OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13.10.2017 - 11 A 78/17.A
Fundstelle
openJur 2019, 4016
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 2a K 7047/16.A

Das bulgarische Asylverfahren leidet gegenwärtig in einer Weise an systemischen Schwachstellen, dass die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO erfüllt sind. Dies gilt jedenfalls für einen Dublin-Rückkehrer, der vor seiner Einreise ins Bundesgebiet und vor dem 22. Dezember 2015 in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hat.

Tenor

Das angefochtene Urteil wird geändert.

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. September 2016 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der im Jahr 1994 geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Nach eigenen Angaben hatte er sein Heimatland im September 2015 verlassen, war über die Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich am 12. Oktober 2015 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hatte bereits in Bulgarien die Gewährung von Asyl beantragt. Am 28. Juni 2016 stellte er auch in Deutschland einen Asylantrag.

Eine Abfrage des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) bei der Datenbank EURODAC ergab, dass der Kläger am 23. September 2015 in Bulgarien registriert worden war (EURODAC-Treffer) und dort am 27. September 2015 einen Asylantrag gestellt hatte (EURODAC-Treffer). Auf das Übernahmeersuchen vom 26. August 2016 erklärten die bulgarischen Behörden unter dem 7. September 2016 die Zustimmung zur Übernahme des Klägers auf der Grundlage des Art. 18 Abs. 1 c der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO).

Mit Bescheid vom 30. September 2016 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1. des Bescheids), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 2. des Bescheids), ordnete die Abschiebung des Klägers nach Bulgarien an (Ziffer 3. des Bescheids) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4. des Bescheids).

Am 18. Oktober 2016 hat der Kläger Klage erhoben. Den am gleichen Tag gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 26. Oktober 2016 - 2a L 2480/16.A - ab.

Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger vorgetragen: In Bulgarien lägen menschenunwürdige Umstände vor. Das bulgarische Asylsystem weise erhebliche Mängel auf. Er sei zudem psychisch krank. Er hat einen Kurzbericht des Universitätsklinikums Bochum vom 22. November 2016 vorgelegt, wonach er an einer schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankung (einer sogenannten polymorphen psychotischen Störung mit Symptomen einer Schizophrenie) leide.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. September 2016 aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 23. Dezember 2016 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Einer Abschiebung des Klägers nach Bulgarien stünden - trotz der zweifellos bestehenden Missstände - keine systemischen Mängel des dortigen Asylsystems entgegen.

Zur Begründung seiner vom Senat zugelassenen Berufung trägt der Kläger vor: Die Beklagte müsse von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen. Asylsuchenden werde in Bulgarien kein menschenwürdiges Dasein geboten. Außerdem wende der Staat Bulgarien zur Grenzsicherung exzessive Maßnahmen an, die illegal und unter erheblicher Gewaltanwendung vollzogen würden. Im Übrigen werde nochmals auf seine bestehenden psychischen Erkrankungen hingewiesen.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. September 2016 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat mit Beschluss vom 26. April 2017 - 11 B 488/17.A - von Amts wegen die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten von Frau Dr. W. J. , Bulgarien, vom 17. Juli 2017 Bezug genommen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Gründe

Die Berufung hat Erfolg. Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 30. September 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

A. Die Voraussetzungen der für die Feststellung der Unzulässigkeit des Asylantrags (Ziffer 1. des Bescheids vom 30. September 2016) herangezogenen Rechtsgrundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG sind nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.

Bulgarien ist nicht mehr zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers. Die ursprünglich nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), gegebene Zuständigkeit Bulgariens besteht nicht mehr.

I. Die ursprüngliche Zuständigkeit Bulgariens ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO. Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ordnet an, dass, wenn ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor. Der Kläger hat sowohl nach seinen eigenen Angaben als auch nach den dem Bundesamt vorliegenden Daten von der Türkei aus (also einem Drittstaat) die Grenze nach Bulgarien illegal überschritten und dort einen Asylantrag gestellt. Auf das Aufnahmegesuch der Beklagten hat Bulgarien mit Schreiben vom 7. September 2016 reagiert und auf der Basis von Art. 18 Abs. 1 c Dublin III-VO seine Übernahmebereitschaft für den Kläger erklärt. Nach dieser Vorschrift ist der nach der Dublin III-VO zuständige Mitgliedstaat verpflichtet, einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe der Art. 23, 24, 25 und 29 Dublin III-VO wieder aufzunehmen.

II. Es kann offenbleiben, ob die Zuständigkeit bereits nach den Vorschriften über das Wiederaufnahmeverfahren auf die Beklagte übergegangen ist.

