BGH, Urteil vom 13.07.2004 - VI ZR 273/03
Fundstelle
openJur 2012, 56636
  • Rkr:
Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 4. August 2003 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen.

Tatbestand

Der Kläger, ein örtlicher Sozialhilfeträger, verlangt von den Beklagten aus übergeleitetem Recht Schadensersatz für Aufwendungen, die er seit März 1987 im Wege der Eingliederungshilfe für Behinderte gemäß §§ 39 ff. BSHG für den am 12. Dezember 1982 geborenen, an Trisomie 21 leidenden Marcus H., geb. B., bis zu dessen Volljährigkeit erbracht hat.

Durch rechtskräftiges Urteil des OLG Hamm vom 22. April 1991 (Az.: 3 U 129/85 -Leistsatz veröff. in VersR 1992, 876) wurde festgestellt, daß die Beklagten verpflichtet sind, Frau B., der Mutter des Marcus H., wegen ärztlicher Falschbehandlung während der Schwangerschaft allen erforderlichen Unterhaltsaufwand für ihren Sohn zu ersetzen. Frau B. lehnte nach der Geburt die Aufnahme ihres Sohnes in ihren Haushalt ab. Da der Vater von Marcus H. unbekannt ist, wurde dieser zunächst bei Pflegeeltern untergebracht. Frau B. ist seit 1984 nicht mehr erwerbstätig und bezieht inzwischen Erwerbsunfähigkeitsrente. Am 9. Januar 1997 gab sie die Eidesstattliche Versicherung ab.

Der Kläger trägt seit März 1987 für Marcus H. die Kosten für die Eingliederungshilfe für Behinderte. Mit Schreiben vom 13. Juli 1995 und 10. Januar 2000 leitete er die Frau B. aus dem Urteil des OLG Hamm zustehenden Ansprüche mit Wirkung ab dem 1. März 1987 auf sich über. Dagegen legten die Beklagten keine Rechtsbehelfe ein, verweigerten aber die Zahlung.

Der Kläger verlangt mit der am 13. Februar 2001 eingereichten Klage Ersatz seiner bezifferten Aufwendungen von März 1987 bis 31. Mai 2000 sowie die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für die Aufwendungen in der Zeit vom 1. Juni 2000 bis zum 12. Dezember 2000. Das Landgericht hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht den Feststellungsausspruch aufrechterhalten und im übrigen das erstinstanzliche Urteil wegen teilweiser Verjährung der Klageforderung dahingehend abgeändert, daß Ersatz der Aufwendungen lediglich vom 1. Januar 1997 bis zum 31. Mai 2000 zu leisten sei.

Das Oberlandesgericht hat die Revision für die Beklagten zur Fortbildung des Rechts zugelassen. Mit ihrem Rechtsmittel verfolgen die Beklagten ihren Antrag auf Klageabweisung in vollem Umfang weiter.

Gründe

I.

Das Berufungsgericht hat die Aktivlegitimation des Klägers bejaht, da er die Frau B. zustehenden Schadensersatzansprüche gegen die Beklagten nach § 90 Abs. 1 BSHG wirksam auf sich übergeleitet habe. Ein Vorrang des § 116 SGB X in Verbindung mit § 90 Abs. 4 Satz 2 BSHG bestehe schon deshalb nicht, weil gemäß § 120 Abs. 1 SGB X die Vorschrift des § 116 SGB X erst ab dem 1. Juli 1983 wirksam geworden sei und sowohl zum Zeitpunkt des Behandlungsfehlers im August 1982 als auch der Geburt am 12. Dezember 1982 noch die Vorschriften der RVO galten. Es sei nicht Zweck des § 90 Abs. 4 Nr. 2 BSHG, den Sozialhilfeträger durch Anwendung sozialversicherungsrechtlicher Vorschriften schlechter zu stellen, als er bei Anwendbarkeit des § 90 Abs. 1 BSHG stünde. Durch den Verweis auf § 116 SGB X sei lediglich eine Erleichterung für den Sozialhilfeträger geschaffen worden, wonach in den Fällen, in denen bereits § 116 SGB X einen Rechtsübergang vorsehe, die Notwendigkeit einer Überleitungsanzeige entfalle.

