierung kontrollierten Gebiet gelebt habe, sei allgemein bekannt gewesen, dass der IS auch dort Einfluss besessen habe und durchaus in der Lage gewesen sei, Anschläge oder Überfälle durchzuführen. Kurz vor dem Opferfest Ende 2015 sei der Kläger zu der Firma, bei der sein Partner gearbeitet habe, gegangen. Dort habe er eine Traueranzeige für diesen gesehen, sein Freund sei ermordet worden. Nähere Informationen habe der Kläger nicht erhalten. Die Kollegen hätten nichts Näheres gewusst und an die Familie habe der Kläger sich nicht wenden können, da diese nichts von seiner Beziehung zu Herrn C. gewusst habe. Der Kläger gehe jedoch davon aus, dass sein Partner, wie von diesem immer befürchtet, einem homosexuellen Hassverbrechen zum Opfer gefallen sei. Der Kläger habe sodann große Angst gehabt, da er nicht gewusst habe, ob die Leute, die Herrn C. getötet gehabt hätten, von ihm gewusst hätten. Ohne seiner Familie etwas von den Vorfällen und seiner Befürchtung mitzuteilen, habe er mit ihnen über die Möglichkeit gesprochen, das Land zu verlassen. Als sie erfahren hätten, dass sich die Möglichkeit eröffnet habe, nach Deutschland zu reisen, habe die gesamte Familie das Land verlassen. Als der Kläger im April 2016 zu seinen Fluchtgründen angehört worden sei, habe er sich nicht getraut, die Frage seiner sexuellen Orientierung aufzuwerfen. Er habe sich vor der nach seinem Eindruck irakischen Dolmetscherin geschämt und habe befürchtet, dass seine Familie durch sie oder auf anderem Wege von seiner Homosexualität erfahren könnte. Seit seiner Ankunft in Deutschland habe der Kläger langsam Kontakt zu anderen Homosexuellen gefunden und so von den Beratungsangeboten des D.-Centrums in Hamburg erfahren. Der Kläger habe dort seit dem 28. November 2016 mehrere Beratungsgespräche in Anspruch genommen. Zudem besuche er zweimal pro Monat das Gruppenangebot „Safe Space“ für homosexuelle und Transgender-Geflüchtete. Als Homosexueller sei der Kläger Angehöriger einer besonderen sozialen Gruppe. Diese Gruppe sei im Irak einer gruppenspezifischen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt. Die irakische Regierung sei nicht willens oder in der Lage, ihm Schutz zu bieten. Die Verfolgungsgefahr sei keineswegs auf die von dem IS kontrollierten Gebiete beschränkt. Die „Verfolgungswelle“ gegen Homosexuelle im Jahr 2009 habe ihren Höhepunkt in Bagdad gehabt. Die Mahdi-Miliz, die damals maßgeblich an den Verfolgungen beteiligt gewesen sei, sei reaktiviert worden und habe sich im Kampf gegen den IS der Regierungskoalition angeschlossen. Auch wenn es seit 2009 nicht mehr zu einer organisierten Mordwelle dieses Ausmaßes gekommen sei, gebe es keine Hinweise darauf, dass die radikalislamischen Gruppen, die in Opposition zum IS ständen, seither ihre Einstellung gegenüber Homosexuellen grundlegend geändert hätten. Es komme weiterhin häufig zu Misshandlungen und Tötungen tatsächlich oder vermeintlich homosexueller Menschen. Die Täter hätten nicht mit staatlichen Sanktionen zu rechnen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Bescheides vom 9. Dezember 2016

1. festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen,

2. ihm hilfsweise subsidiären Schutz zu gewähren,

3. äußerst hilfsweise festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.

Aus dem Schriftsatz der Beklagten vom 2. Januar 2017 ergibt sich der Antrag,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung vom 24. September 2018 den Kläger persönlich angehört und Beweis erhoben durch die Vernehmung des Zeugen E. Wegen der Angaben des Klägers und der Aussage des Zeugen wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die Asylakte des Klägers, die wie auch die mit der Ladung benannten Erkenntnisquellen Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Gründe

I.

Die Kammer konnte entscheiden, obwohl in der mündlichen Verhandlung niemand für die Beklagte erschienen ist, da die Beklagte mit der ordnungsgemäßen Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch bei ihrem Ausbleiben verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO).

II.

Den Hauptantrag versteht die Kammer gemäß § 88 VwGO dem erkennbar verfolgten Ziel nach dahin, dass nicht der wörtlich verlangte Feststellungsausspruch sondern – parallel zu dem Hilfsantrag auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus – die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG gewollt ist. Es spricht nichts dafür, dass der Kläger sich auf ein weniger rechtsschutzintensives und daher nach § 43 Abs. 1 Satz 1 VwGO unzulässiges Feststellungsbegehren beschränken möchte. Insoweit versteht das Gericht seinen Antrag außerdem dahin, dass er sein Rechtsschutzziel durch die Verpflichtung der Beklagten zu einer solchen Zuerkennungsentscheidung erreichen möchte, und nicht, wie der Wortlaut der Anträge nahelegt, im Wege einer Zuerkennung durch das Gericht selbst. Die rechtsgestaltende Entscheidung über die Zuerkennung eines Schutzstatus steht dem Gericht selbst nämlich nicht zu Gebote und könnte in diesem Verfahren nicht erreicht werden.

Mit dem so verstandenen Hauptantrag ist die Klage zulässig und begründet.

1. Die Klage ist zulässig. Insbesondere hat der Kläger durch die Erhebung der Klage am 16. Dezember 2016 die Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 2 AsylG von zwei Wochen ab Zustellung der Entscheidung gewahrt. Die Postzustellungsurkunde (Bl. 107 f. der Asylakte), laut welcher der angefochtene Bescheid bereits am 23. November 2016 zugestellt worden sei, ist offensichtlich unrichtig, da der Bescheid auf den 9. Dezember 2016 datiert und ausweislich der Asylakte erst mit Anschreiben vom 12. Dezember 2016 (Bl. 87 der Asylakte; vgl. den Vermerk auf Bl. 86 der Asylakte) zur Post gegeben wurde.

2. Die Klage ist auch begründet. Denn der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen von § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG dann Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylG), und keiner der Ausschlussgründe der § 3 Abs. 2 und Abs. 3 AsylG vorliegt.

Die weiteren Einzelheiten zu den Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft, u.a. zu den berücksichtigungsfähigen Verfolgungshandlungen und Verfolgungsgründen, den in Betracht kommenden Verfolgungsakteuren und, unter welchen Umständen ein Ausländer auf Schutzakteure in seinem Herkunftsland oder eine dortige inländische Fluchtalternative zu verweisen ist, regeln die §§ 3a - 3e AsylG in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rats vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. Nr. L 337 S. 9; im Folgenden: Richtlinie 2011/95/EU):

Als Verfolgung gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist, (Nr. 1) oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist (Nr. 2).

Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nr. 1 und 2 genannten Akteure ein-schließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Der Schutz vor Verfolgung muss nach § 3d Abs. 2 AsylG wirksam und darf nicht vorübergehend sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Nr. 1 und Nr. 2 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

In der Definition der Flüchtlingseigenschaft und in der Richtlinie 2011/95/EU ist angelegt, dass den Flüchtlingsschutz nur derjenige beanspruchen kann, der Verfolgung aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, zu erwarten hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, juris, Rn. 19). Eine solche beachtliche Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierte“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, a.a.O., Rn. 32). Eine nach diesem Maßstab wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer quantitativen oder mathematischen Betrachtungsweise für dessen Eintritt ein Grad der Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, der – auch deutlich – unterhalb von 50 v.H. liegt. Entscheidend für die Beurteilung der Beachtlichkeit der Gefahr ist vielmehr der qualitative Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung ist, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten oder sich der Gefahr durch Rückkehr in das Heimatland auszusetzen (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.11.1991, 9 C 118/90, juris, Rn. 17; VGH Mannheim, Urt. v. 30.5.2017, A 9 S 991/15, juris, Rn. 25 ff.).

Nach Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Dies entspricht dem Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach zu differenzieren, ob der Ausländer bereits verfolgt worden ist oder nicht, der auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegt (vgl. grundlegend BVerfG, Beschl. v. 2.7.1980, 1 BvR 147, 181 u. 182/80, juris, Rn. 52; BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 5/09, juris, Rn. 21; Urt. v. 31.3.1981, 9 C 237/80, juris, Rn. 13). Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU privilegiert den von der Vorschrift erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht jedoch durch eine Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Ausländer eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie bei einer Rückkehr in das Herkunftsland erneut von Verfolgung bedroht werden und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzutragen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden Umstände erneut realisieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, a.a.O., Rn. 23; EGMR, Urt. v. 28.2.2008, Nr. 37201/06, juris, Rn. 128).

Nach § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.

Nach diesen Vorgaben ist der Kläger ein Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. Ihm droht im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion im Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen der Zugehörigkeit zu der Gruppe der Männer homosexueller Orientierung im Irak Verfolgung. Homosexuelle Männer, die ihre Homosexualität nicht aus verfolgungsfernen Gründen vollständig verbergen, unterliegen im Irak einer Gruppenverfolgung. Diese Gruppenverfolgung knüpft auch an ein Verfolgungsmerkmal im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG an, da es sich bei den homosexuellen Männern im Irak um eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG handelt (dazu unter a.). Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist und bei einer Rückkehr in das Herkunftsland seine Homosexualität nicht aus verfolgungsfernen Gründen vollständig verbergen würde (dazu unter b.). Internen Schutz im Sinne des § 3e AsylG in einem anderen Teil seines Herkunftslandes kann er nicht erlangen (dazu unter c.).

a. Homosexuelle Männer, die ihre Homosexualität nicht aus verfolgungsfernen Gründen vollständig verbergen, unterliegen im Irak einer Gruppenverfolgung.

Die beachtliche Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (so genannte anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Die Feststellung einer solchen gruppengerichteten Verfolgung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, 10 C 11/08, juris, Rn. 13 ff.; Urt. v. 5.7.1994, 9 C 158/94, juris, Rn. 21).

Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsland die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 3d AsylG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.7.2006, a.a.O., Rn. 24).

Diese Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch für auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das Asylgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, a.a.O.; Urt. v. 8.7.2006, 1 C 15/05, BVerwGE 126, 243 ff.).

Nach diesen Maßstäben ist eine Gruppenverfolgung von homosexuellen Männern, die ihre Homosexualität nicht aus verfolgungsfernen Gründen vollständig verbergen, im Irak festzustellen. Schutz im Sinne des § 3d AsylG gegen diese Verfolgung steht den Betroffenen nicht zur Verfügung.

aa. Grundlage für die Beurteilung der Verfolgungsdichte ist nach der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Ermittlung der Größe der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe. Dabei sind als Gruppe zunächst die homosexuellen Männer im Irak zugrunde zu legen (unabhängig vom individuellen Verhalten, insbesondere von dem Ausmaß, in dem sie ihre sexuelle Orientierung geheim halten oder „ausleben“). Stehen verlässliche Zahlen nicht zur Verfügung, so kann (und muss) das Gericht die Größe der Gruppe schätzungsweise ermitteln (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.7.2006, 1 C 15/05, juris, Rn. 25). Hier muss die Kammer auf eine solche Schätzung zurückgreifen, wonach die Gruppe der homosexuellen Männer im Irak ungefähr eine halbe Million Personen umfasst.

Die Kammer geht dabei davon aus, dass der Irak derzeit ca. 38 Millionen Einwohner hat (vgl. Wikipedia zum Lemma „Irak“ unter Berufung auf eine Bevölkerungsprojektion der UN mit dem Stand 2017; Auswärtiges Amt, Länderinformationen, Irak, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/irak-node/irak/203976), von denen die Hälfte männlich ist. Die Kammer hält es für sinnvoll für die Ermittlung der Verfolgungsdichte von diesen nur die (potentiell) sexuell aktiven zugrunde zu legen, da die übrigen, sexuell nicht aktiven Männer in deutlich geringerem Maße Gefahr laufen, Opfer von Verfolgungsschlägen zu werden, die an eine erkennbare oder vermutete sexuelle Ausrichtung anknüpfen, auch wenn die identitätsprägende Wirkung der sexuellen Orientierung von der sexuellen Aktivität nicht abhängt (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 7.3.2013, A 9 S 1873/12, juris, Rn. 117). Es erscheint als plausible Näherung, für den Anteil der sexuell Aktiven auf die Alterskohorte der 15-64-Jährigen abzustellen. Deren Anteil an der männlichen Bevölkerung des Irak umfasst schätzungsweise 56 v.H. (vgl. https://www.lexas.de/naher_osten/irak/index.aspx). Hiervon ausgehend und unter Berücksichtigung von Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 267. Aufl. 2017, Lemma „Homosexualität“, wonach 4-5 v.H. der Männer ausschließlich oder überwiegend auf homosexuelles Verhalten festgelegt seien, kommt man insgesamt zu einer Zahl von 425.000 bis 530.000 homosexuell veranlagter und potentiell Homosexualität praktizierender Männer im Irak.

bb. Bei einer wertenden Betrachtung ist eine auf alle diese Männer zielende Verfolgung festzustellen, die für jeden dieser Männer ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit begründet, wenn sie ihre Homosexualität nicht vollständig verbergen:

Dies ergibt sich aber nicht bereits daraus, dass homosexuelle Praktiken als solche durch den irakischen Staat unmittelbar oder mittelbar unter Strafe gestellt wären. Eine Strafbestimmung, die homosexuelle Beziehungen oder homosexuellen Geschlechtsverkehr verböte, existiert im Irak nicht (vgl. u.a. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [Republik Österreich], Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Irak, Sexuelle Minderheiten in Irakisch Kurdistan, Wien, 13.3.2018, S. 2 ff.). Soweit es in Auskünften des Auswärtigen Amtes heißt, dass Art. 394 des irakischen Strafgesetzbuches von 1969 in der derzeit anwendbaren Fassung außerehelichen Geschlechtsverkehr unter Strafe stelle und damit mittelbar homosexuelles Leben kriminalisiere, weil das irakische Recht eine gleichgeschlechtliche Ehe nicht vorsehe (nunmehr auch im Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak [Stand: Dezember 2018], 12.1.2019, S. 15), kann die Kammer dem nicht folgen. Art. 394 verbietet ausweislich seines übersetzt vorliegenden Wortlauts einverständlichen außerehelichen Geschlechtsverkehr mit einer Frau und auch die einverständliche „Unzucht“ jeweils nur, wenn „das Opfer“ weniger als 18 Jahre alt ist (vgl. die englischsprachige Übersetzung von Art. 394 des irakischen Strafgesetzbuchs, abrufbar unter https://www.refworld.org/docid/452524304.html: „Any person who, outside of marriage, has sexual intercourse with a woman with her consent, or commits buggery with a person with their consent, is punishable [...] if the victim is between the ages of 15 and 18.“).

Die übrige Erkenntnislage zeigt allerdings, dass eine „hinreichende Verfolgungsdichte“ vorliegt. Dabei stützt die Kammer sich auf das folgende allgemeine Lagebild:

Im Länderbericht des Auswärtigen Amtes (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak [Stand: Dezember 2017], 12.2.2018, S. 14) heißt es, dass konservative bzw. radikal-islamische Tendenzen die Entwicklung eines liberal-säkularen Lebensstils im Irak erschwerten. Auch wenn sensible Themen zunehmend öffentlich diskutiert würden, werde Homosexualität weitgehend tabuisiert und von großen Teilen der Bevölkerung als unvereinbar mit Religion und Kultur abgelehnt. Homosexuelle lebten ihre Sexualität meist gar nicht oder nur heimlich aus und sähen sich Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. Es bestehe ein hohes Risiko sozialer Ächtung bis hin zu Ehrenmorden. Konfessionelle Milizen hätten in den letzten Jahren wiederholt LGBTI bedroht und verfolgt und würden mit Ermordungen von homosexuellen Männern in Verbindung gebracht. Eine polizeiliche Untersuchung sei in den wenigsten Fällen bekannt geworden; die Polizei werde mitunter eher als Bedrohung denn als Schutzmacht wahrgenommen. Staatliche Rückzugsorte gebe es nicht, die Anzahl privater Schutz-Initiativen sei sehr beschränkt. Positiv sei zu bemerken, dass ein „interministerielles Komitee zu LGBTI-Fragen“ eingerichtet worden sei, das allerdings seit Mitte 2014 nicht mehr in Erscheinung getreten sei. Mittelfristig solle das Thema im Sinne einer Enttabuisierung auch Gegenstand von Bildungsinhalten werden.

Dem Länderinformationsblatt zum Irak des österreichischen Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand: 23.11.2017, S. 144 f.) lässt sich darüber hinaus entnehmen, dass auch schiitische Milizen Gewalt gegen homosexuelle Männer ausübten, sowie auch gegen Männer, von denen behauptet werde, dass sie homosexuell seien. Es werde von Entführung, Exekution und Folter berichtet. Die zunehmende Gewalt und das damit verbundene Erstarken nichtstaatlicher bewaffneter Akteure habe Berichten zufolge die Schutzbedürftigkeit von Personen, deren sexuelle Orientierung und/oder geschlechtliche Identität nicht den traditionellen Vorstellungen entsprechen, verstärkt. Diese Menschen seien den Meldungen zufolge häufig zahlreichen Formen von Misshandlungen durch verschiedene staatliche und nichtstaatliche Akteure ausgesetzt, einschließlich durch ihre nahen und entfernten Familienangehörigen, das allgemeine gesellschaftliche Umfeld, staatliche Behörden sowie eine Vielzahl bewaffneter Gruppen.

In einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation des österreichischen Bundesamtes (vgl. Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Irak, Sexuelle Minderheiten in Irakisch Kurdistan, Wien, 13.3.2018, S. 2 ff.) heißt es zur Lage der sexuellen Minderheiten in der Region Kurdistan-Irak und im Irak insgesamt darüber hinaus, dass die Gesetze, die sich mit der „öffentlichen Moral“, Sodomie oder der „Ehre“ auseinandersetzen, so vage definiert seien, dass sie laufend gegen Mitglieder sexueller Minderheiten eingesetzt werden könnten. Auch komme es im Irak vor, dass nichtstaatliche Akteure, darunter auch Sharia-Richter, Hinrichtungen von Männern und Frauen anordneten, denen gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen vorgeworfen würden. Homosexuelle Beziehungen seien sowohl im sunnitischen als auch im schiitischen Islam streng untersagt. Gesellschaftliche Diskriminierung in den Bereichen Beschäftigung, Beruf und Wohnung aufgrund der sexuellen Orientierung, der Geschlechtsidentität oder des unkonventionellen Aussehens sei im Irak weit verbreitet. Sexuelle Minderheiten im Irak und in der Region Kurdistan litten unter täglichen Menschenrechtsverletzungen, die von bewaffneten Gruppen begangen würden, von denen einige von der irakischen Regierung selbst unterstützt würden. Einige Quellen besagten, dass die Situation in der Republik Kurdistan-Irak, die vergleichsweise als liberal angesehen werde, besser sei, dass es jedoch auch in der Kurdenregion für Mitglieder sexueller Minderheiten dennoch keineswegs sicher sei. Unter anderem würden auch die kurdischen Sicherheitskräfte LGBT-Personen verhaften und verschwinden lassen. Auch dort komme es zu Gewalt gegen LGBT-Personen und es fänden „Hexenjagden“ auf diese Personengruppe statt. Mögliche Gefahr drohe ihnen insbesondere von Seiten bewaffneter Gruppen, der Polizei, dem Stamm oder der Familie. Bezüglich letzterer seien besonders Ehrverbrechen ein Thema. Solchen würden Männer zwar wesentlich seltener zum Opfer fallen als Frauen, allerdings sei, wenn Männer betroffen seien, laut einer Quelle in den meisten Fällen die Zugehörigkeit oder die vermutete Zugehörigkeit zu einer sexuellen Minderheit das Motiv. Auch in der Region Kurdistan-Irak lebten LGBT-Personen daher im Geheimen und würden sich öffentlich nicht zu ihrer sexuellen Orientierung bekennen. Der Grund für die geringe Anzahl an veröffentlichten Fällen von Gewalt gegen Schwule, liege insgesamt darin, dass Homosexualität ein Tabu darstelle, über das nicht geredet werde. Opfer würden Übergriffe aus Angst vor den Behörden nicht melden oder zur Anzeige bringen, und Behörden unterdrückten Medienberichte über derartige Vorfälle. Ein weiterer Grund für die geringe Zahl an dokumentierten Fällen liege darin, dass es oft an deutlichen Hinweisen auf einen Zusammenhang des Verbrechens mit der sexuellen Orientierung des Opfers fehle, da LGBT-Personen sich in der Öffentlichkeit bedeckt hielten und ihr Aussehen und öffentliches Auftreten den gesellschaftlichen Normen anpassten, wodurch ihre Zugehörigkeit zur LGBT-Gemeinschaft häufig nicht bekannt werde.

