Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 25.07.2019 - 10 LA 155/19
Fundstelle
openJur 2019, 38872
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 2 A 466/18

Allein der Umstand, dass der Asylbewerber sich der Überstellung entziehen will und sich dazu in das Kirchenasyl begeben hat, reicht nicht für die Annahme, dass er flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ist, wenn das Kirschenasyl der Durchführung der Überstellung an den anderen Mitgliedstaat nicht entgegensteht.

Tenor

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig - Einzelrichter der 2. Kammer - vom 21. Juni 2019 wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag der Beklagten, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zuzulassen, hat keinen Erfolg. Denn der von ihr allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegt nicht vor.

Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfrage oder eine obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich und einer abstrakten Klärung zugänglich ist, im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf, nicht schon geklärt ist und (im Falle einer Rechtsfrage) nicht bereits anhand des Gesetzeswortlauts und der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung sowie auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann (BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 - 1 B 25.18 -, juris Rn. 5, zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; ferner: GK-AsylG, Stand: Juni 2019, § 78 AsylG Rn. 88 ff. m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Januar 2019, § 78 AsylG Rn. 21 ff. m.w.N).

Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG verlangt daher nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (u. a. Senatsbeschluss vom 13.09.2018 - 10 LA 349/18 -, juris Rn. 2 ff.):

1. dass eine bestimmte Tatsachen- oder Rechtsfrage konkret und eindeutig bezeichnet,

2. ferner erläutert wird, warum sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und

3. schließlich dargetan wird, aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren.

Ob eine als grundsätzlich klärungsbedürftig bezeichnete Frage entscheidungserheblich ist, ist anhand der Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts zu prüfen, soweit gegen diese keine begründeten Verfahrensrügen erhoben worden sind (ständige Rechtsprechung des Senats: zuletzt u. a. Senatsbeschluss vom 11.09.2018 - 10 LA 287/18 -; ebenso: Niedersächsisches OVG, 9. Senat, Beschluss vom 29.04.2015 - 9 LA 201/13 - m.w.N., und 4. Senat, Beschluss vom 29.10.2014 - 4 LA 110/14 - m.w.N.; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, Kommentar, 12. Aufl. 2018, § 78 AsylG Rn. 16; GK-AsylVfG, a.a.O., § 78 Rn. 153). Diese Tatsachenfeststellungen sind im Zulassungsverfahren bindend und unterliegen dort anders als in einem Berufungsverfahren keiner Richtigkeitskontrolle (Senatsbeschluss vom 11.09.2018 - 10 LA 287/18 -; Niedersächsisches OVG, 9. Senat, Beschluss vom 29.04.2015 - 9 LA 201/13 - m.w.N., und 4. Senat, Beschluss vom 29.10.2014 - 4 LA 110/14 - m.w.N.).

Die Darlegung der Entscheidungserheblichkeit und Klärungsbedürftigkeit der bezeichneten Frage im Berufungsverfahren (2.) setzt voraus, dass substantiiert dargetan wird, warum sie im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte. Erforderlich ist, dass in Auseinandersetzung mit den Argumenten des Verwaltungsgerichts dargetan wird, aus welchen Gründen dessen Auffassung im Berufungsverfahren nicht zu folgen sein wird. Es reicht deshalb nicht, wenn der Zulassungsantragsteller sich lediglich gegen die Würdigung seines Vorbringens durch das Verwaltungsgericht wendet und eine bloße Neubewertung verlangt (GK-AsylG, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 609 m.w.N, Hailbronner, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 28).

Die Beklagte hat zur Begründung dieses Zulassungsgrunds die folgende Frage aufgeworfen:

„Ob ein sich im Dublin-Verfahren befindlicher Asylbewerber, der sich in das Kirchenasyl begibt, als flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO anzusehen ist und sich die Überstellungsfrist damit auf 18 Monate verlängert?“

Diese Frage begründet keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, da sie, soweit sie nach dem vom Verwaltungsgericht festgestellten Sachverhalt entscheidungserheblich ist, bereits im Zulassungsverfahren ohne weiteres beantwortet werden kann.

