VG Gelsenkirchen, Urteil vom 07.04.2015 - 5 K 1953/14
Fundstelle
openJur 2019, 17002
  • Rkr:

1. Ein Bebauungsplan tritt wegen nachträglicher Funktionslosigkeit nur dann außer Kraft, wenn offenkundig ist, dass er als Instrument für die Steuerung der städtebaulichen Entwicklung nicht mehr tauglich ist.

2. Die Genehmigung eines Kiosks in einem Mischgebiet ist planungsrechtlich zulässig.

3. Bloße Lästigkeiten reichen für einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme nicht aus. Erforderlich ist eine qualifizierte Störung im Sinne einer Unzumutbarkeit.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die erstattungsfähig sind.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird nachgelassen, die Vollstreckung seitens des jeweiligen Vollstreckungsgläubigers durch Sicherheitsleistung in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Kiosks auf dem Grundstück J.--------straße 38a in C. .

Ausweislich des Grundbuchauszugs des Amtsgerichts C. ist der Kläger seit dem 30. April 1998 Miteigentümer des gegenüberliegenden Grundstücks J.--------straße 33-35 (Gemarkung X. , Flur 3, Flurstück 499).

Das Vorhabengrundstück (Gemarkung X. , Flur 3, Flurstück 523) steht ausweislich des Grundbuchauszugs des Amtsgerichts C. seit dem 15. März 2011 im Eigentum des Beigeladenen und liegt im Geltungsbereich des seit dem 21. März 1998 Rechtsverbindlichkeit beanspruchenden Vorhaben- und Erschließungsplans Nr. 663 "J.--------straße ".

Das östlich an ein Gewerbegebiet angrenzende Plangebiet umfasst eine Größe von insgesamt ca. 30.000 m². Ausweislich der Begründung ist beabsichtigt, innerhalb des Planbereichs eine Mehrfamilienhausbebauung mit maximal 250 Wohneinheiten zu errichten. Es sollen innerhalb sechs unterschiedlicher Karrees 27 Gebäude errichtet werden. Der in südwestlicher Richtung an die J.--------straße grenzende Teil des Plangebiets, der zudem je einen Teil der Gebäudekomplexe E und F umfasst, ist als Mischgebiet festgesetzt. Nach der Begründung erfolgt die Einstufung als Mischgebiet aufgrund der direkten Nachbarschaft zu einem Gewerbebetrieb auf der gegenüberliegenden Straßenseite der J.--------straße , da die Einhaltung von WA-relevanten Immissionsrichtwerten von dem Unternehmen nicht erwartet werden könne. Bezüglich der erweiterten Nutzungen, die sich durch die Festsetzung des Mischgebiets ergeben, wird "als Regulativ" das Planzeichen 2 festgesetzt. Demnach sind im Mischgebiet neben Wohnungen 400 qm für Büro-, 400 qm für Gastronomie- und 400 qm für Einzelhandelsnutzungen (unterteilt in mindestens zwei Einheiten) zu errichten. Von den festgesetzten qm-Zahlen darf um 25% abgewichen werden. Bezüglich des übrigen Plangebiets ist das Zeichen "W" festgesetzt, wonach in diesem Bereich Wohngebäude zulässig sind. Laut Planzeichen 3 sollen in diesem Gebiet die Immissionsrichtwerte eingehalten werden, die für ein Allgemeines Wohngebiet maßgebend sind. Schließlich enthält der Vorhaben- und Erschließungsplan Festsetzungen hinsichtlich der Baugrenzen, die jeweils um die Gebäudekomplexe herum verlaufen.

Mit Durchführungsvertrag vom 17. September 1997 verpflichtete sich der Vorhabenträger, Herr F. M. , gegenüber der Beklagten, 27 Gebäude zur Schaffung von max. 250 Wohneinheiten sowie von Gewerbeflächen entsprechend den Vorgaben des Vorhaben- und Erschließungsplans Nr. 663 zu errichten. Mit Baulast vom 17. Juni 1998 verpflichtete sich Herr Q. M. , handelnd für die F1. Baubetreuungsgesellschaft mbH, auf dem Grundstück Gemarkung X. Flur 3, Flurstück 490 oder 493 (entsprechen jetzt den Flurstücken 514, 515, 519, 522 und 523) die gemäß Vorhaben- und Erschließungsplan Nr. 663 getroffene Festsetzung gemäß Planzeichen 2 zu erfüllen.

