OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.06.1998 - 12 B 698/98
Fundstelle
openJur 2011, 78257
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 2 L 40/98
Tenor

Der angefochtene Beschluß wird geändert.

Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, den Beigeladenen zum Präsidenten des Landgerichts K zu ernennen, bevor nicht über die Bewerbung des Antragstellers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut entschieden worden ist.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Außergerichtliche Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 4.000,- DM festgesetzt.

Gründe

Der mit der Beschwerde weiterverfolgte Antrag,

dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, den Beigeladenen zum Präsidenten des Landgerichts K zu ernennen, bevor nicht über die Bewerbung des Antragstellers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entschieden worden ist,

hat Erfolg. Der Antragsteller hat den entsprechenden Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 1 und 3 VwGO iVm §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand des vorliegenden summarischen Verfahrens ist es überwiegend wahrscheinlich, daß die vom Antragsgegner zugunsten des Beigeladenen getroffene Auswahlentscheidung zu Lasten des Antragstellers rechtsfehlerhaft ist.

Gemäß §§ 4 Abs. 1 Satz 1 LRiG NW iVm 25 Abs. 6 Satz 1, 7 Abs. 1 LBG NW in der derzeit geltenden Fassung hat der Dienstherr Beförderungen aufgrund einer Auslese der Bewerber nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung vorzunehmen. Bei gleicher Qualifikation ist die Auswahlentscheidung in das pflichtgemäße Ermessen des Dienstherrn gestellt. Der einzelne Bewerber hat jedoch einen Anspruch darauf, daß über seine Bewerbung eine am Leistungsgrundsatz ausgerichtete ermessensfehlerfreie Entscheidung getroffen wird. Dieses Recht ist nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO sicherungsfähig.

Über Befähigung, fachliche Leistung und Eignung als den maßgebenden Beförderungskriterien verläßlich Auskunft zu geben, ist vorrangig Sache von zeitnahen und aussagekräftigen dienstlichen Beurteilungen der Bewerber. Für die hier zu treffende Entscheidung kann der Senat offenlassen, ob die dienstlichen Beurteilungen, die der Antragsteller als Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht am 31. Oktober 1997 und der Beigeladene als zum Justizministerium abgeordneter Richter am Oberlandesgericht am 29. Oktober 1997 jeweils mit der Leistungs- und Eignungsbewertung "hervorragend" erhalten haben, gleichwertig sind. Die bisherigen Auswahlüberlegungen des Justizministers zu der Besetzung der Stelle des Landgerichtspräsidenten K erweisen sich jedenfalls in anderer Hinsicht als nicht frei von Rechtsfehlern. Die Auswahlüberlegungen beruhen auf einer nicht ordnungsgemäß zustandegekommenen Auswahlgrundlage. Der Justizminister ist bei seinen bisherigen Auswahlüberlegungen nicht der (hohen) Bedeutung des Beurteilungsverfahrens gerecht geworden.

Dienstliche Beurteilungen sind bei der Besetzung von Beförderungsstellen eine grundsätzlich unentbehrliche und wesentliche Erkenntnisgrundlage, um gleichermaßen für alle Bewerber den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Bestenauslese (Art. 33 Abs. 2 GG) zu gewährleisten. Wenn auch umstritten ist, in welchem Umfange aus Art. 33 Abs. 2 GG subjektive Rechte abgeleitet werden können, so begründet die Vorschrift für den Dienstherrn jedenfalls die verfassungsrechtliche Verpflichtung, Personalentscheidungen unter Beachtung des Leistungsgrundsatzes auf der Grundlage dienstlicher Beurteilungen zu treffen. In diesem Sinne sind dienstliche Beurteilungen auch von ausschlaggebender Bedeutung für das berufliche Fortkommen der Beamten/Richter. Vor diesem Hintergrund beinhaltet Art. 33 Abs. 2 GG ein gerichtlich durchsetzbares Recht jedenfalls insoweit, als die ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Bewerbungsverfahrensanspruch in Rede steht. Der Bedeutung der Beurteilung für den Dienstherrn und den einzelnen Bewerber ist dabei nicht nur durch das materielle Recht, sondern gerade auch durch die Ausgestaltung des Beurteilungs- und Bewerbungsverfahrens Rechnung zu tragen. Effektiver Grundrechtsschutz ist auch durch das Verfahrensrecht zu gewährleisten.