1. Das Wiederaufnahmegesuch der Beklagten ist vor Ablauf der Frist nach Art. 23 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO bei den bulgarischen Behörden eingegangen und wäre damit rechtzeitig gestellt worden. Nach dieser Vorschrift ist das Wiederaufnahmegesuch sobald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach der EURODAC-Treffermeldung im Sinne von Art. 9 Abs. 5 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu stellen. Die in den Verwaltungsvorgängen befindlichen EURODAC-Treffer datieren jeweils auf den 28. Juni 2016. Das Gesuch der Beklagten ist am 26. August 2016 und damit innerhalb der Zweimonatsfrist des Art. 23 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO bei den bulgarischen Behörden eingegangen.

2. Die Frist zur Stellung des Wiederaufnahmegesuchs ist allerdings dann nicht eingehalten mit der Folge, dass die Beklagte schon gemäß Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig geworden ist, wenn die Dreimonatsfrist des Art. 23 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ab Antragstellung auf internationalen Schutz maßgeblich ist und nicht durch die mit dem EURODAC-Treffer beginnende Frist von zwei Monaten gemäß Art. 23 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO faktisch verlängert werden kann. Nach Art. 23 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ist das Wiederaufnahmegesuch, wenn es sich auf andere Beweismittel als Angaben aus dem EURODAC-System stützt, innerhalb von drei Monaten, nachdem der Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Dublin III-VO gestellt wurde, an den ersuchten Mitgliedstaat zu richten.

Vgl. zur Notwendigkeit der Einhaltung der Dreimonatsfrist nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO für die Stellung eines Aufnahmegesuchs EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-670/16 Mengesteab -, juris, Rn. 67 ff.

Einen förmlichen Antrag auf internationalen Schutz hat der Kläger zwar erst am 28. Juni 2016 gestellt; sein Antrag dürfte aber schon im Januar 2016 als gestellt gegolten haben.

Art. 20 Abs. 2 Dublin III-VO enthält die materielle Definition des Antrags auf internationalen Schutz. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union gilt ein solcher Antrag nach dieser Vorschrift als gestellt, wenn der mit der Durchführung der sich aus der Dublin III-VO ergebenden Verpflichtungen betrauten Behörde ein Schriftstück zugegangen ist, das von einer Behörde erstellt wurde und bescheinigt, dass ein Staatsangehöriger eines Nicht-EU-Lands um internationalen Schutz ersucht hat, oder, gegebenenfalls ihr nur die wichtigsten in einem solchen Schriftstück enthaltenen Informationen, nicht aber das Schriftstück selbst oder eine Kopie davon, zugegangen sind.

Vgl. EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-670/16 Mengesteab -, juris, Rn. 75 ff., 103.

Die zuvor insbesondere in der Rechtsprechung umstrittene Frage, ob auch die Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender (BÜMA) unter die Definition des Art. 20 Abs. 2 Dublin III-VO fällt, ist damit beantwortet worden. Jedenfalls dann, wenn die BÜMA dem Bundesamt übermittelt oder ihm die darin enthaltenen Informationen zur Verfügung gestellt worden sind, gilt der Antrag auf internationalen Schutz im Sinne der Dublin-Regeln als gestellt. Denn anhand dieser Informationen hat das Bundesamt - was erforderlich ist, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats wirksam einleiten zu können - zuverlässig Kenntnis darüber erlangt, dass ein Drittstaatsangehöriger um internationalen Schutz nachgesucht hat.

Vgl. EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-670/16 Mengesteab -, juris, Rn. 75 ff., 88; vgl. zum Meinungsstand vor der Entscheidung des EuGH: VG Minden, Vorlagebeschluss vom 22. Dezember 2016 - 10 K 5476/16.A -, juris, Rn. 51 ff.

Das Bundesamt hatte schon vor der förmlichen Antragstellung des Klägers am 28. Juni 2016 Kenntnis von seinem Asylgesuch erlangt. Der Zeitpunkt, zu dem dem Bundesamt die vom Kreis Q. ausgestellte BÜMA vom 4. November 2015 (Beiakte Heft 1, Blatt 34) vorlag, lässt sich dem Verwaltungsvorgang nicht entnehmen. Die Mitteilung der Adressänderung des Klägers vom 12. Januar 2016 trägt aber einen Eingangsstempel des Bundesamts - Außenstelle Düsseldorf - vom 18. Januar 2016 (Beiakte Heft 1, Blatt 5). Mit Blick darauf ist davon auszugehen, dass das Bundesamt schon vor dem 28. Juni 2016, nämlich spätestens im Januar 2016, die BÜMA erhalten und damit schon zu diesem Zeitpunkt zuverlässig Kenntnis von dem Begehren des Klägers auf Gewährung internationalen Schutzes erhalten hatte. Unter Zugrundelegung einer Antragstellung schon im Januar 2016 wäre das am 26. August 2016 bei den bulgarischen Behörden eingegangene Wiederaufnahmegesuch nicht rechtzeitig innerhalb der Dreimonatsfrist des Art. 23 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO gestellt.

3. Ob die oben zitierte Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Verhältnis zwischen Dreimonatsfrist und Zweimonatsfrist gemäß Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO auf den anders formulierten Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO übertragen werden kann mit der Folge, dass die Nichteinhaltung der Dreimonatsfrist nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO begründet, bedarf keiner Entscheidung.