In der Folge wurde die Bebauung im Plangebiet bis auf die Errichtung eines Teils des Gebäudekomplexes E auf den Flurstücken 519 und 523 entsprechend den Vorgaben des Vorhaben- und Erschließungsplans Nr. 663 umgesetzt. Das bis heute unbebaute Grundstück in den Bereichen der Flurstücke 519 und 523 besteht aus einer Schotterfläche, dessen Nutzung als Abstellfläche für Kraftfahrzeuge seitens des Eigentümers, dem Beigeladenen, geduldet wird.

Mit Bauantrag vom 11. April 2013 beantragte der Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für den Neubau von zwei Garagen, 23 Stellplätzen und einem Kiosk auf dem Grundstück J.--------straße 38 a (Gemarkung X. , Flur 3, Flurstück 523). Laut Lageplan vom 10. Juni 2013 soll der Kiosk in der südwestlichen Ecke des Grundstücks errichtet werden und eine Fläche von etwa 52 m² umfassen. Der Eingang zum Kiosk soll straßenseitig in Richtung der Straßenbiegung J.--------straße ausgerichtet sein. Ausweislich der Betriebsbeschreibung vom 11. April 2013 soll der Kiosk als "Verkaufsstelle für Dinge des täglichen Bedarfs, Zeitungen und Zeitschriften, Tabak, Süßigkeiten, Getränke, usw." dienen. Die Öffnungszeiten sind an Werktagen von 6.00 Uhr bis 20.00 Uhr und an Sonn- und Feiertagen von 7.00 Uhr bis 18.00 Uhr vorgesehen.

Die Beklagte genehmigte mit Baugenehmigung vom 29. Januar 2014 das beantragte Vorhaben. Zudem erteilte sie unter dem 27. Januar 2014 einen Befreiungsbescheid hinsichtlich der Überschreitung der durch den Vorhaben- und Erschließungsplan Nr. 663 festgesetzten Baugrenzen. Zur Begründung führte sie diesbezüglich aus, zwischen dem Beigeladenen und der Beklagten sei ein städtebaulicher Vertrag geschlossen worden. Somit würden die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Die Befreiung sei städtebaulich vertretbar und auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar.

Der Kläger hat am 23. April 2014 Klage erhoben.

Er ist der Ansicht, die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung sei rechtswidrig, da sie ausschließlich zu dem Zweck, eine Forderung für nicht durchgeführte Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen aus dem städtebaulichen Vertrag vom 17. September 1997 zu erhalten, erteilt worden sei. Erst nachdem diese Ausgleichssumme gezahlt und ein neuer städtebaulicher Vertrag geschlossen worden sei, habe die Beklagte die Baugenehmigung und die Befreiung erteilt. Der städtebauliche Vertrag sehe lediglich eine Verpflichtung zum "Bau von Garagen und Stellplätzen" vor. Grundlage der städtebaulichen Überlegungen seien jedoch weder ein "Geschäftshaus" noch ein "Kiosk" gewesen. Dadurch sei ersichtlich, dass die Beklagte selbst nicht mehr von der Realisierung eines Mischgebiets ausgehe. Hinzu komme, dass die Beklagte in der Vergangenheit immer den Standpunkt vertreten habe, dass es für die Errichtung anderer baulicher Anlagen auf dem Vorhabengrundstück eines Planänderungsverfahrens bedürfe und eine Befreiung von dem Vorhaben- und Erschließungsplan Nr. 663 nicht erteilt werden könne. Die Beklagte lehne nunmehr ohne Planänderung die damaligen Vorstellungen ab. Die ursprüngliche Planung habe darauf beruht, als Krücke für und gegenüber dem benachbarten Gewerbegebiet zu dienen. Der Beklagten sei klar, dass eine Realisierung der ausgewiesenen gewerblichen Flächen niemals in Betracht gekommen und auch von Anfang an nicht ernsthaft verfolgt worden sei. Der Vorhaben- und Erschließungsplan bleibe damit heute ohne Funktion. Es handele sich faktisch um ein reines Wohngebiet, in dem die Errichtung des beantragten Kiosks unzulässig sei, da er nicht der Versorgung der Bewohner dieses Gebiets diene. Dass es sich um einen Kiosk zur Versorgung des reinen Wohngebiets handeln solle, sei allenfalls ein Wunsch, der jedoch durch die Realität schnell überholt werde.

