OLG Köln, Urteil vom 20.05.1999 - 7 U 5/99
Fundstelle
openJur 2011, 82962
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 4 O 213/98

1. Zur Frage der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben durch das Personal eines städtischen Kindergartens.

2. Kinder, die sich in einer Gruppe auf dem Außengelände eines Kindergartens aufhalten, dürfen nicht über einen längeren Zeitraum (hier 15 bis 20 Minuten) unbeaufsichtigt bleiben. Geboten ist vielmehr eine engmaschigere Kontrolle im Abstand von wenigen Minuten.

3. Die Beweislastregeln des § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB sind im Rahmen des § 839 BGB entsprechend anwendbar.

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Aachen vom 2.12.1998 (4 O 213/98) wird zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass das Urteil des Landgerichts im Hinblick auf den zurückgenommenen Teil in Höhe von 257,45 DM nebst anteiligen Zinsen unwirksam ist. Die Kosten des Rechtsstreits tragen zu 13% der Kläger und zu 87% die Beklagte. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, hat in der Sache - soweit über sie nach der teilweisen Klagerücknahme noch zu befinden ist - aber keinen Erfolg.

Die Beklagte ist dem Kläger zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den die Kinder durch Steine, die vom Gelände des Kindergartens der Beklagten aus geworfen wurden, am Fahrzeug des Klägers verursacht haben, weil die Aufsichtskräfte ihrer Aufsichtspflicht nicht in gebotenem Umfang nachgekommen sind.

Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob die dem Personal eines städtischen Kindergartens obliegenden Aufsichtspflichten als Pflichten "in Ausübung eines öffentlichen Amtes" anzusehen sind, wie das Landgericht angenommen hat (ebenso etwa - ohne Begründung - OLG Düsseldorf, VersR 1996, 710 f.), und demzufolge § 839 BGB Anwendung findet, oder ob sie privatrechtlicher Natur sind und sich die Haftung der Beklagten nach § 832 BGB richtet. Für die Annahme hoheitlicher Tätigkeit könnte dabei etwa angeführt werden, dass es sich bei der Betreuung von Kindern in Kindertagesstätten um eine Aufgabe der Daseinsvorsorge handelt, die der Jugendhilfe obliegt (§§ 2

Abs. 2 Nr. 3, 22 ff. SGB VIII), dass Träger des Kindergartens im konkreten Fall eine Gebietskörperschaft des öffentlichen Rechts ist und dass für den Besuch einer Kindertagesstätte nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern gestaffelte öffentlichrechtliche Beiträge erhoben werden. Andererseits ließe sich für einen privatrechtlichen Charakter anführen, dass die öffentliche Jugendhilfe nur subsidiär insoweit zuständig ist, als freie Träger nicht zur Verfügung stehen (§ 4 Abs. 2 SGB VIII), dass die öffentlichrechtliche Trägerschaft und die öffentlichrechtliche Ausgestaltung der Finanzierung keine zwingenden Indizien darstellen, dass Betrieb und Unterhaltung von Kindergärten wohl nicht als traditionelle öffentliche Aufgaben anzusehen sind, und dass sich das Verhältnis des Kindes zum Kindergarten schon wegen des freiwilligen Charakters grundlegend unterscheidet etwa vom zweifellos hoheitlich zu beurteilenden Verhältnis des Schülers zur Schule, vielmehr eher ähnelt dem (privatrechtlich zu beurteilenden) Verhältnis des Patienten zum in öffentlicher Trägerschaft betriebenen Krankenhaus (vgl. insoweit etwa BGH NJW 1985, 677 ff.). Einer abschließenden Entscheidung dieser Frage bedarf es deshalb nicht, weil die an den Umfang der Aufsichtspflicht zu stellenden Anforderungen bei § 839 BGB und bei § 832 BGB gleich zu beurteilen sind (BGH aaO S. 678), und sich auch ansonsten - zumindest im hier zu entscheidenden Fall - keine Unterschiede in der Rechtsanwendung ergeben.