III. Die Zuständigkeit Bulgariens für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers ist jedenfalls gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO entfallen. Danach entfällt die Zuständigkeit eines zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaats, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an diesen Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen.

1. Die Vorschrift des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO dient der Umsetzung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu den sogenannten systemischen Schwachstellen. Danach gründet sich das Gemeinsame Europäische Asylsystem auf das Prinzip gegenseitigen Vertrauens, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention finden. Daher müsse die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention stehe.

Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 und 493/10, N. S. u. a. -, NVwZ 2012, 417 (419), Rn. 75 bis 80.

Die Vermutung der menschenrechtskonformen Behandlung von Asylbewerbern ist allerdings widerlegbar.

Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 und 493/10, N. S. u. a. -, NVwZ 2012, 417 (421), Rn. 104.

Den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt es, einen Asylbewerber nicht an den "zuständigen Mitgliedstaat" im Sinne der Dublin III-VO zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta ausgesetzt zu werden.

Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 und C-493/10, N. S. u. a. - NVwZ 2012, 417 (421), Rn. 106, noch für die Dublin II-VO; ebenso EuGH, Urteil vom 14. November 2013 - C-4/11, Puid -, NVwZ 2014, 129 (130), Rn. 30; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, Buchholz 402.25 § 27a AsylVfG Nr. 1.

Der Asylbewerber kann in einem Rechtsbehelfsverfahren systemische Mängel einwenden, wenn der betreffende Mitgliedstaat der Wiederaufnahme zugestimmt hat.

Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - C-394/12, Abdullahi -, NVwZ 2014, 208 (210), Rn. 60; ferner BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, Buchholz 402.25 § 27a AsylVfG Nr. 1.

Für das in Deutschland - im Unterschied zu anderen Rechtssystemen - durch den Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geprägte verwaltungsgerichtliche Verfahren hat das Kriterium der systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Bedeutung für die Gefahrenprognose im Rahmen des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Die Fokussierung der Prognose auf systemische Mängel ist dabei, wie sich aus den Erwägungen des EuGH zur Erkennbarkeit der Mängel für andere Mitgliedstaaten ergibt, Ausdruck der Vorhersehbarkeit solcher Defizite, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen. Solche Mängel treffen den Einzelnen in dem zuständigen Mitgliedstaat nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren. Die Widerlegung der oben genannten Vermutung auf Grund systemischer Mängel setzt deshalb voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat auf Grund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Dann scheidet eine Überstellung an den nach der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedstaat aus.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, Buchholz 402.25 § 27a AsylVfG Nr. 1, S. 3 f. = juris; bestätigt durch Beschluss vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, Buchholz 402.25 § 27a AsylVfG Nr. 2, S. 8 f. = juris; vgl. hierzu auch Lübbe, "Systemische Mängel" in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bei der Prüfung systemischer Mängel ausdrücklich auf das Kriterium des systemischen Versagens ("systemic failure") abgestellt. Als Verstoß gegen Art. 3 EMRK und damit als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung hat er Haftbedingungen angesehen, die Gefühle der Willkür, Unterlegenheit und Angst sowie tiefgreifende Wirkungen auf die Würde einer Person haben können, ferner völlige Mittellosigkeit und Obdachlosigkeit sowie das Fehlen einer wirksamen Beschwerdemöglichkeit, d. h. die Gefahr, dass der Antragsteller direkt oder indirekt in sein Herkunftsland zurückgeschoben wird, ohne dass ernsthaft geprüft worden ist, ob sein Asylantrag begründet ist, und ohne dass er einen wirksamen Rechtsbehelf einlegen konnte.

Vgl. im Einzelnen EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09, M. S. S./Belgien und Griechenland -, NVwZ 2011, 413 ff.

Werden systemische Schwachstellen festgestellt, muss auch der konkrete Schutzsuchende individuell betroffen sein. Zudem ist zu berücksichtigen, dass - eine systemische Schwachstelle unterstellt - einer drohenden Verletzung von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta im konkreten Einzelfall gegebenenfalls vorrangig dadurch "vorgebeugt" werden kann und auch muss, dass die Bundesrepublik Deutschland die Überstellung im Zusammenwirken mit dem anderen Mitgliedstaat so organisiert, dass eine Rechtsverletzung nicht eintreten kann.

Vgl. hierzu EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - Nr. 29217/12, Tarakhel/Schweiz - , NVwZ 2015, 127; BVerfG, Beschlüsse vom 17. September 2014 - 2 BvR 939/14 und 2 BvR 1795/14 -, und vom 17. April 2015 - 2 BvR 602/15 -, jeweils juris.