Darüber hinaus seien bei der Erteilung der Baugenehmigung die nachbarlichen Belange an keiner Stelle eingestellt worden. Die Errichtung eines Kiosks ziehe weiteren Fahr- und Parksuchverkehr in das reine Wohngebiet, das bereits mit begrenztem Parkraum zu kämpfen habe. Es handele sich zudem um eine Anliegerstraße sowie eine Spielstraße, bei der bezweifelt werden müsse, ob die Erschließung gesichert sei. Die Lage des Kiosks unmittelbar in der Kurve der Erschließungsstraße nehme den Auto- und Fahrradfahrern die freie Sicht beim Ein- und Ausfahren. Außerdem trage ein zu erwartendes kurzzeitiges Parken ein weiteres erhebliches Gefahrenpotential in sich. Schließlich werde ein Verkauf bis in die Abendstunden hinein zusätzliche Emissionen mit sich bringen. Die Errichtung eines Kiosks sei damit insgesamt rücksichtslos.

Der Kläger beantragt (schriftsätzlich) - sinngemäß -,

die zugunsten des Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 29. Januar 2014 sowie den Befreiungsbescheid vom 27. Januar 2014 der Beklagten insoweit aufzuheben, als durch diese die Errichtung eines Kiosks auf dem Grundstück J.--------straße 38a in C. (Gemarkung X. , Flur 3, Flurstück 523) genehmigt wird.

Die Beklagte beantragt (schriftsätzlich),

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, die Klage sei unbegründet, da keine nachbarschützenden Vorschriften zum Nachteil des Klägers durch das Bauvorhaben verletzt würden. Insbesondere bleibe die durch die Baugenehmigung legalisierte Nutzung des Kiosks von ihrem Störpotential erheblich hinter dem zurück, was der Vorhaben- und Erschließungsplan für das fragliche Grundstück ermögliche. Eine rücksichtslose Belastung des Klägers sei daher unter keinem Gesichtspunkt denkbar. Zudem sei dem Kläger der Rückgriff auf das Gebot der Rücksichtnahme verwehrt, da die Auswirkungen gewerblicher Nutzungen auf dem Grundstück mit einhergehendem Erschließungsverkehr vollständig durch den Vorhaben- und Erschließungsplan aufgezehrt worden seien.

Der Beigeladene beantragt (schriftsätzlich),

die Klage abzuweisen.

Er ist der Ansicht, es liege kein faktisches reines Wohngebiet vor, da der Standort des geplanten Kiosks von dem Wohnhaus des Klägers weiter entfernt sei als von dem auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindlichen metallverarbeitenden Betrieb.

Die Berichterstatterin hat am 26. Februar 2015 einen Ortstermin durchgeführt. Wegen des Ergebnisses wird auf das Ortsterminprotokoll sowie das während des Ortstermins angefertigte Lichtbildmaterial verwiesen.

Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 2. März 2015, vom 4. März 2015 und vom 9. März 2015 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Mit Beschluss vom 25. März 2015 hat die Kammer den Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte im Übrigen sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Gründe

Die zuständige Einzelrichterin entscheidet im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung der Baugenehmigung der Beklagten vom 29. Januar 2014 sowie des Befreiungsbescheides der Beklagten vom 27. Januar 2014 soweit diese die Errichtung eines Kiosks auf dem Grundstück J.--------straße 38 a in C. genehmigen, da diese nicht gegen nachbarschützende Vorschriften des öffentlichen Rechts verstoßen und den Kläger daher nicht in seinen eigenen Rechten verletzen, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Genehmigung des Kiosks durch die Beklagte verstößt nicht gegen drittschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts.

Sofern sich der Kläger auf einen Verstoß gegen Verfahrensvorschriften bei dem Zustandekommen der Baugenehmigung sowie hinsichtlich der Hintergründe und der Motivation der Beklagten, das Vorhaben zu genehmigen, beruft, liegt ein Verstoß gegen drittschützende Vorschriften nicht vor, da das Verfahren als solches grundsätzlich keinen Nachbarschutz vermittelt.

Die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich vorliegend nach § 30 Abs. 1 des Baugesetzbuches (BauGB), da das Vorhaben im Geltungsbereich des rechtsverbindlichen Vorhaben- und Erschließungsplans Nr. 663 "J.--------straße " liegt. Das Gericht hat keine durchgreifenden Zweifel an der Wirksamkeit des Vorhaben- und Erschließungsplans. Anhaltspunkte gegen die Wirksamkeit wurden weder vorgetragen, noch sind sie sonst ersichtlich.