Was unter “flüchtig“ im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, wonach die Überstellungsfrist auf 18 Monate verlängert werden kann, wenn die betreffende Person flüchtig ist, zu verstehen ist, ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der sich der Senat angeschlossen hat (Senatsbeschluss vom 11.04.2019 - 10 LA 62/19 -) bereits umfassend geklärt. Der Europäische Gerichtshof hat hierzu in seinem Urteil vom 19. März 2019 (- C-163/17 -, juris Rn. 99) wie folgt entschieden:

„Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass ein Antragsteller „flüchtig ist“ im Sinne dieser Bestimmung, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat. Der Antragsteller behält die Möglichkeit, nachzuweisen, dass er diesen Behörden seine Abwesenheit aus stichhaltigen Gründen nicht mitgeteilt hat, und nicht in der Absicht, sich den Behörden zu entziehen.“

Auf dieser Grundlage lässt sich die von der Beklagten aufgeworfene Frage ohne weiteres dahingehend beantworten, dass ein Asylbewerber, der sich in das Kirchenasyl begeben hat, nicht flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ist, wenn - wie im vorliegenden Fall - seine ladungsfähige Anschrift bekannt ist und das Kirchenasyl der Durchführung der Überstellung weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht entgegensteht, was hier das Verwaltungsgericht in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung (OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 23.03.2018 - 1 LA 7/18 -, juris 5. Leitsatz und Rn. 18; Bayerischer VGH, Beschluss vom 16.05.2018 - 20 ZB 18.50011 -, juris Rn. 2) angenommen hat und von der Beklagten auch nicht in Abrede gestellt worden ist. Denn der Europäische Gerichtshof hat, wie sich aus seinen Ausführungen - „wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat“ - eindeutig ergibt, festgestellt, dass nur derjenige flüchtig im Sinne der genannten Bestimmung ist, der die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat und dies zur Folge hat, dass die Überstellung nicht durchgeführt werden kann. Die Flucht muss also kausal für die Nichtdurchführbarkeit der Überstellung sein (ebenso für den Fall des “offenen Kirchenasyls“ Bayerischer VGH, Beschluss vom 16.05.2018 - 20 ZB 18.50011 -, juris Rn. 2 m.w.N.).

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem von der Beklagten angeführten Zitat aus dem genannten Urteil des Europäischen Gerichtshofs (juris Rn. 56): „Insoweit ergibt sich aus der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes „Flucht“, das in den meisten Sprachfassungen von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin-III-Verordnung verwendet wird und den Willen der betreffenden Person voraussetzt, jemandem zu entkommen oder sich etwas zu entziehen, nämlich im vorliegenden Kontext den zuständigen Behörden und somit der eigenen Überstellung, dass diese Bestimmung grundsätzlich nur anwendbar ist, wenn sich diese Person diesen Behörden gezielt entzieht.“ Denn daraus kann keineswegs der Schluss gezogen werden, dass es lediglich auf diese Absicht des Asylbewerbers ankommt oder - wie es die Beklagte formuliert - entscheidend lediglich der Versuch des Asylbewerbers ist, sich zu entziehen, und es unerheblich ist, „ob dieses Entziehen erfolgreich ist“, ob also die Kausalität seines Verhaltens für die Nichtdurchführbarkeit der Überstellung gegeben ist. Denn in den folgenden Absätzen (juris Rn. 57 ff.) hat der Europäische Gerichtshof klargestellt, dass maßgeblich ist die „Situation, in der die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil die betreffende Person die ihr zugewiesene Wohnung verlassen hat“. Weiter hat der Europäische Gerichtshof festgestellt (juris Rn. 62): „Um das effektive Funktionieren des Dublin-Systems und die Verwirklichung seiner Ziele zu gewährleisten, ist daher davon auszugehen, dass in dem Fall, in dem die Überstellung der betreffenden Person nicht durchgeführt werden kann, weil sie die ihr zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über ihre Abwesenheit zu informieren, diese Behörden unter der Voraussetzung, dass die Person ordnungsgemäß über die ihr insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, annehmen dürfen, dass sie beabsichtigte, sich ihnen zu entziehen, um ihre Überstellung zu vereiteln.“ Eine Erleichterung für die Behörde hat der Europäische Gerichtshof daher allein im Hinblick auf den Nachweis der Fluchtabsicht des Asylbewerbers angenommen. Die Kausalität der Flucht für die Nichtdurchführbarkeit der Überstellung muss aber in jedem Fall bestehen.

Es würde auch dem Sinn und Zweck der Dublin-Regelungen erheblich widersprechen, wenn die Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-Verordnung bereits dann eintreten würde, wenn ein Mitgliedstaat auf die Durchführung der Überstellung nur deshalb verzichtet, weil ein Asylbewerber seine Wohnung mit einer Fluchtabsicht verlassen hat, die Vollziehung der Überstellung aber mangels Vollstreckungshindernissen nach wie vor möglich ist. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann daher allein der Umstand, dass der Asylbewerber sich mit der Absicht, sich der Durchführung der Überstellung zu entziehen, in das Kirchenasyl begeben hat, nicht ausreichen für die Annahme, dass er flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ist.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Die Kostenentscheidungen beruhen auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).