BGH, Urteil vom 23.11.2016 - 2 StR 108/16
Fundstelle
openJur 2018, 1423
  • Rkr:
Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 2. November 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Den Vollzug der Maßregel hat es zur Bewährung ausgesetzt. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.

1. Nach den Feststellungen begab sich der Angeklagte in den Abendstunden des 1. Juni 2013 in die Innenstadt von D. . Im Laufe des Abends nahm er eine nicht näher bestimmbare Menge alkoholischer Getränke zu sich.

Gegen 23.35 Uhr näherte sich der ziellos umherirrende, aufgebrachte und erheblich alkoholisierte Angeklagte (Tatzeit-BAK 2,94 Promille) dem zu diesem Zeitpunkt stark frequentierten Außenbereich eines Bistro und schrie laut herum ("Ihr Schweine, ihr habt meine Kinder gefickt"). Sodann wandte er sich ohne erkennbaren Anlass dem an einem Bistrotisch sitzenden - ihm bis dato unbekannten - Gast L. zu und trat gegen die Lehne des Stuhls, auf dem der Geschädigte saß, wodurch dieser Schmerzen erlitt. Nachdem L. aufgestanden war und den Angeklagten aufgefordert hatte, sich zu ent- fernen, schrie dieser zunächst unverständliche Sätze. Sodann ging der Angeklagte einige Meter weiter, ergriff unvermittelt einen Stuhl aus Metall und schleuderte diesen ziellos durch die Luft; er traf den ihm unbekannten und unbeteiligten Gast K. im Gesicht, der dadurch eine Augapfelprellung und wei- tere Verletzungen im Gesicht erlitt; diese Verletzungen nahm der Angeklagte zumindest billigend in Kauf.

Als der Angeklagte bemerkte, dass er K. getroffen hatte, entfernte er sich zügigen Schrittes. Er wurde kurze Zeit später in der Nähe des Tatorts festgenommen. Hierbei zeigte er sich zunächst kooperativ und händigte seinen Personalausweis aus. Als die Polizeibeamten aufgrund der vorherigen Geschehnisse die dann durchzuführenden Standardmaßnahmen ankündigten, schlug das Verhalten des Angeklagten schlagartig um. Er warf sich zu Boden, klagte laut weinend über seine Familiensituation, sprang plötzlich auf, beschimpfte und beleidigte die Polizeibeamten. Daraufhin brachten diese den Angeklagten zu Boden und fixierten ihn unter Mithilfe von zwei weiteren zur Unterstützung angeforderten Beamten. Derweil wand sich der Angeklagte weiter unentwegt und schrie lautstark, wobei er die Beleidigungen und Beschimpfungen fortsetzte. Sodann verbrachten die Beamten den Angeklagten zum Polizeipräsidium S. , wo er sich zunächst beruhigte. Nach erfolgter Blutentnahme und Verbringung in eine Zelle erhielt das Verhalten des Angeklagten erneut einen aggressiven Schub, was sich in 15-minütigen, dabei pausenlosem und äu-

ßerst impulsivem Hämmern und Stoßen mit der Schulter gegen die Zellentür äußerte.

Nach Überzeugung des Landgerichts war der Angeklagte zum Zeitpunkt der Geschehnisse strafrechtlich nicht verantwortlich, da seine Fähigkeit, nach seiner Unrechtseinsicht zu handeln, zu den Tatzeitpunkten aufgrund einer unbehandelten bipolaren affektiven Störung und einer akuten Alkoholintoxikation nicht ausschließbar aufgehoben gewesen sei.

2. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus als außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Angeklagten darstellt, darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass die unterzubringende Person bei Begehung der Anlasstaten aufgrund einer nicht nur vorübergehenden psychischen Störung schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Begehung der Taten auf diesem Zustand beruht (BGH, Beschluss vom 26. September 2012 - 4 StR 348/12; Senat, Beschluss vom 26. März 2015 - 2 StR 37/15). Dabei muss vom Tatgericht im Einzelnen dargelegt werden, wie sich die festgestellte, einem Merkmal von §§ 20, 21 StGB unterfallende Erkrankung in der jeweiligen Tatsituation auf die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die Anlasstaten auf den entsprechenden psychischen Zustand zurückzuführen sind (BGH jeweils aaO, siehe auch Senat, Beschluss vom 29. Mai 2012 - 2 StR 139/12, NStZ-RR 2012, 306, 307). Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht.