Entgegen der Ansicht des Klägers ist der Vorhaben- und Erschließungsplan Nr. 663 auch nicht funktionslos geworden. Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) kann ein Bebauungsplan außer durch ausdrücklichen Aufhebungsakt des Plangebers in begrenzten Ausnahmefällen auch ohne einen solchen Akt wegen Funktionslosigkeit außer Kraft treten, wenn die Verhältnisse, auf die er sich bezieht, eine Verwirklichung der planerischen Festsetzungen auf unabsehbare Zeit ausschließen und wenn dies so offenkundig ist, dass ein Vertrauen in die Fortgeltung dieser Festsetzungen nicht mehr besteht oder keinen Schutz mehr verdient.

Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 9. Oktober 2003 - 4 B 85.03 -; OVG NRW, Beschluss vom 10. April 2007 - 10 A 3915/05 -; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 20. November 2014 - 5 K 4298/13 -; jeweils zitiert nach juris.

Das Oberverwaltungsgericht betont darüber hinaus, dass bloße Zweifel an der Verwirklichungsfähigkeit des Plans dafür nicht ausreichen. Ein Bebauungsplan tritt wegen nachträglicher Funktionslosigkeit demnach nur dann außer Kraft, wenn offenkundig ist, dass er als Instrument für die Steuerung der städtebaulichen Entwicklung nicht mehr tauglich ist.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. Juli 2013 - 10 D 74/11.NE -, bezugnehmend auf BVerwG, Urteile vom 29. April 1977 - 4 C 39.75 - und vom 3. August 1990 - 7 C 41 bis 43.89 -; zitiert nach juris.

Von einer Funktionslosigkeit kann hier vor dem Hintergrund, dass der Vorhaben- und Erschließungsplan Nr. 663 "J.--------straße " mit Ausnahme des Vorhabengrundstücks des Beigeladenen vollständig umgesetzt wurde, nicht ausgegangen werden. Allein der Umstand, dass das Vorhabengrundstück entgegen der beabsichtigten Planung bislang unbebaut geblieben ist und das Planzeichen 2 in dem festgesetzten Mischgebiet bislang nicht verwirklicht wurde, vermag nicht dazu führen, dass der Vorhaben- und Erschließungsplan Nr. 663 insgesamt funktionslos geworden ist und keine Geltung mehr beanspruchen kann. Vielmehr ist eine Umsetzung des Planzeichens 2 nach wie vor möglich. Auch führt die Errichtung des Kiosks nicht dazu, dass die mit dem Planzeichen 2 vorgesehenen Nutzungen nunmehr dauerhaft nicht mehr umgesetzt werden können. Von einem offenkundigen Ausschluss der Verwirklichung der planerischen Festsetzungen kann demnach nicht die Rede sein.

Soweit sich der Kläger gegen die Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB von den im Vorhaben- und Erschließungsplan Nr. 663 festgesetzten Baugrenzen wendet, kann eine Verletzung drittschützender Rechte nicht festgestellt werden. Denn die Festsetzung von Baugrenzen betrifft das Maß der baulichen Nutzung und ist somit regelmäßig nicht nachbarschützender Natur. Demgemäß sind im Rahmen eines Baunachbarstreits die Fragen danach, ob sich das Vorhaben nach seinem Volumen, der Zahl seiner Geschosse, der Höhe oder der Bebauungstiefe nach in die nähere Umgebung einfügt, ohne Bedeutung.

Vgl. grundlegend BVerwG, Urteil vom 13. Juni 1969 - IV C 234.65 -; VG Gelsenkirchen, Urteile vom 27. August 2012 - 5 K 5326/10 - und vom 26. Februar 2008 - 6 K 1102/06 - sowie Beschluss vom 17. Januar 2014 - 5 L 1469/13 - ; jeweils zitiert nach juris.

Die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 29. Januar 2014 sowie der Befreiungsbescheid vom 27. Januar 2014 verletzen nicht den Gebietsgewährleistungsanspruch des Klägers.