Einer Anfragebeantwortung des österreichischen Roten Kreuzes zur Lage von LGBTI-Personen im Irak (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von LGBTI-Personen, 9.2.2017 [im Folgenden: ACCORD, Anfragebeantwortung vom 9.2.2017]) lässt sich des Weiteren entnehmen, dass es im Irak zwar kein Gesetz gebe, das einvernehmliche sexuelle Handlungen verbiete, allerdings seien – unter anderem – homosexuelle Paare aufgrund von „Unzucht“ (wie etwa „öffentliche Unsittlichkeit“) einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt. Demgegenüber gebe es im Irak weder ein Gesetz gegen Hassverbrechen noch gegen Diskriminierungen und überhaupt keine strafrechtlichen Mittel zur Strafverfolgung von Verbrechen, die aufgrund einer Voreingenommenheit gegenüber LGBTI-Personen verübt worden seien (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung vom 9.2.2017 unter Berufung auf einen Bericht des US-amerikanischen Department of State von April 2016 mit Berichtzeitraum 2015). Trotz wiederholter Drohungen und Gewalt, die auf LGBTI-Personen abzielten, habe es die Regierung weder vermocht, Angreifer zu identifizieren, festzunehmen und zu belangen, noch die Opfer zu schützen (vgl. ebda.). Einem von mehreren Nichtregierungsorganisationen verfassten Bericht an den UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zur Lage von LGBT-Personen im Irak vom August 2015 zufolge, sei es im Irak sehr gefährlich, als LGBT-Person wahrgenommen zu werden und es sei nahezu unmöglich, offen als LGBT-Person zu leben (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung vom 9.2.2017 unter Bezugnahme auf einen Bericht der Nichtregierungsorganisationen International Women’s Human Rights Clinic at the City University of New York School of Law, IWHR; Global Women’s Rights, MADRE). Weiter heißt es darin, dass staatliche Sicherheitskräfte nicht bloß Fälle von gegen LGBT-Personen gerichteter Diskriminierung und Gewalt nicht untersuchten, sie würden sich sogar zurückhalten und zulassen, dass Hassverbrechen passierten (vgl. ebda.). Darüber hinaus würden Sicherheitskräfte und staatliche Bedienstete selbst zu gegen LGBT-Personen gerichteter Diskriminierung und Gewalt greifen, wobei sie den Opfern zugleich den Zugang zur Justiz verweigerten, was Diskriminierung und Gewalttaten noch weiter fördere (vgl. ebda.). Demgegenüber erwähne der irakische Regierungsbericht an den UNO-Menschenrechtsausschuss von 2013 die auf einer realen oder als solche wahrgenommenen sexuellen Orientierung oder Gender-Identität basierende allgegenwärtige Gewalt und Diskriminierung überhaupt nicht (vgl. ebda.). Obwohl es kein Gesetz gebe, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen kriminalisiere, bemerke der Regierungsbericht offen, dass homosexuelle Handlungen als illegal eingestuft würden und LGBT-AktivistInnen das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlung abgesprochen werde (vgl. ebda.). Laut Interviews mit irakischen Menschenrechtsverteidigern würden die Grundrechte und Freiheiten von LGBT-Personen im Irak regelmäßig straflos verletzt (vgl. ebda.). Personen, die aufgrund ihrer realen oder wahrgenommenen sexuellen Orientierung oder Gender-Identität Opfer von Diskriminierung würden, beziehungsweise verletzt oder gefoltert würden, könnten sich nicht an staatliche Institutionen, darunter Polizei, Sicherheitskräfte oder medizinische Einrichtungen, wenden, um Schutz und Unterstützung zu erhalten (vgl. ebda.). Der Bericht führt in einer Fußnote hierzu genauer aus, dass Ärzte an Krankenhäusern im Irak regelmäßig LGBT-Personen die Gesundheitsversorgung verweigerten oder das Doppelte oder Dreifache der Behandlungskosten verlangen würden (vgl. ebda.).

Einem im Jahr 2014 veröffentlichtem Bericht von Outright Action International, einer in den USA ansässigen Nichtregierungsorganisation, die zusammen mit lokalen Partnerorganisationen und Aktivisten Diskriminierung und Misshandlung von LGBTI-Personen in der Welt dokumentiert und sich für LGBTI-Rechte einsetzt, lässt sich entnehmen, dass die meisten Bedrohungen bezüglich LGBT-Personen von deren Familien, der Gesellschaft und den Stämmen ausgehen würden (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung vom 9.2.2017 unter Verweis auf den im Jahre 2014 veröffentlichten Bericht von Outright Action International zu den Verfolgungsakteuren von LGBT-Personen in der Republik Kurdistan-Irak). Danach hätten LGBT-Personen, die im Zuge des Berichts interviewt worden seien, angegeben, dass enge Familienmitglieder für die oft tödlichen Bedrohungen verantwortlich seien, wobei mehrere Befragte zudem ausgeführt hätten, dass Familienmitglieder der Meinung seien, sie müssten agieren, um die Ehre der Familie und Stammeswerte zu verteidigen (vgl. ebda.).

