OLG Schleswig, Beschluss vom 12.06.2009 - 16 W 65/09
Fundstelle
openJur 2011, 92801
  • Rkr:
Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin vom 25. Mai 2009 wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Itzehoe vom 24. April 2009 aufgehoben.

Die Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens zu folgenden Fragen wird angeordnet:

Ist es zutreffend,

1. dass das Paravasat zustande gekommen ist, da bei der Injektion das Blutgefäß verfehlt wurde und somit das Zellgift in das umliegende Gewebe injiziert wurde?

2. dass die diagnostizierte Schädigung der Antragstellerin durch einen frühzeitigen Abbruch der Chemotherapie und Einleitung entsprechender Maßnahmen geringer ausgefallen wäre?

3. dass die Injektion hätte abgebrochen werden müssen, nachdem die Antragstellerin über starke Schmerzen klagte?

4. dass eine Schädigung des Ramus superficialis nervi radialis aufgrund der Operationen vorliegt?

Die Auswahl eines geeigneten Sachverständigen und die Vorschussanordnung werden dem Landgericht übertragen.

Gründe

Die zulässige sofortige Beschwerde der Antragstellerin hat in der Sache auch Erfolg. Entgegen der Auffassung des Landgerichts liegen die Voraussetzungen für eine Beweissicherung nach den §§ 485 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO vor.

Der Senat folgt der wohl überwiegenden Ansicht in Literatur und Rechtsprechung, dass selbständige Beweisverfahren in Arzthaftungssachen keinen Sonderregeln unterliegen. Die teilweise vertretene Gegenansicht vermag schon deshalb nicht zu überzeugen, weil sie in das selbständige Beweisverfahren Erwägungen zur Schlüssigkeit und mutmaßlichen Entwicklung eines späteren Hauptsacheprozesses einführt, die im selbständigen Beweisverfahren seit jeher außer Betracht zu bleiben haben. Jeder Antragsteller nach § 485 ZPO läuft Gefahr, dass das von ihm erwirkte Gutachten in einem späteren Prozess nicht ausreicht oder sich gar als unerheblich erweist. Das hat der Gesetzgeber in Kauf genommen. Die Kostenfolge trifft dann endgültig den Antragsteller. Die Gefahr eines letztlich vergeblich durchgeführten selbständigen Beweisverfahrens kann aber nicht dazu führen, die vom Gesetzgeber ganz bewusst weit gefassten Antragsvoraussetzungen des § 485 Abs. 2 ZPO mit Rücksicht auf die angeblichen Besonderheiten bestimmter Streitsachen wieder einzuschränken (Senatsbeschluss vom 19. Dezember 2000, OLGR 2001, 279 = SchlHA 2001, 237 mit umfangreichen Nachweisen). Zwischenzeitlich hat sich auch der Bundesgerichtshof (BGHZ 153, 302 = NJW 2003, 1741) dieser Auffassung angeschlossen.

Geht man davon aus, dass für das selbständige Beweisverfahren in Arzthaftungssachen keine erweiterten Zulässigkeitsvoraussetzungen gelten, bestehen gegen die beantragte Beweiserhebung keine durchgreifenden Bedenken.

Die Beweisfrage zu Ziffer 1 ist schon nach § 485 Abs. 1 ZPO zulässig, weil zu besorgen ist, dass das Beweismittel – Begutachtung durch einen Sachverständigen – bei weiterem Zuwarten erschwert wird. Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass weitere Operationen anstehen und zu befürchten ist, dass die Ursache des Paravasats nach diesen Operationen nicht mehr festgestellt werden kann. Die Ursache des Paravasats ist auch keineswegs unstreitig. Nach der Behauptung der Antragstellerin ist es dadurch entstanden, dass bei der Injektion das Blutgefäß verfehlt und somit das Zellgift in das umliegende Gewebe injiziert worden sei. Nach der Behauptung der Antragsgegnerin war das Auftreten des Paravasats schicksalhaft und nicht durch einen Behandlungsfehler bedingt.

Alle Beweisfragen sind zudem gemäß § 485 Abs. 2 Nr. 1 und 2 ZPO zulässig. Die Beweisfragen betreffen entweder den Zustand einer Person (§ 485 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) oder die Ursache eines Personenschadens (§ 485 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Dass die Beweisfragen zu 2. und 3. auf streitigem Parteivortrag der Antragstellerin beruhen, der durch Vernehmung von Zeugen noch aufzuklären wäre, steht einer Begutachtung nicht entgegen. Aus dem Zweck des § 485 Abs. 2 ZPO lässt sich nicht ableiten, dass nur unstreitiges Parteivorbringen einer Begutachtung zugrunde gelegt werden kann (vgl. OLG München, Beschluss vom 9. Februar 2006, 1 W 805/06). Auch im Hauptverfahren wäre das Gericht nicht gehindert, vor einer Zeugenvernehmung Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens auf der Grundlage streitigen Parteivorbringens einzuholen. Die Beweisfragen der Antragstellerin sind auch nicht als Ausforschungsbeweis unzulässig (vgl. dazu Thüringer Oberlandesgericht, MedR 2006, 211). Die Antragstellerin legt ihren Beweisfragen einen – behaupteten – konkreten Behandlungsfehler zugrunde.

Die Antragstellerin hat auch ein rechtliches Interesse an der Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens gemäß § 485 Abs. 2 Satz 1 und 2 ZPO. Das rechtliche Interesse im Sinne dieser Vorschriften ist nach herrschender Meinung weit auszulegen. Es fehlt nur dann, wenn kein Rechtsverhältnis, kein möglicher Prozessgegner oder kein Anspruch ersichtlich ist (vgl. Zöller/Herget, ZPO, 27. Aufl., § 485 Rn. 7 a m.w.N.). Unter diesen Voraussetzungen ist das rechtliche Interesse hier zweifelsfrei gegeben, zumal die Haftpflichtversicherung der Antragsgegnerin bereits einen Betrag von 10.000,00 Euro gezahlt hat.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst (vgl. Zöller/Herget aaO § 490 Rn. 5).