2. Die Frage, ob systemische Schwachstellen vorliegen, beurteilt der Senat nicht allein mit Blick auf die Regelung des § 77 Abs. 1 AsylG, wonach das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abstellt, sondern wegen des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs auch unter Berücksichtigung der Regelung des Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO. Nach dieser Vorschrift wird bei der Bestimmung des nach den Kriterien des Kapitels III zuständigen Mitgliedstaats von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat gestellt hat. Das bedeutet, dass auch ein Entfallen von systemischen Schwachstellen im Asylsystem im betreffenden Mitgliedstaat nach der erstmaligen Asylantragstellung und der Einreise des Asylsuchenden in das Bundesgebiet nicht eine (erneute) Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats begründen kann. Nur so kann den unionsrechtlichen Erfordernissen eines klaren und praktikablen Zuständigkeitssystems, das zeitnah zu einer sachlichen Prüfung des Antrags zumindest in einem Mitgliedstaat führt und das einen potentiellen ständigen Wechsel der Zuständigkeit verbietet, genügt werden.

Vgl. zu der Frage des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung systemischer Schwachstellen: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 5. Juli 2016 - A 11 S 974/16 -, InfAuslR 2016, 391 (392) = juris, Rn. 26, unter Hinweis auf Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO; sowie EuGH, Urteil vom 7. Juni 2016 - C-63/15 -, juris; nachgehend BVerwG, Beschluss vom 23. November 2016 - 1 B 113/16 -, juris; vgl. aber: Nds. OVG, Urteil vom 15. November 2016 - 8 LB 92/15 -, juris, Rn. 40, allerdings betreffend systemische Schwachstellen im Asylsystem Ungarns im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts; Bay VGH, Beschluss vom 27. April 2015 - 14 ZB 13.30076 -, juris, Rn. 10.

3. Nach diesen Maßstäben liegen jedenfalls im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in Bulgarien systemische Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens betreffend solche Dublin-Rückkehrer vor, die - wie der Kläger - vor ihrer Einreise ins Bundesgebiet und vor dem 22. Dezember 2015 in Bulgarien einen Asylantrag gestellt haben.

a. Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte betreffend Fälle von Dublin-Rückkehrern ist uneinheitlich; überwiegend wird allerdings davon ausgegangen, systemische Schwachstellen im bulgarischen Asylverfahren lägen nicht vor, teilweise wird diese Feststellung nur für solche Asylsuchenden getroffen, die - anders als der Kläger - vor der Einreise in das Bundesgebiet noch keinen Asylantrag in Bulgarien gestellt hatten.

Vgl. systemische Schwachstellen des bulgarischen Asylsystems betreffend Dublin-Rückkehrer hinsichtlich solcher Asylsuchender verneinend, die keinen Asylantrag in Bulgarien gestellt haben: OVG NRW, Urteil vom 19. Mai 2017 - 11 A 52/17.A -, juris; OVG S.-A., Beschluss vom 29. März 2016 - 3 L 47/16 -, juris, Rn. 32;

systemische Schwachstellen des bulgarischen Asylsystems betreffend Dublin-Rückkehrer verneinend: VG Potsdam, Beschluss vom 6. Juli 2017 - 1 L 326/17.A -, juris, Rn. 24 ff.; VG Düsseldorf, Urteil vom 23. September 2016 - 12 K 7819/16.A -, juris, Rn. 33 ff.; VG Saarland, Beschluss vom 13. Mai 2016 - 6 L 351/16 -, juris, Rn. 60 ff.;

systemische Schwachstellen des bulgarischen Asylsystems betreffend Dublin-Rückkehrer allerdings in erster Linie auf der Basis von Erkenntnissen aus den Jahren 2013 und 2014 verneinend: VGH, Bad.-Württ., Urteile vom 1. April 2015 - A 11 S 106/15 -, juris, Rn. 53 und vom 18. März 2015 - A 11 S 2042/14 -, juris, Rn. 53; Bay VGH, Urteil vom 29. Januar 2015 - 13a B 14.50039 -, juris, Rn. 29 ff.;

systemische Schwachstellen des bulgarischen Asylverfahrens betreffend Dublin-Rückkehrer annehmend: VG Göttingen, Urteil vom 14. März 2017 - 2 A 141/16 -, juris; VG Münster, Beschluss vom 23. Dezember 2016 - 8 L 1390/16.A -, juris; VG Minden, Urteil vom 21. September 2016 - 3 K 2346/15.A -, juris; ferner VG Freiburg, Urteil vom 4. Februar 2016 - A 6 K 1356/14 -, juris, Rn. 23 f.; und VG Oldenburg, Beschluss vom 24. Juni 2015 - 12 B 2278/15 -, juris, Rn. 44 ff., letztere jeweils für den Fall eines Dublin-Rückkehrers, der in Bulgarien keinen Antrag gestellt hat.

