AG Friedberg (Hessen), Urteil vom 30.10.2015 - 2 C 578/15 (12)
Fundstelle
openJur 2019, 37071
  • Rkr:

Bei einem seitlichen Zusammenstoß zweier Fahrzeuge auf der mittleren Fahrspur einer dreispurigen Autobahn nach unstreitigem Wechsel des Beklagten von der rechten auf die mittlere Spur ist der gegen diesen sprechende Anscheinsbeweis nur dann erschüttert, wenn ein von ihm behaupteter vorhergehender Spurwechsel des Klägers von der linken auf die mittlere Spur nachgewiesen ist.

Tenor

Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an den Kläger 1321,58 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank ab dem 6.3.2015 sowie weitere vorgerichtliche, nicht anrechenbare Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 179,27 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 6.3.2015 zu zahlen.

Die Beklagten haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger begehrt vollen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall auf der Autobahn A5 am 12. Februar 2015.

Am genannten Tag befuhr der Kläger gegen 7:00 Uhr die A 5 mit seinem Pkw Marke Audi, amtliches Kennzeichen -- in Richtung Frankfurt am Main in der Gemarkung Butzbach. Die Erstbeklagte wollte zur gleichen Zeit mit ihrem Pkw ebenfalls Typ Audi, amtliches Kennzeichen -- zusammen mit anderen Fahrzeugen auf der Zufahrt der Anschlussstelle Butzbach auf die A5 auffahren. Direkt vor ihr fuhr die Zeugin -- mit ihrem Pkw. Nachdem diese ebenso wie die Erstbeklagte sich auf der rechten Fahrspur hinter einem Lkw eingefädelt hatte, beabsichtigte die Erstbeklagte im Gegensatz zur Zeugin -- den vor ihnen fahrenden Lkw zu überholen. Sie setzte zum Fahrspurwechsel an. In der Folgezeit kam es zur Kollision mit dem klägerischen Fahrzeug dergestalt, dass dieses in Höhe der Beifahrertür beschädigt wurde, während die Schäden am Beklagtenfahrzeug sich vorne am linken Kotflügel befinden. Die Einzelheiten der Kollision, insbesondere die Frage, ob der Kläger seinerseits von der linken auf die mittlere Spur ebenfalls einen Fahrspurwechsel vorgenommen hatte, sind zwischen den Parteien umstritten.

Der Kläger hat sein Fahrzeug begutachten lassen, es wurde ein wirtschaftlicher Totalschaden bei einem Wiederbeschaffungswert abzüglich Restwert in Höhe von 2000 € festgestellt. Wegen der weiteren Schadensersatzpositionen wird auf die klägerische Auflistung auf Seite 4 der Klageschrift (Bl. 4 d.A.) verwiesen. Auf die klägerseits geltend gemachte Gesamtsumme in Höhe von 2643,17 € hat die Zweitbeklagte, bei der das Fahrzeug der Erstbeklagten haftpflichtversichert war, die Hälfte reguliert.

Der Unfall wurde polizeilich aufgenommen. Auf den Inhalt der beigezogenen Unfallakten der Polizeiautobahnstation Mittelhessen Az. VU/0165754/2015 wird Bezug genommen.

Der Kläger behauptet, er sei bei dichtem morgendlichen Berufsverkehr durchgehend seit dem Gambacher Kreuz auf der mittleren Fahrspur der dreispurigen A 5 gefahren mit einer ungefähren Geschwindigkeit von ca. 110 km/h, als die Erstbeklagte ihren Spurwechsel so plötzlich einleitete, dass er nicht mehr ausweichen und auch nicht mehr hätte bremsen können. Vermutlich habe die Erstbeklagte den im toten Winkel befindlichen Pkw des Klägers übersehen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an ihn 1321,58 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszins der Europäischen Zentralbank ab dem 6.3.2015 sowie weitere nicht anrechenbare Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 179,27 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszins der Europäischen Zentralbank seit dem 6.3.2015 zu zahlen.

