LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.02.2017 - L 11 KA 62/16 B ER
Fundstelle
openJur 2019, 23871
  • Rkr:
Verfahrensgang
Tenor

Auf die Beschwerde des Beigeladenen zu 7) wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 11.07.2016 abgeändert. Der Antrag auf sofortige Vollziehung des Beschlusses des Antragsgegners vom 20.05.2015 wird abgelehnt. Der Antragsteller trägt die Kosten des Antrags- und Beschwerdeverfahrens.

Gründe

Die statthafte und im Übrigen zulässige Beschwerde der zu 7) beigeladenen Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein ist begründet. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts (SG) Duisburg ist abzuändern.

1. Grundvoraussetzung dafür, dass ein Gericht sich in der Sache mit dem angetragenen Rechtsstreit befasst, ist ein Rechtsschutzbedürfnis, denn jede Rechtsverfolgung setzt ein Rechtsschutzbedürfnis voraus (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, 2014, vor § 51 Rdn. 16; Frehse in: Jansen, SGG, 4. Auflage, 2012, vor § 143 Rdn. 5 und § 86b Rdn. 26), mithin ist ein Antrag nach § 86a Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorrangig (std. Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschlüsse vom 19.05.2014 - L 11 KA 99/13 B ER -, 12.07.2012 - L 11 KA 39/12 B ER -, 13.04.2011 - L 11 KA 133/10 B ER und L 11 KA 17/11 B ER -, 23.12.2010 - L 11 KA 71/10 B ER -, 10.11.2010 - L 11 KA 87/10 B ER -, 03.02.2010 - L 11 KA 80/09 ER - und 02.04.2009 - L 11 KA 2/09 ER -). Im Interesse der Entlastung der Gerichte ist das Rechtsschutzbedürfnis zu verneinen, wenn der Beteiligte sein Begehren erkennbar auch außergerichtlich durchsetzen kann oder der Versuch, eine Aussetzung durch die Behörde zu erreichen, nicht von vornherein aussichtslos erscheint (Senat, Beschlüsse vom 27.05.2013 - L 11 KA 16/13 B ER -, 12.07.2012 - L 11 KA 39/12 B ER -, und 16.03.2011 - L 11 KA 96/10 B ER -; vgl. auch Frehse, a.a.O., § 86b Rdn. 12 f.). Der gegenteiligen Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17.10.2007 - B 6 KA 4/07 R - folgt der Senat nicht. Zwar führt das BSG aus, § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG setze im Gegensatz zu § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gerade nicht voraus, dass sich der Antragsteller zunächst an die Verwaltung wenden müsse, um eine Entscheidung der zuständigen Behörde über die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG zu erhalten. Das trifft zwar zu, greift indessen zu kurz. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass § 80 Abs. 6 VwGO das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis lediglich normativ konkretisiert. Hieraus lässt sich nicht schlussfolgern, dass für das SGG Abweichendes gilt. Das Rechtsschutzbedürfnis ist Grundvoraussetzung dafür, dass ein Gericht sich in der Sache mit dem angetragenen Rechtsstreit befasst, denn jede Rechtsverfolgung setzt ein Rechtsschutzbedürfnis voraus (vgl. Keller, a.a.O., vor § 51 Rdn. 16; Jung in Jansen, a.a.O., § 51 Rdn. 8 f.), mithin ist ein Antrag nach § 86a Abs. 3 Satz 1 SGG vorrangig (Senat, Beschlüsse vom 19.03.2012 - L 11 KA 15/12 B ER -, 07.09.2011 - L 11 KA 93/11 B ER -, 23.12.2010 - L 11 KA 71/10 B ER -, 10.11.2010 - L 11 KA 87/10 B ER -, 03.02.2010 - L 11 KA 80/09 ER -, 02.04.2009 - L 11 KA 2/09 ER - und 13.04.2011 - L 11 KA 133/10 B ER -).

Vor diesem Hintergrund ist ein Rechtsschutzbedürfnis nicht glaubhaft gemacht Es ist derzeit nicht ersichtlich, dass ein Antrag nach § 86a Abs. 3 SGG erkennbar aussichtslos gewesen wäre. Infolgedessen muss die Beschwerde der Beigeladenen zu 7) schon aus diesem Grund Erfolg haben.

2. Rechtsgrundlage für das Begehren des Beschwerdeführers im Übrigen ist § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG.

Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG kann das Gericht in Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen. Die von der Beschwerdeführerin vor dem SG Duisburg (S 19 KA 4/15) anhängig gemachte und gegen den Beschluss des Antragsgegners vom 20.05.2015 gerichtete Klage hat aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 1 Satz 1 SGG). Die in § 86a Abs. 2 SGG geregelten Ausnahmetatbestände greifen nicht. Das Verhältnis von Regel und Ausnahme gilt es im Rahmen des § 86 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zu beachten.

Bei den Entscheidungen nach § 86b Abs. 1 SGG sind die öffentlichen und privaten Interessen abzuwägen (Senat, Beschluss vom 13.06.2016 - L 11 KA 76/15 B ER -). Angesichts des in § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG zum Ausdruck kommenden Regel-Ausnahmeverhältnisses bedarf es gewichtiger Gründe, die es rechtfertigen, die sofortige Vollziehung anzuordnen. Insofern steht eine Prüfung der Erfolgsaussichten zunächst im Vordergrund (Senat, Beschlüsse vom 17.07.2013 - L 11 KA 101/12 B ER - und 16.03.2011 - L 11 KA 96/10 B ER -). Sind die Erfolgsaussichten nicht offensichtlich, müssen die für und gegen eine sofortige Vollziehung sprechenden Gesichtspunkte gegeneinander abgewogen werden. Dabei ist die Regelung des § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG zu beachten, wonach in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG (Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie der Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben) die Vollziehung nur ausgesetzt werden soll, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Im Rahmen der Interessenabwägung kommt es ggf. auch auf wirtschaftliche Beeinträchtigungen an. Diese haben indessen keine solche Bedeutung wie im Anwendungsbereich des § 86b Abs. 2 SGG, da sie dort in der Form des Anordnungsgrundes gleichrangig neben dem Anordnungsanspruch stehen. Für § 86b Abs. 1 SGG sind wirtschaftliche Interessen ein Kriterium neben einer Vielzahl anderer in die Abwägung unter Umständen einzubeziehender Umstände und können - je nach Sachlage - auch von untergeordneter Bedeutung sein (Senat, Beschlüsse vom 13.06.2016 - L 11 KA 76/15 B ER - und 21.05.2010 - L 11 B 15/09 KA ER -).

Die Erfolgsaussichten der von der Beschwerdeführerin in der Hauptsache verfolgten Berufung (L 11 KA 92/16) sind nach derzeitiger Einschätzung überwiegend wahrscheinlich.

Mit Verfügung vom 21.11.2016 hat der Senatsvorsitzende die Beteiligten auf die Rechtslage wie folgt hingewiesen:

"1. Die Beigeladene zu 7) trägt vor, der Antragsgegner hätte sich nicht auf den Vortrag des Antragstellers stützen dürfen, die Praxis M habe Wartezeiten von drei bis sieben Monaten. Der Antragsgegner habe es versäumt, diese Behauptung zu überprüfen.

Der angefochtene Beschluss zeigt, dass der Antragsgegner seine Entscheidung (auch) hierauf gestützt hat (Bescheid S. 5). Das Thema "Wartezeiten" hat erstmals der Antragsteller in das Verwaltungsverfahren eingebracht (Schriftsatz 25.02.2015). Die Beigeladene zu 7) hat sich schriftsätzlich lediglich in ihrem Widerspruch vom 29.01.2015 geäußert, danach nicht mehr. Ob der Komplex "Wartezeiten" in der mündlichen Verhandlung vor dem Antragsgegner am 20.05.2015 erörtert worden ist, lässt sich der Niederschrift nicht entnehmen. Dennoch wird schwerlich davon ausgegangen werden können, dass die Behauptung des Antragstellers, in der Praxis M komme es zu Wartezeiten von drei bis sieben Monaten unstreitig war oder ist. Demzufolge hätte diese Behauptung wohl verifiziert müssen (hierzu u.a. Senat, Beschluss vom 10.11.2010 - L 11 KA 87/10 B ER - unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 23.06.2010 - B 6 KA 22/09 R - und LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25.04.2008 - L 10 KA 48/06 - (Sonderbedarf); s. auch Senat, Urteil vom 11.02.2009 - L 11 97/08 - (Ausnahmegenehmigung nach § 73 Abs. 1a Satz 3 SGB V)).