Kinder, die sich in einer größeren Gruppe auf dem Außengelände eines Kindergartens aufhalten, sind so zu beaufsichtigen, dass eine relativ engmaschige Kontrolle jedes Kindes sichergestellt ist. Die Aufsichtskräfte müssen zwar nicht jedes Kind ununterbrochen, also "auf Schritt und Tritt" im Auge haben (so auch OLG Düsseldorf VersR 1996, 710 f.), wobei sich die Dichte der Kontrolle, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, an Entwicklungsstand, Charakter und Eigenart des jeweiligen Kindes zu richten haben, sowie danach, ob das Kind in der Vergangenheit Auffälligkeiten zeigte, die Anlass zu besonderer Obacht geben. Es geht aber nicht an, dass Kinder im Kindergartenalter, auch wenn sie bislang nicht auffällig wurden, sich über einen längeren Zeitraum selbst überlassen bleiben. Die Auffassung des Landgerichts Krefeld (Urteil vom 14.3.1996, 3 O 128/95), wonach sechsjährige Kinder sich auf dem Kindergartengelände ohne weiteres für Zeiträume von einer halben Stunde unbeaufsichtigt auf dem Außengelände des Kindergartens sollen aufhalten können, teilt der Senat ausdrücklich nicht. Insoweit sind auch nicht die von der Rechtsprechung für gleichaltrige einzelne Kinder entwickelten Grundsätze auf Fälle der vorliegenden Art übertragbar, denn in einer Gruppe spielende (tobende) Kinder sind nicht nur selbst größeren (Verletzungs-)Gefahren ausgesetzt, sondern neigen auch eher zu Dummheiten, wie gerade auch der vorliegende Fall zeigt. Die Aufsichtspflicht wird dort besonders sorgfältig wahrzunehmen sein, wo sich spezielle Gefahren für die Kinder selbst oder für Dritte realisieren können, wie hier entlang eines relativ niedrigen Zaunes zu einer befahrenen Straße. Dies gilt um so mehr, wenn dort wegen einer Hecke die Einsichtnahme für den Aufsichtspflichtigen erheblich beeinträchtigt ist.

Dieser Verpflichtung sind die Aufsichtskräfte des Kindergartens nicht nachgekommen. Es ist zwischen den Parteien nicht streitig, dass drei Kinder vom Gelände des Kindergartens aus auf das Fahrzeug des Klägers Steine geworfen haben, schließlich hat die Beklagte selbst eingeräumt, die betreffenden Kinder namentlich ermittelt zu haben. Dass dies geschehen konnte, obwohl die Aufsichtsführenden ihren oben näher bezeichneten Pflichten nachgekommen wären, ist dem Vorbringen der Parteien und dem Ergebnis der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme nicht zu entnehmen. Die von der Beklagten vorgetragene bloße Anwesenheit von drei Aufsichtsführenden auf dem Gelände reicht sicherlich nicht aus, denn Anwesenheit allein bedeutet noch nicht, dass auch eine effektive Aufsicht stattgefunden hat. Gleiches gilt für die Aussage der Zeugin E.-R., die lediglich bekundete, normalerweise würden regelmäßig Kontrollgänge im Abstand von 15 bis 20 Minuten durchgeführt. Abgesehen von der Ungewissheit, ob es sich auch am fraglichen Tag so verhielt, reichen derartige Kontrollintervalle nach dem oben Gesagten nicht aus, vielmehr war eine deutlich engmaschigere Kontrolle im Abstand von wenigen Minuten geboten. Darüber hinaus ist weder vom Kläger noch von der Beklagten Näheres zur Wahrnehmung der Aufsichtspflicht am damaligen Tag vorgetragen worden, insbesondere nicht, wann und wie lange man die drei Kinder, die Steine auf die Straße warfen, im Blick hatte, wie häufig und wann zuletzt man die dem Blickfeld entzogene Stelle am Zaun kontrolliert hatte, und wie es kommen konnte, dass die Kinder vom anderen Gelände des Grundstücks zahlreiche Steine aufsammeln und zum Zaun tragen konnten, ohne dass dies den Aufsichtskräften aufgefallen wäre.