Dementsprechend unterliegen dienstliche Beurteilungen wegen ihres Zwecks, für die Bestenauslese einen möglichst zuverlässigen, sachgerechten Vergleich von Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung der Beurteilten untereinander zu ermöglichen und zugleich transparent zu machen, bestimmten Form- und Verfahrensvorschriften. Sie sind schriftlich abzufassen, mit einem Gesamturteil abzuschließen und sollen einen Vorschlag für die weitere dienstliche Verwendung enthalten (§ 104 Abs. 1 Satz 3 LBG NW). Sie sind zu den Personalakten des Beamten/Richters zu nehmen (§ 104 Abs. 1 Satz 4 LBG NW). Diesem ist Gelegenheit zu geben, zuvor von der Beurteilung Kenntnis zu nehmen und sie mit dem Vorgesetzten zu besprechen (§ 104 Abs. 1 Satz 5 LBG NW). Eine Gegenäußerung des Beamten/Richters ist möglich und ebenfalls zu den Personalakten zu nehmen (§ 104 Abs. 1 Satz 6 LBG NW). Weitere Regelungen über die dienstlichen Beurteilungen der Richter und Staatsanwälte hat der Justizminister des Antragsgegners in seiner AV vom 20. Januar 1972 (2000-1 C.155) - JMBl. NW S. 38 - aufgestellt.

Der solchermaßen durch ins einzelne gehende Vorschriften und Regelungen konkretisierten verfahrensrechtlichen Absicherung der Beurteilung ist auch in dem sich an die Erstellung dienstlicher Beurteilungen der Bewerber anschließenden Auswahlverfahren Rechnung zu tragen, in dem Eignung, Befähigung und fachliche Leistung der Bewerber auf der Grundlage dieser Beurteilungen zu vergleichen sind. Dies schließt es aus, die Auswahl unter den Bewerbern - etwa wegen fehlender hinreichender Aussagen in den vorliegenden Beurteilungen - in der Weise zu treffen, daß bestimmte ausschlaggebende Merkmale gleichsam aus dem einen besonderen Verfahrensschutz gewährleistenden Beurteilungsverfahren herausgelöst werden und einer erstmaligen und eigenständigen Bewertung durch die oberste Dienstbehörde vorbehalten bleiben. Das gilt jedenfalls dann, wenn sich die solchermaßen gewonnenen Erkenntnisse nicht auf herkömmliche "Hilfskriterien" - d.h. auf Kriterien, die nicht bereits von der Sache her Gegenstand der Leistungs- und Eignungsbeurteilung zu sein haben, wie z.B. das Lebens- und Dienstalter - beziehen, sondern auf für das konkrete Anforderungsprofil des Dienstpostens nach Auffassung der obersten Dienstbehörde wesentliche und bestimmende Eignungsmerkmale. Es würde nämlich dem unabweisbaren Bedürfnis nach einer Sicherung des Verfassungsgebots der Bestenauslese widersprechen, wenn die Art und Weise der Beschaffung derartiger zusätzlicher Erkenntnisse einer späteren Stufe des Auswahlverfahrens überlassen und damit keinen vergleichbaren verfahrensrechtlichen Sicherungen unterliegen würde, wie sie für die Erstellung dienstlicher Beurteilungen von Verfassungs wegen geboten sind.