b. Zur Überzeugung des Senats (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) steht fest, dass in Bulgarien kaum überwindliche Hindernisse für solche Dublin-Rückkehrer hinsichtlich des Zugangs zum Asylverfahren mit der Folge des Fehlens einer Möglichkeit zur Unterbringung in den Aufnahmeeinrichtungen bestehen, die - wie der Kläger - vor ihrer Einreise in das Bundesgebiet und vor dem 22. Dezember 2015 einen Asylantrag in Bulgarien gestellt haben und hinsichtlich derer Bulgarien seine Aufnahmebereitschaft auf der Grundlage des Art. 18 Abs. 1 c Dublin III-VO erklärt hat. Diese Situation verschärft sich darüber hinaus für schutzbedürftige Dublin-Rückkehrer.

aa. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob nach Bulgarien zurückkehrende Asylsuchende, die dort vor dem 22. Dezember 2015 einen Asylantrag gestellt haben, entsprechend den Anforderungen des Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Verfahrensrichtlinie - VRL) behandelt werden. Dieser Regelung zufolge stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass ein Antragsteller, der sich nach Einstellung der Antragsprüfung gemäß Abs. 1 wieder bei der zuständigen Behörde meldet, berechtigt ist, um Wiedereröffnung des Verfahrens zu ersuchen oder einen neuen Antrag zu stellen, der nicht nach Maßgabe der Art. 40 und 41 VRL geprüft wird. Einstellungen nach Art. 28 Abs. 1 VRL sind solche, die erfolgen, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass ein Antragsteller seinen Antrag stillschweigend zurückgenommen hat oder das Verfahren nicht weiter betreibt.

(1) Die Auswertung der drei im vom Senat eingeholten Rechtsgutachten benannten Entscheidungen des Obersten Verwaltungsgerichts der Republik Bulgarien vom 3. Mai 2016 - 4195/2016 -, vom 14. März 2017 - 2214/2017 - und vom 3. Mai 2017 - 8092/2017 - ergibt, dass in Bulgarien keine Rechtssicherheit besteht, ob und in welchem Umfang ein Dublin-Rückkehrer, der dort einen Asylantrag vor dem 22. Dezember 2015 gestellt hat, das ursprüngliche Verfahren in Bulgarien wiederaufnehmen oder einen neuen Antrag stellen kann und ob eine ausreichende Beschwerdemöglichkeit gegen ablehnende Entscheidungen der bulgarischen Behörden besteht.

Die Frage, ob § 77 Abs. 4 des bulgarischen Asyl- und Flüchtlingsgesetzes (im Folgenden: LAR), bekanntgemacht in der Staatlichen Zeitung, Ausgabe 101 vom 22. Dezember 2015, in den Fällen, in denen der Ausländer - wie der Kläger - einen Antrag auf internationalen Schutz vor dessen Bekanntmachung gestellt hat, Anwendung findet oder nicht, wird durch das Oberste Verwaltungsgericht der Republik Bulgarien unterschiedlich beantwortet. Nach § 77 Abs. 4 Satz 2 LAR ist das Verfahren, das auf der Grundlage des § 15 Abs. 1 Ziffer 7 LAR eingestellt worden ist, in Bezug auf die Sachprüfung des Antrags nach Maßgabe näher bestimmter Regelungen wiederaufzunehmen. In dem Beschluss vom 3. Mai 2016 - 4195/2016 - hat das Oberste Verwaltungsgericht der Republik Bulgarien entschieden, diese Vorschrift sei auf Fälle der Stellung eines Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes vor dem 22. Dezember 2015 nicht anzuwenden, weil nach § 4 der Übergangs- und Schlussbestimmungen die bereits bis zum Inkrafttreten des Gesetzes eingeleiteten Verfahren nach der bislang geltenden Rechtslage verhandelt und entschieden würden. In der Entscheidung vom 3. Mai 2017 - 8092/2017 - ist das Oberste Verwaltungsgericht der Republik Bulgarien in einer anderen Besetzung von der gegenteiligen Auffassung ausgegangen. § 4 der Übergangs- und Schlussbestimmungen betreffe Verfahren, die vor dem Inkrafttreten des Asyl- und Flüchtlingsgesetzes im Jahr 2002 und nicht solche, die vor späteren Änderungen des Gesetzes eingeleitet worden seien. Zudem hat das Gericht in dieser Entscheidung festgestellt, dass der betreffende Schutzsuchende bei seiner Rückkehr nach Bulgarien durch die zuständige Behörde nicht hinreichend auf seine Rechte hingewiesen worden sei. Dies stelle aber die einzige Möglichkeit dar, den Schutz der Rechte und gesetzlichen Interessen einer Person zu gewährleisten, die in Bulgarien um Asyl nachsuche. Im Gang des Verwaltungsverfahrens des betreffenden Schutzsuchenden seien erhebliche Verletzungen von prozessualen Regelungen eingetreten, die wiederum zu einer Verletzung des Verteidigungsrechts und der Möglichkeit der Teilnahme an dem Verfahren geführt hätten. In der Entscheidung vom 14. März 2017 - 2214/2017 - hat das Oberste Verwaltungsgericht der Republik Bulgarien ausgeführt, § 77 Abs. 4 LAR stelle keine Grundlage für die Aufhebung der Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens betreffend den Asylantrag dar, sondern schaffe eine Grundlage für eine neue Entscheidung, aufgrund derer das eingestellte Verfahren wiederaufgenommen werde.