Der Gebietsgewährleistungsanspruch gibt grundsätzlich nicht nur den Eigentümern von Grundstücken, die in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet liegen, sondern auch den Eigentümern von Grundstücken, die in einem faktischen Baugebiet (§ 34 Abs. 2 BauGB in Verbindung mit §§ 2 ff. der Baunutzungsverordnung - BauNVO -) liegen, das Recht, sich gegen ein hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässiges Vorhaben zur Wehr zu setzen. Dieser Grundsatz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses: Weil und soweit der Eigentümer eines Grundstücks in dessen Nutzung öffentlichrechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung grundsätzlich auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen. Im Rahmen des durch eine Baugebietsfestsetzung begründeten nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses soll jeder Planbetroffene im Baugebiet das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung verhindern können. Entsprechendes gilt innerhalb faktischer Baugebiete nach § 34 Abs. 2 Halbsatz 1 BauGB. Der Gebietsgewährleistungsanspruch greift demnach gegenüber Vorhaben ein, die in dem betreffenden Baugebiet weder planungsrechtlich regelhaft zulässig sind noch nach § 31 Abs. 1 oder Abs. 2 BauGB im Wege einer Ausnahme oder Befreiung zugelassen werden können.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. September 1993 - 4 C 28.91 - und Beschluss vom 18. Dezember 2007 - 4 B 55.07 -; OVG NRW, Urteile vom 22. Mai 2014 - 8 A 1220/12 -, vom 21. Dezember 2010 - 2 A 1419/09 - und vom 17. Dezember 2008 - 10 A 3000/07 - sowie zuletzt Beschluss vom 29. September 2014 - 2 B 1048/14 -; Urteil der erkennenden Kammer vom 20. Februar 2014 - 5 K 1151/12 -; jeweils zitiert nach juris.

Ausgehend von diesen Grundsätzen wird durch die Genehmigung eines Kiosks der Gebietsgewährleistungsanspruch des Klägers nicht verletzt, da das Vorhaben nach § 30 Abs. 1 BauGB planungsrechtlich zulässig ist. Das Vorhabengrundstück liegt im Geltungsbereich des Vorhaben- und Erschließungsplans Nr. 663 "J.--------straße ", der für den Bereich des Vorhabengrundstücks die Gebietsart "MI" festsetzt. Die Genehmigung eines Kiosks in einem Mischgebiet ist planungsrechtlich zulässig.

Nach § 6 Abs. 1 BauNVO dienen Mischgebiete dem Wohnen und der Unterbringung von Gewerbebetrieben, die das Wohnen nicht wesentlich stören. Die zulässigen Nutzungsarten richten sich hier jedoch nicht nach Absatz 2 der Vorschrift, sondern nach dem im Vorhaben- und Erschließungsplan Nr. 663 festgesetzten Planzeichen 2. Demnach werden die grundsätzlich im Mischgebiet zulässigen Nutzungen auf Wohnungen sowie je 400 m² Büronutzung, Gastronomie und Einzelhandelsnutzung eingeschränkt. Der Begriff der im Mischgebiet zulässigen Einzelhandelsnutzung umfasst dabei sowohl Läden und Geschäfte als auch Warenhäuser, Verbrauchermärkte und sonstige großflächige Handelsbetriebe, sofern sie nicht den planungsrechtlichen Einschränkungen nach § 11 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 BauNVO unterliegen oder sonst der Eigenart des Gebiets im Sinne des § 15 Abs. 1 BauNVO widersprechen.

Vgl. Fickert / Fieseler, Baunutzungsverordnung, Kommentar, 12. Auflage 2014, § 6 Rn. 5.

Unter dem Begriff "Laden" werden dabei grundsätzlich Räume verstanden, die nach dem herkömmlichen Sprachverständnis eine Beschränkung der Grundfläche aufweisen und in denen im Allgemeinen ein auf bestimmte Warengattungen beschränktes Warensortiment oder Dienstleistungen angeboten werden.

Vgl. Fickert / Fieseler, Baunutzungsverordnung, Kommentar, 12. Auflage 2014, § 2 Rn. 10.

Bei dem hier zu errichtenden Kiosk mit einer Grundfläche von etwa 52 m² und einen auf Zeitungen und Zeitschriften, Tabak, Süßigkeiten und Getränke beschränkten Warensortiment handelt es sich damit ohne weiteres um eine im Mischgebiet planungsrechtlich zulässige gewerbliche Nutzung.