Das vorliegende Besetzungsverfahren trägt dem nicht hinreichend Rechnung: Das Verfahren weist die Besonderheit auf, daß der Justizminister nicht nur die dienstliche Beurteilung des Antragstellers durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts zur Grundlage seiner Auswahlentscheidung gemacht hat. Er hat vielmehr Erkenntnisse zu Eignungsmerkmalen (u.a.) des Antragstellers, auf die er bezogen auf das Anforderungsprofil einer Behördenleiterstelle entscheidenden Wert legt, erst nach dem förmlichen Beurteilungsverfahren und außerhalb dieses Verfahrens erstmals selbst im Rahmen der von ihm geführten Vorstellungsgespräche erhoben, in eine vergleichende Bewertung der Bewerber einbezogen und hierauf seine Auswahlentscheidung maßgeblich gestützt. Das wird dem Anspruch des Antragstellers darauf, daß die Auswahlentscheidung nachvollziehbar am Grundsatz der Bestenauslese ausgerichtet wird, unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen nicht gerecht.

Der Justizminister sah die von dem Präsidenten des Oberlandesgerichts über den Antragsteller gefertigte dienstliche Beurteilung vom 31. Oktober 1997 als unzureichend an. Er vermißte in ihr Äußerungen zu den Merkmalen, auf die es ihm für die Vergabe derartiger Behördenleiterstellen "vorrangig" ankam, nämlich Führungseigenschaften, Motivationsgabe, Durchsetzungsvermögen, die Fähigkeit zur Darstellung der Belange der Justiz und die Bereitschaft zu ihrer Modernisierung. Für erforderlich hielt er neben höchster Qualifikation der Bewerber breite Verwaltungserfahrungen und eine hohe soziale Kompetenz. Um insoweit eine "erweiterte Entscheidungsgrundlage" zu haben, führte er mit den Bewerbern die Vorstellungsgespräche. Namentlich wollte er bei den Gesprächen auch feststellen, ob die Bewerber auf der Grundlage ihrer bisherigen umfassenden beruflichen Erfahrungen willens und in der Lage sind, den Erneuerungsprozeß der Justiz aktiv zu gestalten und zu fördern. Gegenstand der Gespräche waren deshalb auch die Themenkreise Reorganisation und Modernisierung des gesamten Justizbereichs im Rahmen eines umfassenden Organisationsentwicklungskonzeptes und die Umsetzung des Programms "Justiz 2003".

Diese Erkenntnisse des Senats stimmen - jedenfalls zum Teil - mit dem Vorbringen des Antragsgegners im gerichtlichen Verfahren überein. So hat dieser etwa in seinem Schriftsatz vom 18. Mai 1998 ausdrücklich erklärt, "daß sich die dienstlichen Beurteilungen der (neben dem Beigeladenen) anderen Bewerber nicht im gleichen Umfang zu den Kenntnissen und Fähigkeiten äußerten, die aus Sicht des Justizministers bei generell gleicher Leistung und Eignung entscheidend sein sollten". Soweit der Antragsgegner demgegenüber an anderer Stelle vorgetragen hat, die Vorstellungsgespräche seien lediglich deshalb mit den Bewerbern geführt worden, um ihnen die Möglichkeit zu bieten, zur Abrundung ihrer dienstlichen Beurteilungen beizutragen, findet dies auch in dem Inhalt der über den Antragsteller erstellten Beurteilung keine Bestätigung. Diese enthielt keine unmittelbaren Aussagen zu den tragenden Gesichtspunkten der im Auswahlverfahren unter dem Begriff der allumfassenden sozialen Kompetenz zusammengefaßten Eignungsmerkmale. Insoweit bestand mithin Klärungsbedarf, wenn der Justizminister diese Merkmale zum vorrangigen Kriterium seiner Auswahlentscheidung machen wollte.