Ausgehend hiervon ist es zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, dass ein Dublin-Rückkehrer, der - wie der Kläger - vor dem 22. Dezember 2015 in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hat, einen Wiederaufnahmeantrag stellen, eine Entscheidung erwirken und diese im Falle des negativen Ausgangs auch anfechten kann. Zunächst ist aber schon äußerst zweifelhaft, ob er überhaupt in die Lage versetzt wird, einen Wiederaufnahmeantrag anzubringen. Denn mit Blick auf die Ausführungen des Obersten Verwaltungsgerichts der Republik Bulgarien in seiner Entscheidung vom 3. Mai 2017- 8092/2017 - ist nicht davon auszugehen, dass er bei seiner Rückkehr ausreichend über die ihm zustehenden Möglichkeiten und Rechte informiert wird. Sodann ist, sollte es ihm gelingen, einen Wiederaufnahmeantrag zu stellen, der Ausgang des Verfahrens mit Blick auf die oben dargestellte unterschiedliche Rechtsprechung der Spruchkörper des Obersten Verwaltungsgerichts der Republik Bulgarien ungewiss. Es ist daher erforderlich, dass der Schutzsuchende ausführlich und in jedem Verfahrensstadium über seine Rechte informiert wird, was - wie das Oberste Verwaltungsgericht der Republik Bulgarien in der oben bereits benannten Entscheidung vom 3. Mai 2017 aufgezeigt hat - bei seiner Rückkehr nach Bulgarien nicht erfolgt. Abgesehen davon wird er auch Rechtshilfe benötigen, um die Entscheidung der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge (im Folgenden: SAR) überhaupt anfechten zu können.

Vgl. Rechtsgutachten von Frau Dr. J. für das erkennende Gericht vom 17. Juli 2017, S. 5 ff zu der nach ihrer Auffassung nicht bestehenden Rechtssicherheit für Dublin-Rückkehrer, die vor dem 22. Dezember 2015 einen Asylantrag in Bulgarien gestellt haben.

Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang auf die oben bereits zitierte Entscheidung des Verwaltungsgerichts Potsdam hinweist,

vgl. VG Potsdam, Beschluss vom 6. Juli 2017 - 1 L 326/17.A -, juris,

wonach das bulgarische Asylsystem mit Blick auf die Situation der Dublin-Rückkehrer keine systemischen Mängel aufweise, dies gelte auch für solche Rückkehrer, die einen Asylantrag vor ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland in Bulgarien gestellt hätten, folgt der Senat dieser Rechtsprechung in Bezug auf letztere Feststellungen nicht uneingeschränkt; diese sind nämlich nicht auf der Grundlage einer validen Quelle getroffen worden.

Das Verwaltungsgericht hat diese Feststellungen u. a. auf den Jahresbericht des Bulgarien-Helsinki-Komitees vom 31. Januar 2017 gestützt, in dem ausgeführt worden ist, im Jahr 2016 seien unter der Dublin III-VO zurückgesandte Asylbewerber in das Verfahren aufgenommen worden, ihre Verfahren seien ohne besondere Behinderungen oder ernsthafte Verspätungen wiederaufgenommen worden.

Vgl. VG Potsdam, Beschluss vom 6. Juli 2017 - 1 L 326/17.A -, juris, Rn. 24, unter Bezugnahme auf Bulgarien Helsinki Committee, 2016, Annual Report on Status Determination Procedure in Bulgaria vom 31. Januar 2017, S. 16.

Frau Dr. J. weist in ihrem vom Senat eingeholten Gutachten darauf hin, dass in dem Bericht des Bulgarien-Helsinki-Komitees insbesondere keine Informationsquelle für die darin getroffenen Feststellungen benannt worden seien, Asylverfahren seien ohne besondere Behinderungen oder ernsthafte Verspätungen wiederaufgenommen worden. Ihre offizielle Anfrage bei der SAR habe vielmehr ergeben, dass in Bulgarien zwar eine Statistik betreffend die Anzahl der Aufnahmen von Personen geführt werde, die Zugang zum bulgarischen Territorium erhalten hätten, so seien im Kalenderjahr 2016 54 und in der Zeit vom 1. Januar 2017 bis zum 31. Januar 2017 49 Personen aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in die Republik Bulgarien auf der Grundlage des § 18 Abs. 1 c Dublin III-VO aufgenommen worden. Diese Statistik verhalte sich aber nicht zu der Anzahl der Personen, die zu ihrem Ursprungsverfahren auf Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz zugelassen worden seien; diese Zahl werde statistisch nicht erfasst.