Dies geht zu Lasten der Beklagten. Soweit sich der Anspruch aus § 832 BGB ergeben sollte, folgt dies unmittelbar aus § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB, wonach der Aufsichtspflichtige darzulegen und zu beweisen hat, dass er ordnungsgemäß beaufsichtigt hat oder der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden wäre, was die Beklagte nicht getan hat. Aber auch im Rahmen des § 839 BGB sind nach Auffassung des Senats die Grundsätze des § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB entsprechend anwendbar. Es kann keinen Unterschied machen, ob eine bestehende Aufsichtspflicht sich als Amtspflicht darstellt oder nicht, hier konkret also, ob die Steine vom Gelände eines städtischen Kindergartens oder eines Kindergartens in freier Trägerschaft geworfen wurden. Dies wird allerdings von anderen Oberlandesgerichten (OLG Düsseldorf, VersR 1996, 710; OLG Dresden NJW-RR 1997, 857 f.) anders gesehen. Auch der BGH hat in einer früheren Entscheidung die Beweislastverteilung des § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB im Rahmen des § 839 BGB für unanwendbar gehalten (BGH NJW 1954, 874). Allerdings geht der Senat davon aus, dass diese Entscheidung des BGH überholt ist, denn sowohl bei der Haftung für Tiere als auch bei der Haftung für den Zustand von Gebäuden sind nach neuerer Rechtsprechung des BGH die Beweislastregelungen der §§ 833 Satz 2 (etwa BGH VersR 1972, 1047 f.) bzw. 836 Abs. 1 Satz 2 BGB (etwa BGH NJW-RR 1990, 1500 m.w.N.) im Rahmen des § 839 BGB entsprechend heranzuziehen. Einen plausiblen Grund, warum für § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB etwas anderes gelten soll, vermag der Senat nicht zu erkennen.

Eine Zulassung der Revision wegen dieser Frage war nicht veranlasst, denn selbst wenn mit der Gegenmeinung der Entlastungsbeweis des § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB im Rahmen von § 839 BGB nicht entsprechende Anwendung fände, hätte die Beklagte der ihr obliegenden Substantiierungspflicht nicht genügt, so

dass sich am Ergebnis nichts ändern würde. Der Kläger hatte seiner Darlegungslast zunächst dadurch genügt, dass er die Schadensverursachung durch offensichtlich - jedenfalls zur Zeit der Schädigung - unbeaufsichtigte Kinder vortrug. Weitergehenden Vortrag zur Verletzung der den Aufsichtskräften obliegenden Pflichten war ihm nicht möglich, da er insoweit über keine Erkenntnismöglichkeiten verfügte, und entsprechende zielgerichtete Nachforschungen waren ihm jedenfalls nicht zumutbar. Er durfte sich in dieser Situation vielmehr darauf beschränken, die objektive Verletzung der Aufsichtspflicht allgemein zu behaupten. Dass die objektive Pflichtverletzung auch schadensursächlich war und auf einem der Beklagten zurechenbaren Verschulden der Bediensteten beruhte, bedurfte ebenfalls keiner weiteren Darlegung, da es nach den Grundsätzen über den Beweis des ersten Anscheins vermutet werden konnte. Da sich die Aufsicht über die Kinder allein in der Sphäre der Beklagten abspielte, lag es an dieser, die objektive Pflichtverletzung konkret und substantiiert zu bestreiten, indem sie die getroffenen Maßnahmen darlegte. Dies hätte dann erst wieder den Kläger gezwungen, konkret hierauf einzugehen und Beweis für die Unrichtigkeit des Beklagtenvorbringens anzutreten. Die Beklagte hätte auch den Anscheinsbeweis hinsichtlich der Kausalität und des Verschuldens erschüttern können. All dies hat die Beklagte jedoch nicht getan, so dass die Anspruchsvoraussetzungen auch dann zu bejahen wären, wenn die Darlegungs- und Beweislast im Rahmen des § 839 BGB grundsätzlich beim Kläger verbliebe.

Durch die Vorlage des Kostenvoranschlages eines Fachbetriebes hat der Kläger den entstandenen Schaden hinreichend glaubhaft gemacht, so dass der dort ausgeworfene Reparaturbetrag als ausreichende Grundlage für eine entsprechende auf § 287 ZPO beruhende Schadensschätzung angesehen werden kann. Die dort aufgeführten Maßnahmen passen zu einem Schadensbild, wie es bei Steinwürfen zu erwarten ist. Zu ersetzen war damit der für die Instandsetzung des Fahrzeugs erforderliche Nettobetrag in Höhe von 1716,31 DM.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 97, 269 Abs.3 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Streitwert: 2.013,76 DM.