Die Nichtregierungsorganisation IraQueer interviewte für einen Bericht (Fighting for the Right to Life, The State of LGBT+ Human Rights in Iraq, Juni 2018) 257 LGBT-Personen, elf Regierungsbedienstete, 16 religiöse Führer und 201 Mitglieder der irakischen Gesellschaft, die meisten davon im Irak, und wertete mehrere Veröffentlichungen aus und stellte fest, dass 22 v.H. der Verletzungshandlungen, die zwischen 2015 und 2018 gegen LGBT-Personen begangen worden seien, von der Regierung ausgegangen seien. Unter diesen Verletzungshandlungen wurden Gewalt, Bedrohungen, Tötungen, Vergewaltigungen, Missbrauch, sexuelle Missbrauch und körperliche Erniedrigung gelistet (a.a.O., S. 12-14, 21). Dort heißt es weiter, dass die staatlichen Sicherheitsbehörden, in Fällen von Diskriminierung und Gewalt gegen LGBT-Personen nicht nur nicht ermittelten, sondern im vollen Bewusstsein der Folgen dabei zusehen würden, wie mörderischer Hass geschehe. Die Versagung des Zugangs zum staatlichen Justizsystem für diese Opfer von Menschenrechtsverletzungen ermutige weitere Diskriminierung und Gewaltakte, einschließlich solcher, die von Ärzten und anderen begangen würde, die versuchten, aus der Vulnerabilität von LGBT-Personen Profit zu schlagen. Durch die mangelnde Bereitschaft, selbst die offensichtlichsten Täter zu ermitteln oder zu verfolgen, ermutigten die Sicherheitsbehörden gegen LGBT-Personen gerichtete Menschenrechtsverletzungen einschließlich Folter und Tötungen (a.a.O., S. 8). Im selben Zeitraum hätten 31 v.H. der Verletzungshandlungen von bewaffneten Gruppen bzw. Milizen gestammt; 27 v.H. von Familienangehörigen und 10 v.H. von „anderen“ (a.a.O., S. 12-14, 21).

Insbesondere lässt sich den zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnisquellen Folgendes zu bestimmten Verfolgungsschlägen entnehmen:

In einem gemeinsamen Bericht von OutRight International (damals noch International Gay and Lesbian Human Rights Commission, IGLHRC), der Frauenrechtsbewegung MADRE und der Organization of Women’s Freedom in Iraq (IGLHRC/MADRE/OWFI, When Coming Out is a Death Sentence, Persecution of LGBT Iraqis, November 2014, S. 8) heißt es, dass in einem Fall ein homosexueller Mann, dessen Vater ihn in der Obhut der Polizei gelassen habe, von der Polizei vergewaltigt worden sei. Irakische LGBT sähen sich auch organisierter, tödlicher Verfolgung angestiftet, inspiriert oder toleriert von staatlichen Akteuren und Milizen ausgesetzt. Am 15. Mai 2014 hätten die Zornesbrigaden (Saraya Al-Ghadhab, der militärische Arm der Liga der Rechtschaffenen (Asa’ib ahl Al-Haqq) in Bagdad die Namen und Wohnorte von 24 „gesuchten“ Personen veröffentlicht, von denen 23 wegen des „Verbrechens“, homosexuelle Handlungen begangen zu haben, und ein Mann, wegen des „Verbrechens“, lange Haare zu tragen, beschuldigt worden seien.

Der Bericht des US-amerikanischen Außenministeriums zur Menschenrechtslage im Jahr 2016 (United States Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2016 – Iraq, 3.3.2017) ist zu entnehmen, dass die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen für den Irak (UNAMI) im Juli [2016] berichtet habe, dass ein junger Mann wegen seiner sexuellen Orientierung in Bagdad entführt und getötet worden sei. Quellen berichteten, dass die Entführer bekannte Mitglieder bewaffneter Gruppen gewesen seien. Manche bewaffnete Gruppen hätten außerdem eine Kampagne gegen Homosexuelle in Bagdad gestartet. UNAMI habe berichtet, dass zumindest drei weitere Personen seit Juli [2016] verschwunden seien. Im Menschenrechtsbericht 2017 (United States Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2017 – Iraq, 20.4.2018) heißt es, lokale Kontakte hätten berichtet, dass Milizen LGBTI-Todeslisten verfassten und Männer, die als schwul, bisexuell oder trangsgender wahrgenommen würden, hinrichteten. Der Schauspieler und Model Kara Nushi sei in Bagdad wegen seiner wahrgenommenen Homosexualität gefoltert und erstochen aufgefunden worden.

In dem Bericht von IraQueer von Juni 2018 heißt es zudem, dass Gruppen wie die schiitische Miliz Asa’ib ahl Al-Haqq „Mordkampagnen“ organisierten. Die letzte Kampagne habe im Januar 2017 stattgefunden, als mehrere hundert Namen in eine Liste aufgenommen worden seien, mit der die Gelisteten aufgefordert worden seien, sich entweder zu verändern oder zu sterben. IraQueer sei in direktem Kontakt zu einigen der dort gelisteten Personen gewesen. Viele hätten andere schwule Personen gekannt, die auf der Liste gestanden hätten und umgebracht worden seien, weil sie LGBT gewesen seien (IraQueer, Fighting for the Right to Live, The State of LGBT+ Human Rights in Iraq, Juni 2018, S. 9). IraQueer schätze die Zahl der getöteten LGBTI-Personen unter Berufung auf eine eigene Datenbank für das Jahr 2017 auf mehr als 220; nach den Erkenntnissen von Human Rights Watch seien auch 2012 mehr als 200 Personen umgebracht worden (a.a.O., S. 7).

Zu früheren Vorfällen heißt es in einem weiteren Bericht von IraQueer und Outright Action International, der von dem International Covenant von Civil and Political Rights (ICCPR) der Vereinten Nationen veröffentlicht wurde (ICCPR, Dying to Be Free, LGBT Human Rights Violations in Iraq, November 2015, S. 4), dass im Jahr 2012, vor allem in Bagdad und Babil, organisierte Tötungen von Personen durch die Milizen Al-Mahdi-Armee und Asa’ib ahl Al-Haqq stattgefunden hätten, die als „Emos“ wahrgenommen worden seien. Dabei seien bis zu 56 Menschen getötet worden. Beispielhaft werden u.a. ein Fall aus dem Jahr 2012 aufgezählt, in dem ein Mann, der mit Männern Geschlechtsverkehr gehabt habe, in einem Krankenhaus mit Stahlrohren zu Tode geprügelt worden sei, und aus dem Jahr 2013, in dem einem Mann von Mitgliedern von Asa’ib ahl Al-Haqq der Anus zugeleimt worden sei. Dies sei eine gegenüber Schwulen häufig verwendete Folterpraxis (a.a.O., S. 5 f.). 2009 seien in Sadr-City in Bagdad mehrere Dutzend schwule Männer von Milizanhängern und ihren Familien umgebracht worden, nachdem es mutmaßlich einen Aufruf des schiitischen Klerikers Al-Sadr gegeben habe (a.a.O., S. 3 f.).