2. Mit Blick auf das Vorbringen der Beigeladenen zu 7), der Antragsgegner müsse seiner Entscheidung die Versorgungssituation des Planungsbereichs Duisburg/Wesel zugrundelegen, kann dem nach Maßgabe der Urteile des Senats vom 26.05.2004 - L 11 KA 163/03 - und 11.02.2009 - L 11 KA 97/08 - nicht gefolgt werden. Insbesondere im Urteil vom 11.02.2009 hat sich der Senat hierzu ausführlich geäußert. Danach kann es auf den lokalen Versorgungsbereich ankommen, wenn es den Patienten nicht zumutbar ist, ggf. weit entfernte Arztpraxen im Planungsbereich aufzusuchen. Allerdings enthält der Beschluss des Antragsgegners keine Ausführungen dazu, warum dies den Patienten bezogen auf welche Praxen im Planungsbereich nicht zumutbar sein soll. Die Spezifika der Leistungen nach GOP 13400 EBM (hierzu auch das SG im angefochtenen Beschluss, Umdruck S. 8 Absatz 3) wären zu berücksichtigen und könnte weite Entfernungen tendenziell relativieren.

3. Der hohe Anteil der Überweisungsfälle besagt zunächst wenig. Zum einen ist auf die Erwägungen der Beigeladenen zu 7) im Schriftsatz vom 11.08.2016 (S. 3, Absatz 1 a.E.) zu verweisen. Zum anderen ist zu bedenken, dass Überweisungen vielfältige Gründe haben können. Das Spektrum reicht von "Anlocküberweisungen" über Überweisungen zu spezialfachärztlichen Leistungen bis zu Überweisungen aus pekuniären Gründen oder Kapazitätsgründen.

4. Offen bleibt ausweislich der Gründe des Beschlusses vom 20.05.2015 auch, ob die Praxis M bei 138 abgerechneten Leistungen nach GOP 13400 EBM den Fachgruppendurchschnitt überschreitet. Wäre das nicht der Fall, fragt es sich, welche argumentative Funktion der Hinweis auf 138 Fälle hat. Tatsächlich hat die Praxis M nach der im Verwaltungsvorgang befindlichen Frequenztabelle IV/2014 die Leistung nach GOP 13400 mit einer Häufigkeit von 9,44 auf 100, die Vergleichsgruppe hingegen mit 9,52 auf 100 Fälle erbracht.

5. Die ausführliche Hinweise des Senats im Urteil vom 11.02.2009 - L 11 KA 97/08 - scheinen nicht berücksichtigt zu sein. Im Verwaltungs- und nachfolgenden Gerichtsverfahren wird nur auf das eher wenig ergiebige Urteil vom 26.05.2004 - L 11 KA 163/03 - Bezug genommen.

Nach alledem wird die Beschwerde der Beigeladenen zu 7) voraussichtlich Erfolg haben. Sie erhalten nochmals Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 07.12.2016.

Einen Ausdruck (juris) des Urteils vom 11.02.2009 - L 11 KA 97/08 - füge ich bei."

Soweit das SG Duisburg mit Urteil vom 23.11.2016 die Klage in der Hauptsache abgewiesen hat (S 19 KA 4/15), vermag das an dieser Einschätzung derzeit nichts zu ändern. Das SG hat weder die Hinweise vom 21.11.2016 berücksichtigen können, noch hat es sich mit Entscheidung des Senats vom 11.02.2009 - L 11 KA 97/08 - auseinandergesetzt. Unter Berücksichtigung der Stellungnahme der Beschwerdeführerin (Schriftsatz vom 24.01.2017) hält der Senat an den Hinweisen vom 21.11.2016 fest.

Ist nicht glaubhaft gemacht, dass der Beschluss des Beschwerdegegners vom 20.05.2015 überwiegend wahrscheinlich rechtmäßig ist, besteht für die Anordnung der sofortigen Vollziehung keine Rechtsgrundlage. Gegenläufige Partikularinteressen des Antragstellers wirtschaftlicher oder rechtlicher Art, die es ausnahmsweise rechtfertigen könnten, den Sofortvollzug dennoch zu aufrechtzuerhalten, sind nicht ersichtlich.

Die Beschwerde der Beigeladenen zu 7) hat demnach Erfolg.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über den Streitwert ergeht gesondert.

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§177 SGG).

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