Die Beklagten beantragen,

die Klage abzuweisen.

Sie behaupten, der Kläger habe seinerseits vor der Kollision einen Fahrspurwechsel von der linken auf die mittlere Fahrspur eingeleitet bzw. vollzogen, ohne den bereits nach abgeschlossenen Spurwechsel von der rechten auf die mittlere Spur sich dort befindenden Pkw der Erstbeklagten zu beachten. Diese habe nach Auffahren auf die rechte Spur und nach Rückschau und Anzeige des Fahrtrichtungsanzeigers zum Überholen angesetzt und den Spurwechsel auf die mittlere Fahrspur bereits vollzogen, als es zur Kollision gekommen sei. Die mittlere Fahrspur sei vor dem Spurwechsel frei gewesen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin --. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der Sitzungsniederschrift vom 2.10.2015 (Bl. 79-84 d. A.) verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird zur Ergänzung des Tatbestands auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Dem Kläger steht voller Schadensersatz aus dem Verkehrsunfallgeschehen vom 12.2.2015 zu (§§ 7, 17,18 StVG, 115 VVG, 823 ff. BGB).

Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme und unter Berücksichtigung des gesamten Parteivorbringens sowie aller feststehender bzw. erwiesener Umstände hat die Beklagtenseite den gegen sie sprechenden Anscheinsbeweis nicht erschüttern können.

Wegen der hohen Sorgfaltsanforderungen des § 7 Abs. 5 StVO ist grundsätzlich von einer vollen Haftung des Spurwechslers auszugehen und es spricht ein Anscheinsbeweis für die Missachtung der Sorgfaltspflichten, die für den Spurwechsler gelten, wenn die Kollision in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Spurwechsel sich ereignet hat.

Dass die Erstbeklagte von der rechten auf die mittlere Spur wechseln wollte oder gewechselt hat steht außer Streit. Ebenfalls außer Streit steht, dass sich die Kollision auf der mittleren der drei Fahrspuren der Autobahn A5 ereignet hat.