a) Soweit die Strafkammer im Anschluss an den Sachverständigen davon ausgeht, dass der Angeklagte an einer unbehandelten manischdepressiven Störung (bipolare Störung/Affektstörung) und einer Alkoholabhängigkeit leidet und die Affektstörung leitführend sei, werden die diese Bewertung tragenden Anknüpfungs- und Befundtatsachen nicht in ausreichendem Umfang wiedergegeben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. September 2010 - 5 StR 229/10, vom 30. Juli 2013 - 4 StR 275/13, NStZ 2014, 36, 37). Das Landgericht beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die Krankheitsgeschichte des Angeklagten und das Ergebnis der gutachterlichen Einschätzung mitzuteilen, ohne jedoch zu erörtern, worauf diese im Einzelnen beruht. Den insoweit knappen, formelhaft gefassten Urteilsgründen lassen sich weder hinreichend die die gutachterliche Diagnostik tragenden Befunde noch die Symptome des Störungsbildes oder deren Einwirkung auf den Angeklagten in der konkreten Tatsituation entnehmen. Die entsprechende Darlegung war schon deshalb geboten, weil der Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen bereits seit Februar 2012 ambulant psychiatrisch behandelt wurde, die Diagnose einer bipolaren affektiven Störung, einer Verhaltensstörung durch Alkohol und eines Abhängigkeitssyndroms aber erstmalig im Rahmen einer stationären Behandlung zwischen dem 18. September und 24. Oktober 2013 - also drei Monate nach den Taten - gestellt wurde und er seither nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Nicht nachvollziehbar dargelegt ist auch die Einschätzung des Sachverständigen, dass zwar von einer wechselseitigen Beeinflussung der beiden Krankheitsbilder des Angeklagten auszugehen sei, die Affektstörung gegenüber der Alkoholabhängigkeit des Angeklagten aber leitführend sei.

b) Dass die Strafkammer darüber hinaus nach einer Gesamtschau aller Umstände davon ausgegangen ist, dass sich die vollständige Aufhebung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten "nicht ausschließen" lässt (UA S. 11), besagt noch nicht, dass für die Anordnung der Unterbringung die Voraussetzungen zumindest des § 21 StGB zum Zeitpunkt der Anlasstat zweifelsfrei festgestellt sind.

c) Die Begründung des Landgerichts für die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus begegnet auch in einem weiteren Punkt durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Nach den in den Urteilsgründen referierten Ausführungen des Sachverständigen liegt es nahe, dass erst das Zusammenwirken der diagnostizierten Affektstörung mit der beim Angeklagten ebenfalls bestehenden akuten Alkoholintoxikation "nicht ausschließbar" zu einer vollständigen Aufhebung der Steuerungsfähigkeit geführt hat. Dass das Landgericht hierüber ohne Erörterung hinweggeht, lässt besorgen, dass es die besonderen Voraussetzungen für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bei gleichzeitigem Vorliegen einer psychischen Störung und einer Suchterkrankung nicht bedacht und deshalb die in einem solchen Fall auch in Betracht kommende Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) von der Strafkammer überhaupt nicht in den Blick genommen hat.

d) Schließlich ist auch die Gefahrenprognose nicht tragfähig begründet. Die Unterbringung als außerordentlich beschwerende Maßnahme darf nur angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, dass der Täter infolge seines Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird (Senat, Beschluss vom 2. September 2015 - 2 StR 239/15). Bei der insofern vorzunehmenden Gesamtwürdigung des Täters und der Symptomtat sind etwaige Vortaten von besonderer Bedeutung (BGH, Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306, 307). Als gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten ist anzusehen, dass ein Täter trotz bestehenden Defekts über Jahre hinweg keine erheblichen Straftaten begangen hat (Senat, Urteil vom 10. Dezember 2014 - 2 StR 170/14, NStZ-RR 2015, 72, 73). Der Umstand, dass die letzte Verurteilung des Angeklagten vom September 2011 datiert, hätte daher im Rahmen der individuellen Gefährlichkeitsprognose Berücksichtigung finden müssen; das bloße Abstellen auf das statistische Rückfallrisiko bei Unterbleiben einer Behandlung genügt nicht.

3. Im Hinblick auf § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO war der Senat durch den Umstand, dass allein der Angeklagte Revision eingelegt hat, nicht gehindert, den Freispruch aufzuheben.

Appl Krehl Zeng Bartel Grube