Die in den Vorstellungsgesprächen angesprochenen Themen beziehen sich aus der Sicht des Justizministers auf Schwerpunkte des spezifischen Anforderungsprofils der im Streit stehenden Gerichtspräsidentenstelle, die als wesentlichen Bestandteil - neben richterlicher Spruchtätigkeit - die Behördenleitung umfaßt. Alle Bewerber wären deshalb bezüglich ihrer Leistungen und (zu prognostizierenden) Eignung unter Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes und damit auch mit den gleichen verfahrensrechtlichen Sicherungen an diesem spezifischen Anforderungsprofil zu messen gewesen. Das wiederum hätte vorausgesetzt, den nach der AV des Justizministers vom 20. Januar 1972 zuständigen Beurteilern das Anforderungsprofil mit der nötigen Klarheit vorzugeben und für den Fall, daß Beurteilungen von Bewerbern sich gleichwohl nicht ausreichend zu einzelnen wesentlichen Merkmalen dieses Profils geäußert hätten, vor dem abschließenden Vergleich der Beurteilungen die Defizite durch ergänzende Beiträge der zuständigen Beurteiler beseitigen zu lassen. Der Justizminister war demgegenüber nicht dazu befugt, die hier zu den oben im einzelnen angesprochenen Eignungsmerkmalen in den schriftlichen Beurteilungen fehlenden Aussagen in eigener Zuständigkeit und ohne ein formalisiertes Beurteilungsverfahren auf anderem Wege - hier durch Vorstellungsgespräche - ergänzend festzustellen. Daß Vorstellungsgespräche als Erkenntnismittel keinen der Erstellung von Beurteilungen vergleichbaren Verfahrensschutz - insbesondere in bezug auf die Transparenz der Entscheidungsfindung und auf die Absicherung der Rechte der Bewerber - bieten, ergibt sich schon aus der bisher nicht hinreichend geklärten Frage ihrer Dokumentation und wird zudem durch den streitigen Vortrag der Verfahrensbeteiligten zum Inhalt und Verlauf des mit dem Antragsteller geführten Vorstellungsgesprächs nachhaltig bestätigt. Die hier seitens des Antragsgegners erfolgte Gewichtung dieses Gesprächs würde darüber hinaus auch den Grundsätzen widersprechen, die der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung zum zulässigen Stellenwert von Vorstellungs- bzw. Auswahlgesprächen in Besetzungsverfahren entwickelt hat. Da solche Gespräche nur eine Momentaufnahme von den Fähigkeiten des jeweiligen Bewerbers vermitteln können, kommt ihnen von vornherein nur eine beschränkte Aussagekraft zu. Der dort gewonnene Eindruck kann immer nur das Bild über einen Bewerber abrunden und lediglich in diesem Umfang die Beurteilungsgrundlage erweitern (vgl. Senatsbeschlüsse vom 8. Juli 1988 - 12 B 959/88 - sowie vom 27. Juni 1994 - 12 B 1084/94 -, DVBl. 1995, 205 = ZBR 1995, 152). Davon kann aber keine Rede mehr sein, wenn - wie hier - die Vorstellungsgespräche von der obersten Dienstbehörde zumindest auch wesentlich dazu genutzt worden sind, sich erstmals einen hinreichenden Eindruck über bestimmende Eignungsmerkmale in bezug auf das spezifische Anforderungsprofil des konkret zu besetzenden Dienstpostens zu verschaffen.

Die nach allem zu beanstandende Verfahrensweise des Antragsgegners kann sich im übrigen auch nicht auf die von ihm u.a. im Verwaltungsverfahren angesprochene Rechtsprechung des Senats stützen, wonach bei gleicher Beurteilung der Bewerber "andere" Kriterien im Rahmen der Auswahlentscheidung herangezogen werden dürfen. Mit derartigen anderen Kriterien sind grundsätzlich Hilfskriterien gemeint, also nicht solche Kriterien, die - wie die hier in Rede stehende Eignung - bereits in der Beurteilung zu erfassen sind. Die - vollständige - Eignungsbeurteilung muß dementsprechend auch dann die maßgebliche Grundlage der Auswahl unter den Bewerbern sein, wenn sie sich an einem besonderen Anforderungsprofil des zu besetzenden Amtes orientiert.

Der Senat geht davon aus, daß dem Antragsteller in Beachtung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach der neuen Auswahlentscheidung genügend Zeit gegeben wird, nötigenfalls erneut um gerichtlichen Rechtsschutz nachzusuchen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Der Senat sieht davon ab, eventuelle außergerichtliche Kosten des Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären, weil dieser keinen Sachantrag gestellt und sich damit selbst keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 13 Abs. 1 Satz 2, 20 Abs. 3 GKG.