Letztlich kann die Frage, ob der Vorhaben- und Erschließungsplan Nr. 663 von Anfang an unwirksam war oder nachträglich funktionslos geworden ist, offen bleiben, da die Errichtung eines Kiosks auf dem Vorhabengrundstück selbst für den Fall, dass die nähere Umgebung als faktisches reines Wohngebiet einzustufen ist, bauplanungsrechtlich zulässig wäre. Nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO können in reinen Wohngebiete ausnahmsweise unter anderem Läden, die zur Deckung des täglichen Bedarfs für die Bewohner des Gebiets dienen, zugelassen werden. Bei dem hier zu errichtenden Kiosk handelt es sich um einen Laden im Sinne dieser Vorschrift, vgl. oben. Er dient auch der Deckung des täglichen Bedarfs der Bewohner des Gebiets. Mit der "Deckung des täglichen Bedarfs" ist der Grundbedarf an Gütern und Dienstleistungen gemeint, die in mehr oder weniger kurzen, regelmäßigen Abständen immer wieder benötigt werden und deren Erreichbarkeit in zumutbarer Entfernung von der Wohnung gerade wegen des regelmäßigen Aufkommens des Bedarfs als wünschenswert empfunden wird, womit der Begriff "täglich" nicht wörtlich zu verstehen ist.

Vgl. König / Roeser / Stock, Baunutzungsverordnung, Kommentar 3. Auflage 2014, § 3 Rn. 37; Fickert / Fieseler, Baunutzungsverordnung, Kommentar, 12. Auflage 2014, § 3 Rn. 18.

Laut Betriebsbeschreibung vom 11. April 2013 sollen in dem Kiosk unter anderem Zeitungen und Zeitschriften, Tabak, Süßigkeiten und Getränke angeboten werden. Es handelt sich dabei mithin um Güter im oben genannten Sinne. Dass der Kiosk der Deckung des täglichen Bedarfs der Bewohner des Gebiets dient, folgt schließlich bereits aus der Größe des Wohngebiets entlang der J.--------straße und der damit verbundenen beträchtlichen Anzahl der angebundenen Haushalte.

Das genehmigte Bauvorhaben des Beigeladenen verstößt auch nicht gegen das nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO gewährleistete Gebot der Rücksichtnahme. Danach sind die in §§ 2 bis 14 BauNVO aufgeführten baulichen und sonstigen Anlagen unzulässig, wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind, oder wenn sie solchen Belästigungen oder Störungen ausgesetzt werden.

Unabhängig von der Frage, ob die Anwendung des § 15 Abs. 1 BauNVO hier bereits deshalb ausgeschlossen ist, da das Rücksichtnahmegebot bereits von der vorausgegangenen planerischen Abwägung "aufgezehrt" worden ist,

Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 13. Januar 2014 - 10 B 1323/13 - mit Verweis auf BVerwG, Urteil vom 12. September 2013 - 4 C 8/12 -; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 20. November 2014 - 5 K 4298/13 -; jeweils zitiert nach juris,

kann eine rücksichtslose Beeinträchtigung des Klägers durch das Vorhaben des Beigeladenen nicht festgestellt werden.

Das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme soll angesichts der gegenseitigen Verflechtungen der baulichen Situation benachbarter Grundstücke einen angemessenen planungsrechtlichen Ausgleich schaffen, der einerseits dem Bauherrn ermöglicht, was von seiner Interessenlage her verständlich und unabweisbar ist, und andererseits dem Nachbarn erspart, was an Belästigungen und Nachteilen für ihn unzumutbar ist. Die Beachtung des Rücksichtnahmegebots soll gewährleisten, Nutzungen, die geeignet sind, Spannungen und Störungen hervorzurufen, einander so zuzuordnen, dass Konflikte möglichst vermieden werden. Die sich daraus ergebenden Anforderungen sind im Einzelfall festzustellen, wobei die konkreten Umstände zu würdigen, insbesondere die gegenläufigen Interessen des Bauherrn und des Nachbarn in Anwendung des Maßstabes der planungsrechtlichen Zumutbarkeit gegeneinander abzuwägen sind. Dabei kann desto mehr an Rücksichtnahme verlangt werden, je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung dessen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugute kommt; umgekehrt braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, desto weniger Rücksicht zu nehmen, je verständlicher und unabweisbarer die von ihm mit dem Bauvorhaben verfolgten Interessen sind.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 21. Januar 1983 - 4 C 59.79 -, vom 28. Oktober 1993 - 4 C 5.93 - und vom 23. September 1999 - 4 C 6.98 -; OVG NRW, Beschluss vom 3. September 1999 - 10 B 1283/99 -; jeweils zitiert nach juris; sowie zuletzt VG Gelsenkirchen, Urteil vom 17. Juli 2014 - 5 K 3060/13 -.