Dem Anspruchsübergang stehe entgegen der Auffassung der Beklagten nicht das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg vom 12. Dezember 2000 (VersR 2001, 341; rechtskräftig nach Nichtannahme der Revision durch Beschluß des erkennenden Senats vom 6. November 2001 -VI ZR 38/01 -VersR 2002, 192) entgegen. Diesem Urteil liege zugrunde, daß der klagende Sozialversicherungsträger vertragsärztliche Leistungen auf einen eigenen Anspruch des geschädigten Kindes nach § 10 Abs. 5 SGB V erbracht und deshalb insoweit keine die Unterhaltspflicht der Eltern auslösende Bedürftigkeit bestanden habe. Deshalb sei in jenem Fall trotz der Leistung des Sozialversicherungsträgers mangels Kongruenz der Schadensersatzanspruch der Eltern gegen den haftenden Arzt nicht nach § 116 Abs. 1 SGB X auf den Sozialversicherungsträger übergegangen.

Im vorliegenden Fall habe der minderjährige und unverheiratete Marcus H. jedenfalls gemäß § 29 BSHG einen Anspruch auf Gewährung von Hilfe. Nach § 29 S. 2 BSHG stehe dem Kläger ein entsprechender Aufwendungsersatzanspruch zu, der die Überleitung der Ansprüche gemäß § 90 Abs. 1 Satz 3 BSHG rechtfertige. Die Frage einer gegenüber der Leistung der Sozialhilfe vorrangigen Inanspruchnahme der Eltern könne deshalb letztlich offen bleiben. Ernsthafte Zweifel an der fehlenden Leistungsfähigkeit der Mutter bestünden nicht. Da der Vater unbekannt sei, sei auch von dessen mangelnder Leistungsfähigkeit auszugehen. Dem Kläger seien Ermittlungen hinsichtlich der Person, des Aufenthalts und der Einkommenssituation des leiblichen Vaters des Marcus H. nicht zumutbar, da der Sozialhilfeträger sonst gehindert wäre, wegen eines möglicherweise bestehenden, aber nicht realisierbaren Ersatzanspruches den Unterhaltsregreßschuldner in Anspruch zu nehmen. Die übergeleiteten Ansprüche des Klägers hinsichtlich der bis Ende 1996 erbrachten Aufwendungen seien allerdings verjährt, so daß lediglich, dem Klageantrag entsprechend, die vom 1. Januar 1997 bis zum 31. Mai 2000 angefallenen Aufwendungen abzüglich der vom Kläger bereits berücksichtigten Einnahmen zu ersetzen seien und die weitere Ersatzpflicht bis zur Volljährigkeit festzustellen sei.

II.

1. Die Revision ist zulässig, soweit sie sich gegen den Anspruchsgrund für die Haftung der Beklagten wendet. Im übrigen ist sie mangels einer Zulassung unstatthaft und damit unzulässig (§ 543 Abs. 1 ZPO).

Das Berufungsgericht hat im Tenor des angefochtenen Urteils die Revision zwar ohne Beschränkung zugelassen. Doch kann sich eine Beschränkung auch aus den Urteilsgründen ergeben (st. Rspr. vgl. Senatsurteil vom 9. Januar 2001 -VI ZR 407/99 -VersR 2001, 902; BGH, Urteile vom 5. Februar 1998 -III ZR 103/97 -VersR 1999, 123, 124, insoweit nicht in BGHZ 138, 67; vom 9. März 2000 -III ZR 356/98 -VersR 2000, 856, 857 und vom 12. November 2003 -XII ZR 109/01 -FamRZ 2004, 612 jeweils m.w.N.). Im Streitfall begründet das Berufungsgericht die Zulassung der Revision damit, daß die Klärung der Frage, ob der Schadensersatzanspruch von Eltern, gerichtet auf die Freistellung von Unterhaltslasten für ihr Kind, von einem Sozialhilfeträger im Wege des Rechtsübergangs gegen den Schädiger geltend gemacht werden könne, der Fortbildung des Rechts diene. Insofern solle den Beklagten die Möglichkeit gegeben werden, die Übertragbarkeit der in dem Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg vom 12. Dezember 2000 (VersR, aaO; rechtskräftig durch Nichtannahme der Revision durch den Senat am 6. November 2001 -VI ZR 38/01 -VersR 2002, 192) aufgestellten Grundsätze auf die vorliegende Fallkonstellation überprüfen zu lassen. Diese Formulierung beschränkt die Revisionszulassung zwar in unzulässiger Weise auf eine bestimmte Rechtsfrage (vgl. BGH, Urteil vom 7. Juli 1983 -III ZR 119/82 -VersR 1984, 38; Beschluß vom 17. Dezember 1980 -IVb ZB 499/80 -FamRZ 1981, 340). Doch kann im vorliegenden Fall die Zulassung in eine Beschränkung der Revision auf den Anspruchsgrund als einen selbständig anfechtbaren Teil des Streitgegenstandes, auf den auch der Revisionskläger selbst seine Revision beschränken könnte, umgedeutet werden (vgl. Senatsurteil BGHZ 76, 397, 398; BGHZ 48, 134; 53, 152, 155; BGH, Urteile vom 10. Januar 1979 -IV ZR 76/78 -NJW 1979, 767; vom 30. September 1980 -VI ZR 213/79 -VersR 1981, 57, 58; vom 26. November 1981 -III ZR 123/80 -VersR 1982, 242; vom 30. September 1982 -III ZR 110/81 VersR 1982, 1196). Betrifft die Zulassung der Revision aber nur den Anspruchsgrund, ist die Revision im übrigen als unzulässig zurückzuweisen.