Laut dem Menschrechtsbericht von UNAMI für das erste Halbjahr 2017 (UNAMI/UNOCHA, Report on Human Rights in Iraq, January to June 2017, Dezember 2017, S. 17) sei zudem am 13. Januar [2017] die Leiche eines Mannes auf einem Müllplatz im Stadtviertel Binouk in Bagdad gefunden worden. Die Leiche habe Stichwunden am Bauch und im Genitalbereich aufgewiesen. Am 28. Januar sei die Leiche eines 22-jährigen Mannes, ebenfalls mit Stichwunden, im Distrikt Suq Al-Shiyukh, 30 Kilometer südöstlich von Nasiriya gefunden worden. Nach den Informationen von UNAMI/UNOCHA, sei auch diese Person wegen ihrer wahrgenommenen sexuellen Orientierung getötet worden. Am 28. Februar sei im Distrikt Al-Zubair in Basra einem Stammesführer von Unbekannten mehrfach in den Kopf geschossen worden. Dieser Tötung sei die Veröffentlichung eines Videos in sozialen Medien vorausgegangen, das angeblich gezeigt habe, wie das Opfer mit einem anderen Mann Geschlechtsverkehr gehabt habe. Der Mann, der in dem Video mit dem Opfer zu sehen gewesen sei, sei aus dem Distrikt Al-Zubair geflohen, nachdem sein Haus von Unbekannten niedergebrannt worden sei. Am 19. März seien zwei junge Männer von Unbekannten im Bereich Khamsamil in Basra getötet worden, angeblich wegen ihrer wahrgenommenen sexuellen Orientierung. Beide, ungefähr 17 Jahre alt, seien mit Schusswunden am Kopf gefunden worden. Bei ihren Leichen sei angeblich ein Brief gefunden worden, der angekündigt habe, dass die Täter alle Männer, die lange Haare hätten und sich wie Frauen anzögen, töteten. Am 10. April sei die Leiche eines 22-jährigen Mannes in Maysan im Viertel Al-Qadissiya in Amara gefunden worden. Die Leiche habe mehrfache Stichverletzungen aufgewiesen und sei, auch an den Geschlechtsteilen, verstümmelt gewesen. Die Verletzungen und andere Informationen deuteten darauf, dass der Mann wegen seiner sexuellen Orientierung getötet worden sei.

Auch wenn aus diesen Quellen für die jüngere Vergangenheit nicht mehr als eine im Durchschnitt zweistelligen Zahl berichteter Referenzfälle von Tötungen und Misshandlungen homosexueller Männer im Jahr hervorgeht und dies mit Blick auf die erhebliche Größe der Bezugsgruppe gering erscheint, führt eine wertende Gesamtbetrachtung zu der Annahme, dass Verfolgungshandlungen gegen homosexuelle Männer im Irak sich so wiederholen und um sich greifen, dass für jeden dieser Männer die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit begründet ist, wenn sie ihre Homosexualität nicht vollständig verbergen. Hierbei ist zunächst die Zahl der berichteten Verfolgungsschläge zu kontextualisieren.

Es ist zunächst davon auszugehen, dass der überwiegende Teil von Misshandlungen und Tötungen Homosexueller keine Aufmerksamkeit findet und die gegen Homosexuelle gerichtete Gewalt aus strukturellen Gründen nicht vollständig erfasst werden kann. Daher besteht Grund zu der Annahme, dass die Zahl der berichteten Referenzfälle alleine die Gefahr für einen homosexuellen Mann im Irak nicht ausreichend widerspiegelt. Denn ungeachtet der allgemeinen Schwierigkeiten bei der flächendeckenden Erfassung der Gewaltverbrechen im Irak, führt die Stigmatisierung der Homosexualität dazu, dass die homosexuellen Gewaltopfer und deren Umfeld – bei „Ehrverbrechen“ in der Familie auch die Täter – im Allgemeinen kein Interesse haben, dass entsprechende Vorfälle oder ihr Bezug zur homosexuellen Orientierung des Opfers bekannt werden (hierauf weist allgemein hin UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz Nr. 9: Anträge auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund der sexuellen Orientierung und/oder der geschlechtlichen Identität im Zusammenhang mit Artikel 1 [A] 2 des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 23.10.2012, abrufbar unter: https://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=56caba174, Ziff. 66; vgl. zum Irak Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Irak, Sexuelle Minderheiten in Irakisch Kurdistan, 13.3.2018, S. 2 ff.). Die Nichtbeachtung von Übergriffen auf Homosexuelle durch die Sicherheitsbehörden deutet ebenfalls darauf hin, dass auch staatlicherseits kein Interesse daran besteht, Gewalt gegen sexuelle Minderheiten als solche überhaupt zu erfassen.

Weiter ist in Betracht zu ziehen, dass Homosexuelle, anders als häufig geografisch konzentrierte ethnische oder religiöse Minderheiten, über keine staatlichen oder privaten Rückzugsräume verfügen und sich nach der Erkenntnislage mangelnder Schutzbereitschaft, Feindseligkeit und Verfolgungshandlungen durch den ganz überwiegenden Teil der sie umgebenden Gesellschaft – von Staat, quasistaatlichen Organisationen, der Zivilgesellschaft und ihren Familien – ausgesetzt sehen. Dabei ist die Ausgrenzung Homosexueller kulturell verwurzelt und im Wesentlichen langjährig konstant (vgl. vgl. Rohde, Gays, Cross-Dressers, an Emos: Nonnormative Masculinities in Militarized Iraq, Journal of Middle East Women’s Studies, Vol. 12, No. 3, November 2016, S. 433); Verfolgungswellen treten regelmäßig auf.

Die Intensität der von den unterschiedlichen Akteuren ausgehenden Verfolgung wird von der Zahl der berichteten Referenzfällen auch deswegen nicht vollständig erfasst, weil nicht anzunehmen ist, dass diese Akteure bei den übrigen Homosexuellen bewusst von einer Verfolgung absehen würden, sondern diese alleine in Unkenntnis der homosexuellen Orientierung unterbleibt. Eine aktuelle Mitbetroffenheit derjenigen Homosexuellen, die selbst (noch) keine Verfolgungshandlungen erlitten haben, ist in größerem Maße als bei anderen gruppengerichteten Verfolgungsmaßnahmen anzunehmen, da Homosexualität im Irak nach den Erkenntnissen der Kammer in aller Regel nur im Geheimen gelebt wird und es gleichwohl mindestens zu den berichteten Verfolgungsschlägen gekommen ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein erkannt homosexueller Mann Opfer einer Verfolgungsmaßnahme wird, ist damit deutlich höher einzuschätzen als eine rein mathematische Gegenüberstellung der berichteten Vorfälle mit der Zahl der homosexuellen Männer im Irak. Ob die Homosexualität bekannt wird, ist dabei vielfach vom Zufall abhängig und kann bei jedem homosexuellen Mann, der seine Homosexualität nicht vollständig verbirgt, angesichts der Vielzahl potentieller Verfolgungsakteure jederzeit geschehen und eine Verfolgung aktualisieren.