Dabei reichen bloße Lästigkeiten für einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine qualifizierte Störung im Sinne einer Unzumutbarkeit.

Vgl. VG Gelsenkirchen, Beschlüsse vom 17. Januar 2014 - 5 L 1469/13 - und vom 23. August 2013 - 6 L 737/13 - sowie Urteil vom 30. Oktober 2014 - 5 K 1588/13 -; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (BayVGH), Urteil vom 12. Juli 2012 - 2 B 12.1211 -; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Januar 2012 - 2 S 50.10 -; jeweils zitiert nach juris.

Gemessen an diesen Grundsätzen erweist sich die Errichtung eines Kiosks auf dem Grundstück des Beigeladenen gegenüber dem Kläger nicht als unzumutbar. Dies ergibt sich bereits aus der geringen Größe des Kiosks sowie des eingeschränkten Warensortiments, welches im Kiosk angeboten werden soll, bestehend im Wesentlichen aus Zeitungen, Tabak, Süßigkeiten und Getränken, die es von vornherein mit sich bringen, dass Kunden den Kiosk lediglich zum Erwerb einzelner Waren "im Vorbeigehen" und nicht etwa zu größeren Einkäufen aufsuchen werden. Hinzu kommt, dass der Kiosk straßenseitig zur Straßenbiegung der J.--------straße ausgerichtet ist, so dass die von dem Kiosk ausgehenden Immissionen nur in äußerst geringem Maße überhaupt in den geschützten Ruhebereich des klägerischen Grundstücks eindringen können. Vor dem Hintergrund des Eindrucks, den das Gericht während des Ortstermins von der Örtlichkeit gewonnen hat, werden sich die durch den Kiosk verursachte Lärmimmissionen allenfalls auf die zur J.--------straße ausgerichteten Wohnungen auf dem Grundstück des Klägers, an die teilweise auch ein Balkon angeschlossen ist, auswirken. Zwar verkennt das Gericht nicht, dass mit der Errichtung des Kiosks bezüglich dieser Wohnungen eine Belastung für die Bewohner einhergeht. Die zu erwartenden Immissionen erreichen jedoch nicht ein solches Maß, dass von einer Unzumutbarkeit im oben dargestellten Sinne ausgegangen werden kann. Letztlich sprechen auch die eingeschränkten Öffnungszeiten des Kiosks, vor allem in den Abendstunden, gegen eine unzumutbare Beeinträchtigung des Klägers. Durch die Begrenzung der Öffnungszeiten wochentags bis 20.00 Uhr und an Sonn- und Feiertagen bis 18.00 Uhr sind Lärmimmissionen zu den besonders geschützten Abend- und Nachtzeiten ausgeschlossen. Sofern der Kläger vorträgt, dies werde nicht der Wirklichkeit entsprechen, obliegt es der Beklagten bei Überschreitungen der Baugenehmigung hiergegen ordnungsbehördlich vorzugehen. Prüfungsmaßstab hinsichtlich der Verletzung drittschützender Rechte ist dagegen lediglich der genehmigte Zustand.

Soweit der Kläger vorträgt, durch die Errichtung eines Kiosks werde erheblicher Besucherverkehr ausgelöst, kann dem nicht gefolgt werden. Vor dem Hintergrund der geringen Größe Kiosks sowie vor allem des dort angebotenen eingeschränkten Warensortimentes, vermag das Gericht nicht zu erkennen, dass mit der Umsetzung des Vorhabens ein die Grenze der Unzumutbarkeit überschreitender An- und Abfahrtverkehr zu erwarten ist. Vielmehr geht das Gericht davon aus, dass lediglich zufällige Passanten sowie Bewohner der J.--------straße und des angrenzenden Bereichs der K. -T. -Straße den Kiosk aufsuchen werden.

Verstöße des Vorhabens gegen drittschützende Vorschriften des Bauordnungsrechts wurden weder vorgetragen, noch liegen Anhaltspunkte für einen solchen Verstoß vor.

Die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung verletzt im angefochtenen Umfang auch keine sonstigen nachbarschützenden Vorschriften des öffentlichen Rechts.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind erstattungsfähig, da er einen Antrag gestellt und sich somit dem allgemeinen Prozessrisiko ausgesetzt hat, §§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.

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