2. Im Umfang der Zulassung ist die Revision unbegründet.

a) Das Berufungsgericht vertritt die zutreffende Auffassung, daß der Kläger die Schadensersatzansprüche der Mutter gegen die Beklagten nach § 90 Abs. 1 BSHG a.F. auf sich übergeleitet hat. Hingegen wirft -entgegen der Meinung der Revision -der Fall nicht die Frage auf, ob der gesetzliche Übergang der Schadensersatzansprüche auf den Kläger wegen fehlender Kongruenz der erbrachten Leistungen nach § 90 Abs. 4 Satz 2 BSHG i.V.m. § 116 Abs. 1 SGB X ausgeschlossen war. Nach der Stichtagsregelung in Art. II § 22 des Gesetzes vom 4. November 1982 (BGBl. I, 1450) ist im Streitfall § 90 BSHG a.F. und nicht § 116 SGB X anzuwenden. Darauf weist die Revisionserwiderung mit Recht hin. Denn für Schadensfälle vor dem 1. Juli 1983 gilt das bisherige Recht weiter (vgl. Senatsurteil BGHZ 132, 39, 45 f.). Da die Unterhaltsansprüche des Marcus H. gegen seine Mutter dem Grunde nach mit der Geburt des Kindes entstanden sind, wurden die Beklagten zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich ersatzpflichtig. Für die Frage des anzuwendenden Rechts ist damit auf den 12. Dezember 1982 mit der Folge abzustellen, daß sich die Anspruchsberechtigung des Klägers nach dem zu diesem Zeitpunkt geltenden "bisherigen" Recht richtet. Der Zeitpunkt der Abwicklung des Regresses hingegen ist ebenso wenig maßgeblich für die Frage, ob § 90 BSHG a.F. noch Anwendung findet, wie der der Erbringung der Sozialleistungen. Nur dieses Verständnis der Übergangsvorschrift wird dem der Stichtagsregelung immanenten Ziel gerecht, auf einen einheitlichen Lebenssachverhalt insgesamt entweder altes oder neues Recht anzuwenden (vgl. Senatsurteil BGHZ 132, aaO).

b) Nach § 90 des Bundessozialhilfegesetzes vom 30. Juni 1960 (BGBl. I, 815), zuletzt geändert durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes vom 25. März 1974 (BGBl. I, 777), können auch zu den Leistungen der Sozialhilfe nicht kongruente Ansprüche der Unterhaltspflichtigen des Hilfeempfängers gegen einen anderen bis zur Höhe der Aufwendungen übergeleitet werden. Die Überleitung dient nämlich dazu, den in § 2 BSHG normierten Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe nachträglich für den Fall zu verwirklichen, daß der Hilfebedürftige nicht durch die rechtzeitige Geltendmachung eines Anspruchs alsbald eine vorhandene Notlage beseitigen kann (vgl. Senatsurteile BGHZ 115, 228, 230; 131, 274, 281; BVerwGE 34, 219, 221; 41, 216, 220; 67, 163, 166). Entsprechend dem Prinzip des Nachrangs der Sozialhilfe -wonach keine Sozialhilfe erhält, wer sich selbst helfen kann -können auch solche Ansprüche auf den Sozialhilfeträger übergeleitet werden, die dem Unterhaltspflichtigen des Hilfeberechtigten gegen Dritte zustehen und die damit geeignet sind, den Unterhaltsbedarf mit Vorrang vor der Sozialhilfe zu befriedigen.