Vgl. Rechtsgutachten von Frau Dr. J. für das erkennende Gericht vom 17. Juli 2017, S. 3 f.

(2) Hinzu tritt, dass die Dauer der Abwesenheit Einfluss auf die Frage haben kann, ob der Dublin-Rückkehrer sein ursprüngliches Verfahren fortsetzen oder wiederaufnehmen kann. § 14 LAR sieht die Einstellung des Asylverfahrens vor, wenn der Asylsuchende nach einer förmlichen Aufforderung von zehn Werktagen nicht zu einem Interview erscheint oder seine Anschrift ändert, ohne die SAR zu informieren. Das Verfahren wird nach § 15 Abs. 7 LAR beendet, wenn der Asylsuchende nicht innerhalb von drei Monaten nach der Einstellung des Verfahrens nach § 14 LAR vor dem zuständigen Beamten der SAR erscheint, um Beweismittel vorzulegen, dass er objektive Gründe für die Änderung der Wohnanschrift hatte oder objektive Hindernisse für sein Nichterscheinen bestanden oder die Mitwirkung des zuständigen Beamten fehlte. Bescheide über die Beendigung des Verfahrens nach dieser Vorschrift können auch in Abwesenheit des Betreffenden als zugestellt angesehen werden. In diesem Fall kann die 14tägige Frist für die gerichtliche Anfechtung der Entscheidung abgelaufen und das Anfechtungsrecht präkludiert sein.

Vgl. Rechtsgutachten von Frau Dr. J. für das erkennende Gericht vom 17. Juli 2017, S. 9; Rechtsgutachten von Frau Dr. J. an das VG Göttingen vom 29. Juli 2016, Punkt II. 2.

§ 77 Abs. 4 LAR enthält eine sechsmonatige Frist für die Wiederaufnahme des Verfahrens, wobei die Frist mit dem Beenden des Verfahrens zu laufen beginnt. In ihrem Rechtsgutachten weist Frau Dr. J. darauf hin, aufgrund der noch raren Rechtsprechung über die Anwendung der Vorschrift, sei es noch nicht absehbar, ob diese Sechsmonatsfrist dahingehend ausgelegt werde, dass sie auch in Fällen einer Wiederaufnahme nach der Dublin-VO angewendet werde. Außerdem könne auch hier der Umstand von Bedeutung sein, ob der Asylsuchende in Bulgarien vor oder nach dem 22. Dezember 2015 einen Asylantrag gestellt habe.

Vgl. Rechtsgutachten von Frau Dr. J. für das erkennende Gericht vom 17. Juli 2017, S. 10.

(3) Mit Blick auf die oben bereits zitierte Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichts der Republik Bulgarien vom 3. Mai 2017 - 8092/2017 - ist zudem davon auszugehen, dass etwa Einstellungen nach § 14 LAR durch die SAR rechtswidrig erfolgen und einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten würden. Dort hat das Gericht u. a. ausgeführt, es fehlten in dem Fall des betroffenen Schutzsuchenden jedwede Angaben hinsichtlich einer erfolgten Zustellung der Aufforderung zur Durchführung eines Interviews mit der Folge, dass aus seinem Nichterscheinen zum Interview keine negativen Schlussfolgerungen gezogen werden könnten. Mangels entsprechender Informationen über seine Rechte wird der von einer solchen rechtswidrig erfolgten Einstellung seines Verfahrens Betroffene aber im Falle seiner Rückkehr in der Regel keine Kenntnis erlangen und deshalb auch keine gerichtliche Klärung zu seinen Gunsten herbeiführen können.

(4) Darüber hinaus haben Dublin-Rückkehrer, deren ursprüngliches Verfahren wegen der langen Abwesenheit aus Bulgarien - wie beim Kläger - (rechtswidrig) eingestellt worden ist, keinen Anspruch mehr auf Unterbringung, Nahrung, Sozialleistungen, Krankenversicherung und kostenlose medizinische Versorgung. Dies ist vor allem der Fall, wenn das ursprüngliche Asylverfahren nach einer dreimonatigen Aussetzung eingestellt wird; Aufnahmebedingungen einschließlich der Unterbringung gelten nur für die Zeit des Asylverfahrens.

Vgl. Rechtsgutachten von Frau Dr. J. an VG Göttingen vom 29. Juli 2016 mit Ergänzung vom 5. Oktober 2016, S 3.

Bulgarien hat sich zur Wiederaufnahme des Klägers auf der Grundlage des Art. 18 Abs. 1 c Dublin III-VO bereit erklärt; mithin ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass das Verfahren des Klägers (ausgesetzt und sodann) eingestellt worden ist und er den oben bereits aufgezeigten Schwierigkeiten beim Zugang zum Asylverfahren mit der Folge ausgesetzt ist, dass er auch keinen Anspruch auf Unterbringung und Versorgung in einer Aufnahmeeinrichtung hat.

bb. Angesichts der zuvor getroffenen Feststellungen kann offenbleiben, ob der Kläger zu einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe gehört. Für Dublin-Rückkehrer, die zu diesem Personenkreis zu zählen sind, dürften sich die oben aufgezeigten Schwierigkeiten allerdings noch verschärfen.