Im Übrigen sieht die Kammer es als geboten an, bei der Beurteilung, ob sich aus der – auf den ersten Blick – geringen Zahl an bekannten Verfolgungsschlägen eine aktuelle Betroffenheit jedes Gruppenzugehörigen ergibt, entscheidend mit zu berücksichtigen, dass es sich bei den berichteten Vorfällen und gravierende Rechtsgutsverletzungen – zum überwiegenden Teil Tötungen – handelt. Diese herausragenden Verfolgungshandlungen stehen zudem vor dem Hintergrund einer nach der Erkenntnislage ohnehin vorhandenen allumfassenden, alltäglichen Diskriminierung.

cc. Diese Verfolgung trifft die Gruppenangehörigen auch gerade „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 AsylG aufgezählten Merkmale, weil es sich bei den homosexuellen Männern im Irak um eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG handelt. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine „bestimmte soziale Gruppe“, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter. Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich der homosexuellen Männer im Irak vor (vgl. VG Hamburg, Urt. v. 6.7.2018, 8 A 3624/17, n.v.; ebenso VG Berlin, Urt. v. 5.6.2018, 25 K 327.17 A, juris, Rn. 19; VG Ansbach, Urt. v. 31.1.2018, AN 10 K 17.31735, juris, Rn. 21; VG München, Urt. v. 24.4.2014, M 4 K 13.30114, juris, Rn. 39; VG Sigmaringen, Urt. v. 26.4.2010, A 1 K 1911/09, juris, S. 5 f.). Homosexuelle Männer im Irak teilen durch ihre sexuelle Orientierung ein Merkmal, das so bedeutsam für ihre Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden sollten, darauf zu verzichten. Wie bereits § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 2 AsylG zeigt, handelt es sich bei der sexuellen Orientierung um ein derart bedeutsames Merkmal (vgl. EuGH, Urt. v. 7.11.2013, C-199/12 u.a., juris, Rn. 46). Homosexuelle Männer im Irak besitzen zugleich eine eindeutig abgegrenzte Identität, da sie als andersartig wahrgenommen werden. Die Erkenntnismittel zeigen deutlich, dass Homosexualität im Irak nicht als normal betrachtet wird.

dd. Es existieren keine Schutzakteure im Sinne von § 3d Abs. 1 AsylG, die Schutz vor solchen Verfolgungsschlägen wegen Homosexualität bieten. Wie aus den bereits zitierten Erkenntnisquellen hervorgeht, sind die irakischen und kurdischen Sicherheitsbehörden gegenüber LGBT-Personen, also auch gegenüber Homosexuellen, schutzunwillig und schutzunfähig und treten, wenn überhaupt, als Verfolgungsakteure in Erscheinung.

b. Diese Gruppenverfolgung betrifft auch den Kläger. Die Kammer ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger (ausschließlich) homosexuell orientiert ist (aa.) und diese geschlechtliche Neigung im Falle einer Rückkehr nicht aus verfolgungsfernen Gründen vollständig verbergen würde (bb.). Ob der Kläger sich angesichts der von ihm vorgetragenen vorübergehenden Festnahme in B. im Jahr 2013 auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU berufen kann, kann daher dahinstehen.

aa. Es steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger homosexuell ist.

Auch in Asylstreitsachen müssen die Verwaltungsgerichte die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit – des vom Kläger behaupteten Verfolgungsschicksals erlangen (vgl. grundsätzlich BVerwG, Urt. v. 16.4.1985, 9 C 109/84, juris Rn. 16), wobei der allgemeine Grundsatz gilt, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.4.1985, a.a.O.). Darüber hinaus ist die besondere Beweisnot des mit der materiellen Beweislast hinsichtlich der Verfolgungsgründe beschwerten Asylsuchenden zu berücksichtigen. Dazu kann seinen Erklärungen größere Bedeutung beigemessen werden, als sie sonstigen Parteibekundungen zukommt; ihr Beweiswert soll im Rahmen des Möglichen wohlwollend beurteilt werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.4.1985, a.a.O.). Bei der somit genügenden Glaubhaftmachung ist es mit Blick auf die in § 25 AsylG geregelten, auf Art. 4 Richtlinie 2011/95/EU zurückgehenden Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten des Ausländers und seine daran anknüpfende prozessuale Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 VwGO allerdings seine Sache, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung eine Verfolgung droht (vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 19.10.2001, 1 B 24/01, juris, Rn. 5; Urt. v. 24.3.1987, 9 C 321/85, juris, Rn. 9). Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Ausländer aber nur geglaubt werden, wenn die Widersprüche und Ungereimtheiten überzeugend aufgelöst werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.2.1988, 9 C 273/86, juris, Rn. 11). Diese Maßstäbe finden grundsätzlich auch dann Anwendung, wenn die sexuelle Orientierung streitig ist, wenngleich es sich dabei nicht um Umstände handelt, die nur im Herkunftsland stattfinden. Denn diese Umstände sind in der Person des Klägers selbst begründet und einer Überprüfung daher – anders als durch Würdigung des klägerischen Vortrags – nur schwer zugänglich. Dabei sind Tests zum Nachweis der Homosexualität aus Rücksicht auf das Persönlichkeitsrecht des Asylbewerbers unzulässig (vgl. EuGH, Urt. v. 2.12.2014, C 148/13, juris, Rn. 72; Urt. v. 25.1.2018, C 473/16, juris, Rn. 30 ff.). Auch darf wegen des Persönlichkeitsrechts des Asylbewerbers nicht verlangt werden, dass dieser homosexuelle Handlungen vornimmt oder Videoaufnahmen solcher Handlungen vorlegt, wobei derartige Beweise – sofern sie angeboten werden – auch nicht verwertet werden dürfen (vgl. EuGH, a.a.O.).

Nach diesem Maßstab konnte sich die Kammer davon überzeugen, dass der Kläger homosexuell ist. Diese Überzeugung beruht tragend auf der persönlichen Anhörung des Klägers und darüber hinaus auf seinem Auftreten in der mündlichen Verhandlung. Der Kläger schilderte der Kammer in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar und detailreich seine homosexuelle Identitätsfindung und die Entwicklung seiner sexuellen Beziehungen und Partnerschaften. In diesem Zusammenhang hat der Kläger zunächst überzeugend ausgeführt, dass er seine Homosexualität während seiner Pubertät entdeckt habe. Auch konnte er seine erste sexuelle Beziehung zu einem Mann unter Angabe von Komplikationen und seiner Gefühlslage glaubhaft und anschaulich schildern. Des Weiteren hat der Kläger für das Gericht nachvollziehbar dargelegt, auf welche Art und Weise und unter welchen – erschwerten – Bedingungen homosexuelle Männer im Irak untereinander kommunizierten und Beziehungen miteinander eingingen und wie das allgegenwärtige Entdeckungsrisiko seine Beziehungen belastet habe. Dabei hat er auch glaubhaft von erlebten Übergriffen durch Sicherheitsbehörden und Mehrheitsbevölkerung berichtet. Darüber hinaus hat der Kläger ebenso anschaulich geschildert, wie er nach seiner Einreise in das Hoheitsgebiet der Beklagten Anschluss in einem homosexuellen Umfeld gefunden habe und hat dabei die besondere Bedeutung des D.-Centrums, einer Beratungsstelle für homosexuelle Männer und Frauen, betont. Bei alledem hat der Kläger greifbar die Schwierigkeiten umrissen, seine Homosexualität zu leben, ohne seine Familie offen damit zu konfrontieren.