aa) Erfolglos macht deshalb die Revision unter Berufung auf das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg vom 12. Dezember 2000 (1 U 72/00 -VersR aaO) geltend, Marcus H. habe aus eigenem Recht (§§ 4 Abs. 1, 27 Abs. 1 Nr. 3, 40 Abs. 1 BSHG) einen Anspruch auf Sozialhilfe, der zu dem Schadensersatzanspruch der Mutter des Jungen gegen die Beklagten nicht kongruent sei. Zwar hat Marcus H. grundsätzlich einen eigenen Anspruch auf Leistungen des Klägers. Doch ist Anspruchsvoraussetzung, daß Marcus H. bedürftig ist. Hingegen spielte im Fall des Oberlandesgerichts Naumburg für den Anspruch nach § 10 SGB V des familienversicherten Kindes gegen den Sozialversicherungsträger die Bedürftigkeit keine Rolle. Hinzu kommt, daß der Anspruch auf Ersatz des krankheitsbedingten Unterhaltsbedarfs gegen die Schädigerin allenfalls nach § 116 SGB X auf den Träger der Krankenversicherung übergehen konnte. § 116 SGB X setzt aber anders als § 90 Abs. 1 BSHG a.F. die Identität von Hilfeempfänger und Anspruchsinhaber voraus. Da das behindert geborene Kind aus dem Unterbleiben des Schwangerschaftsabbruchs durch die Mutter jedoch keinen eigenen Anspruch gegen den Arzt oder den Krankenhausträger hat (vgl. Senatsurteil BGHZ 86, 240, 250), schied in jenem Fall ein Forderungsübergang auf den Träger der Krankenversicherung schon im Ansatz aus.

bb) Im übrigen bestehen gegen die Rechtmäßigkeit der Überleitungsanzeige keine Bedenken. Sie wird auch von der Revision nicht in Zweifel gezogen. Als belastender Verwaltungsakt ist sie -abgesehen von dem hier nicht vorliegenden Fall der Nichtigkeit -für die Zivilgerichte bindend, solange sie nicht durch die zuständige Behörde oder durch verwaltungsgerichtliche Entscheidung aufgehoben worden ist (vgl. BGH, Urteil vom 29. März 1985 -V ZR 107/84 -FamRZ 1985, 778 m.w.N.; Mergler/Zink, BSHG, 4. Aufl., § 90 Rn. 68 m.w.N.). Sie hatte zur Folge, daß der Kläger mit unmittelbarer Wirkung die Rechtsstellung der Mutter als der ursprünglichen Anspruchsinhaberin erlangte. Der Kläger ist mithin forderungsberechtigter Gläubiger, wenn und soweit der übergeleitete Anspruch gegen die Beklagten besteht.

cc) Erfolglos bleibt auch der Einwand der Revision, der Ersatzanspruch der Mutter gegen die Beklagten belaufe sich auf "Null", weil die Mutter nicht leistungsfähig und daher dem Kind gegenüber gemäß § 1603 Abs. 1 BGB von Unterhaltsansprüchen frei gewesen sei.

Die Haftung für eine Belastung mit Unterhaltsansprüchen in Fällen der vorliegenden Art besteht nach den vom erkennenden Senat aufgestellten Grundsätzen unabhängig von der jeweiligen Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners (vgl. Senatsurteile BGHZ 76, 259, 266 f.; 86, 241, 247 f.; 89, 95, 104 f.; 124, 128, 142 ff.; 151, 133, 146).

Im übrigen wird der Schädiger nach dem in § 843 Abs. 4 BGB zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsgedanken (vgl. Senatsurteil BGHZ 54, 269, 274; BGHZ 21, 112, 116; 22, 72, 74) nicht schon deshalb von seiner Schadensersatzpflicht frei, weil dritte Personen oder die Gemeinschaft dafür Sorge tragen, daß sich die Beeinträchtigung für den Betroffenen nicht nachteilig auswirkt.

Der rechtskräftig festgestellte Anspruch der Mutter des Marcus H. gegen die Beklagten besteht deshalb unabhängig davon, ob die Mutter selbst in der Lage gewesen wäre, Unterhalt zu leisten. Der Schaden entsteht vielmehr im Außenverhältnis aufgrund der mit der Geburt des Kindes entstehenden gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung der Mutter, soweit das Kind bedürftig ist. Er kann durch den Bedarf des Kindes, nicht aber aufgrund eines Wechsels in der Vermögensund Einkommenssituation des Unterhaltsschuldners verändert werden. Die Einkommensund Vermögenslosigkeit des Geschädigten spielt für die Haftung auf Schadensersatz keine Rolle. Dabei handelt es sich um persönliche Lebensumstände des Geschädigten, die den Schädiger weder belasten noch ihm zugute kommen können.

Darüberhinaus wäre die Mutter jedenfalls in Höhe des Unterhaltsbedarfs ihres Kindes unabhängig von ihren eigenen Einkünften leistungsfähig gewesen, da sich bis zur Überleitung auf den Kläger der valide Schadensersatzanspruch gegen die Beklagten in ihrem Vermögen befand.

Müller Wellner Diederichsen Stöhr Zoll