Die Identifikation von schutzbedürftigen Personen, die zu einer gefährdeten Gruppe gehören, ist in der Praxis in Bulgarien schwer durchführbar. Es fehlt ein systematisch angewandter Mechanismus für die frühzeitige Erkennung und Verweisung von schutzbedürftigen Personen in allen Stadien der Verfahren. Das Problem vertieft sich, wenn es sich um die Rückkehr einer Person nach Bulgarien handelt, die bereits in Bulgarien angemeldet war und deshalb die Möglichkeit besteht, dass kein erneutes medizinisches Screening über die Zugehörigkeit zu einer schutzbedürftigen Gruppe durchgeführt wird.

Vgl. Rechtsgutachten von Frau Dr. J. für das erkennende Gericht vom 17. Juli 2017, S. 10, unter Bezugnahme auf die Niederlassung des UNHCR in Bulgarien, Untersuchung über die Bedürfnisse der Asylsuchenden und Asylanten, die internationalen Schutz beanspruchen, nach Alter, Geschlecht und Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe für das Jahr 2016, Mai 2017.

Im Jahresbericht der SAR für das Jahr 2016 heißt es, es mangele an Psychologen; psychologische Hilfe werde von Nichtregierungsorganisationen gewährt. Im Jahr 2017 sollten weitere spezialisierte Mitarbeiter angestellt werden. Die Recherchen der Gutachterin ergaben (noch) keine Umsetzung dieses Vorhabens.

Vgl. Rechtsgutachten von Frau Dr. J. für das erkennende Gericht vom 17. Juli 2017, S. 11, unter Bezugnahme auf den Bericht der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge bei dem Ministerrat für das Jahr 2016, S. 11.

Insoweit verschärft sich die Situation für schutzbedürftige Dublin-Rückkehrer. Nach den obigen Ausführungen besteht keine Rechtssicherheit, ob ein Rückkehrer sein ursprüngliches Verfahren fortsetzen oder wiederaufnehmen kann und ob ihm eine ausreichende Beschwerdemöglichkeit gegen ablehnende Entscheidungen offensteht. Es ist deshalb nicht nur erforderlich, dass die betreffende Person sehr gut über ihre Rechte informiert ist, sondern auch - woran es schutzbedürftigen Personen fehlt - über Kapazitäten verfügt und in der Lage ist, ihre Rechte (gerichtlich) durchzusetzen.

Vgl. Rechtsgutachten von Frau Dr. J. für das erkennende Gericht vom 17. Juli 2017, S. 11

Ob der Kläger wegen des im Klageverfahren vorgelegten Kurzberichts des Universitätsklinikums Bochum vom 22. November 2016 bereits zu einem besonders schutzbedürftigen Personenkreis zu zählen ist, bedarf in diesem Verfahren keiner weiteren Klärung. Denn die Bundesrepublik Deutschland ist angesichts der oben getroffenen Feststellungen schon deshalb gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig geworden, weil der Kläger, der vor dem 22. Dezember 2015 einen Asylantrag in Bulgarien gestellt hat, im Falle seiner Rückkehr dorthin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit hinsichtlich des Zugangs zum dortigen Asylverfahren auf kaum zu überwindende Hindernisse stößt.

4. Mit Blick auf die oben aufgeführten Feststellungen kann auch offenbleiben, ob zum aktuellen oder zum Zeitpunkt der Asylantragstellung des Klägers in Bulgarien Defizite in bulgarischen Aufnahmeeinrichtungen bestehen oder bestanden haben.

Vgl. solche Defizite verneinend: OVG NRW, Urteil vom 19. Mai 2017 - 11 A 52/17.A -, juris, Rn. 67 ff.

B. Die Feststellung in Ziffer 2. des angefochtenen Bescheids, Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG betreffend Bulgarien lägen nicht vor, ist rechtswidrig. Nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist in Entscheidungen über unzulässige Asylanträge festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 des AufenthG vorliegen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind nicht erfüllt. Der Asylantrag des Klägers ist nach den unter A. getroffenen Feststellungen nicht unzulässig.

C. Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. des angefochtenen Bescheids ist ebenfalls rechtswidrig. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die Abschiebung nach Bulgarien ist nicht durchführbar; Bulgarien ist nach den unter A. getroffenen Feststellungen nicht mehr zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers.

D. Auch die auf § 11 AufenthG gestützte Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 4. des angefochtenen Bescheids ist rechtswidrig. Gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, weder erneut in das Bundesgebiet einreisen, noch sich darin aufhalten, noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden (Einreise- und Aufenthaltsverbot). Die Voraussetzungen des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots liegen mit Blick auf die unter A. und B. getroffenen Feststellungen nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

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