Weder die Erstbeklagte noch die Zeugin -- haben vor der Kollision den Audi des Klägers gesehen. Dementsprechend können sie keine Angaben dazu machen, dass der Audi, wie von Beklagtenseite behauptet, ebenfalls einen Spurwechsel von der linken auf die mittlere Spur vollzogen hat. Soweit die Beklagtenseite versucht, aus den Aussagen der beteiligten Fahrerinnen Rückschlüsse dahingehend zu ziehen, dass sich bei der geschilderten Unfallversion zwangsläufig ein Spurwechsel des Klägers ergäbe, kann dem das Gericht nicht folgen. Wenn die Erstbeklagte angibt, vor dem Ausscheren das Fahrzeug des Klägers nicht gesehen zu haben, deutet das nicht zwingend auf einen Spurwechsel des Klägers hin, sondern ist genauso gut mit einer Unaufmerksamkeit oder einem Übersehen des klägerischen Fahrzeugs im sogenannten toten Winkel erklärbar. Auch die Zeugin -- hat die Kollision als solche nicht wahrgenommen. Ihren Angaben nach sieht sie im Rückspiegel die ausscherende Erstbeklagte, blickt anschließend nach vorne, wundert sich noch, warum das Fahrzeug der Erstbeklagte nicht an ihr vorbeizieht, hört dann akustisch die Kollision und sieht im Rückspiegel die "Teile fliegen". Allein der Umstand, dass die Zeugin sich noch gewundert haben mag, dass es zur Kollision kommen konnte, weil hinter ihr "alles frei" gewesen sei, lässt nicht den Schluss zu, dass der Kläger von der linken Spur nach rechts hinüber gezogen ist. Auch hier mag ein Übersehen des klägerischen Fahrzeugs auf der mittleren Spur vorliegen, zumindest ist es weder ausgeschlossen noch unwahrscheinlich, da die Zeugin sich auch zeitweise nach vorne zu dem vor ihr fahrenden Lkw orientiert hat. Ihrer polizeilichen Aussage in den Verkehrsunfallakten lässt sich ebenfalls lediglich eine Vermutung entnehmen auch hier schildert sie, dass sie den direkten Zusammenstoß nicht sehen konnte und zieht dann den Rückschluss, weil "aber mehrere Autos vor mir mich erfolgreich überholt hatten, dachte ich, der Unfall muss wohl durch einen Fahrspurwechsel von links nach Mitte verursacht worden sein". Dies stellt eine vermutete Erklärung für den Unfall durch die Zeugin dar, kann jedoch die eigene Wahrnehmung eines Fahrspurwechsels nicht ersetzen. Der gegen die Beklagten sprechende Anscheinsbeweis ist auch nicht deshalb erschüttert, weil sich durch das Ergebnis der Beweisaufnahme erwiesen hätte, dass die Erstbeklagte zum Zeitpunkt der Kollision ihren Spurwechsel bereits vollendet hatte. Die Kollision fand unstreitig nicht parallel zum auf der rechten Spur von der Zeugin -- gefahrenen Fahrzeug statt. Wenn die Zeugin -- angibt, sie "würde sagen", der Anstoß habe sich seitlich "hinter mir an meiner Heckseite" ereignet, lässt das bei verständiger Würdigung nicht den begründeten Schluss zu, die Erstbeklagte habe sich mit ihrem Pkw bereits (längere Zeit) in Geradeausfahrt auf der mittleren Spur befunden. Gleiches gilt für die geschätzte Zeitangabe zwischen dem Bemerken des Ausscherens der Erstbeklagten im Rückspiegel und dem Kollisionsgeräusch. Unabhängig davon, dass ungeklärt ist, wie schnell die Erstbeklagte ihr Fahrmanöver durchgeführt haben will, begegnet eine Schätzung auf 10 --15 Sekunden Bedenken. Aussagekräftiger ist die Angabe der Zeugin --, dass die Zeitspanne "drei Augenblicke" betragen habe. Auch dies legt nahe, dass sich der Unfall in unmittelbarem Zusammenhang sowohl zeitlich wie auch örtlich mit dem Ausscheren der Erstbeklagten ereignet hat und der Spurwechsel noch nicht vollzogen oder beendet war, als es zur Kollision kam.

Zusammengefasst ist es der Beklagtenseite nicht gelungen, den gegen sie sprechenden Anscheinsbeweis zu erschüttern; eine ernsthafte und naheliegende Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs ist weder ausreichend dargelegt, vor allem aber nicht bewiesen worden. Im Gegensatz zu der von Beklagtenseite zitierten Entscheidung des BGH (Az. VI ZR 177/10, Urteil vom 13.12.2011, zitiert nach Juris) geht es vorliegend nicht um das Problem der Entkräftung eines gegen den Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweises bei einem Spurwechsel des Vordermannes. Wie die Unfallspuren unstreitig zeigen, liegt kein Auffahrunfall vor, sondern eine seitliche Berührung der Fahrzeuge. Im Übrigen sieht auch der BGH in der zitierten Entscheidung die Beklagtenseite in der Beweispflicht, die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs anhand von feststehenden Umständen nachzuweisen.

Die der Höhe nach unstreitige restliche Schadensersatzforderung war ab Verzugseintritt in gesetzlicher Höhe zu verzinsen (§§ 286, 288 BGB).

Die ebenfalls unbestrittenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten folgen in Höhe einer 0,65er Geschäftsgebühr orientiert an einem Streitwert von bis zu 3000 € aus den Bestimmungen des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes und waren ebenfalls ab Verzugseintritt in gesetzlicher Höhe zu verzinsen.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 709 ZPO.

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