Gestützt wurden die Angaben des Klägers darüber hinaus von seinem Auftreten und Verhalten in der mündlichen Verhandlung. Sein Erscheinungsbild und Habitus wichen deutlich von der heterosexuell-männlichen Üblichkeit ab und entsprachen sogar dem stereotypen Bild eines betont schwulen Mannes. Der Kläger konnte der Kammer – u.a. durch die Vorlage weiterer Lichtbilder aus seinem Leben – zugleich den Eindruck vermitteln, dass er einen solchen Auftritt nicht allein für den Verhandlungstag gewählt hat, sondern sich auch allgemein gerne für besonders aufreizende Kleidung, sehr prominente Schmuck-Accessoires und affektiertes Verhalten entscheidet.

Die homosexuelle Orientierung des Klägers wird weiter durch die Angaben des Zeugen bestätigt. Auch dieser hat die besondere Bedeutung des D.-Centrums herausgehoben. Unter Berücksichtigung der weiteren Aussage des Zeugen und des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung sieht das Gericht keine Anhaltspunkte, an den Angaben des Zeugen zu zweifeln.

Der Überzeugung der Kammer steht schließlich nicht entgegen, dass der Kläger seine Homosexualität erstmals bei Erhebung der vorliegenden Klage, nicht aber bereits im Rahmen der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt erwähnt hat. Die Erklärung des Klägers, dass er sich zunächst nicht getraut habe, in der Anhörung von seiner Homosexualität zu erzählen, kann die Kammer in diesem Fall nachvollziehen. Es ist plausibel, dass der Kläger es vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen im Irak zunächst gescheut hat, seine Homosexualität preiszugeben und dadurch die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass sein Umfeld davon erführe, und stattdessen darauf hoffte, dass sein sonstiges Vorbringen zur Gewährung internationalen Schutzes führen würde.

bb. Die Kammer ist zudem zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger seine sexuelle Orientierung bei einer – hypothetischen – Rückkehr in sein Herkunftsland jedenfalls nicht aus verfolgungsfernen Gründen vollständig verbergen würde.

Die Annahme einer alle „offen“ homosexuellen Männer betreffenden Gruppenverfolgung befreit die Kammer nicht davon, sich die Überzeugungsgewissheit darüber zu verschaffen, dass der Kläger sich im Falle einer Rückkehr so verhalten würde, dass seine homosexuelle Orientierung für Dritte sicht- oder entdeckbar ist. Würde er hingegen seine Homosexualität vollständig verbergen, könnte nicht angenommen werden, dass er sich in einer Lage befände, die nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit der Lage derjenigen homosexuellen Männer entspricht, die Opfer von Verfolgungshandlungen geworden sind. Erforderlich ist daher eine im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vorzunehmende Prognose, wie der Kläger unter Berücksichtigung des vorherigen Lebens im Herkunftsland und des Lebens in der Bundesrepublik Deutschland seine Homosexualität in seinem Herkunftsland leben würde (entsprechend, wenngleich im Rahmen einer anlassgeprägten Einzelverfolgung, VGH Mannheim, Urt. v. 7.3.2013, A 9 S 1873/12, juris, Rn. 56; siehe auch VGH München, Beschl. v. 9.1.2017, 13a ZB 16.30516, juris, Rn. 7).

Bei dieser Verhaltensprognose ist zunächst von dem Grundsatz auszugehen, dass von einer homosexuellen Person nicht generell erwartet werden kann, dass diese ihre sexuelle Ausrichtung geheim hält (vgl. EuGH, Urt. v. 7.11.2013, C-199/12 u.a., juris, Rn. 65 ff.). Außerdem kann nicht erwartet werden, dass eine homosexuelle Person zur Vermeidung einer Verfolgungsgefahr beim Ausleben ihrer sexuellen Ausrichtung größere Zurückhaltung übt als eine heterosexuelle Person (vgl. EuGH, Urt. v. 7.11.2013, C-199/12 u.a., juris, Rn. 74 f.). Knüpft eine Verfolgung – wie hier – nicht erst an bestimmte homosexuelle Verhaltensweisen, sondern schlechthin an die nach außen erkennbare Homosexualität an, beschränkt sich die Prüfung also darauf, ob der Kläger seine sexuelle Orientierung auch beim Fehlen einer Verfolgung – aus verfolgungsfernen Gründen – vollständig verbergen würde.

Dies ist bei dem Kläger nicht anzunehmen. Der Kläger hat – im Rahmen der ihm möglichen Geheimhaltung – bereits vor seiner Ausreise aus dem Irak trotz Verfolgungsdrucks Sexualkontakte zu und Beziehungen mit Männern gehabt und versucht, seinem Geschlechtsverständnis entsprechend – im Vergleich zu den lokalen Sitten – lange Haare und modischere Kleidung zu tragen. Es gibt keine Grundlage für die Prognose, dass er im Falle einer Rückkehr abweichend davon gänzlich auf ein Sexualleben verzichten und sich äußerlich der Mehrheit der irakischen Männer anpassen würde, zumal er seit seiner Einreise in das Hoheitsgebiet der Beklagten seine sexuelle Orientierung drei Jahre lang nicht hat im Geheimen leben müssen.

c. Eine inländische Fluchtalternative gemäß § 3e Abs. 1 AsylG besteht zur Überzeugung der Kammer nicht. Die festgestellte Gruppenverfolgung besteht landesweit. Insbesondere lässt sich den Erkenntnismitteln nicht entnehmen, dass die Lage Homosexueller in der Region Kurdistan-Irak entscheidend anders wäre. Ihm droht im gesamten Irak in gleichem Maß Verfolgung (vgl. VG Hamburg, Urt. v. 12.4.2017, 13 A 6784/15, n.v., UA S. 10 f.; VG Berlin, Urt. v. 5.6.2018, 25 K 327.17 A, juris, Rn. 25; VG Ansbach, Urt. v. 31.1.2018, AN 10 K 17.31735, juris Rn. 30; VG München, Urt. v. 24.4.2014, M 4 K 13.30114, juris, Rn. 39).

Danach erweist sich auch die im angefochtenen Bescheid unter Ziffer 4 verfügte Abschiebungsandrohung als rechtswidrig, da die gesetzlichen Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht vorliegen, und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Klarstellend weist die Kammer darauf hin, dass die unter Ziffer 5 verfügte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots mangels Zuständigkeit der Beklagten (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG) ebenfalls rechtswidrig ist.

Einer Entscheidung über die Hilfsanträge bedarf es nicht, da die Klage bereits mit dem Hauptantrag Erfolg hat.

III.

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1 VwGO; die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.