OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.08.2009 - 18 B 331/09
Fundstelle
openJur 2011, 68143
  • Rkr:

Für das Vorliegen des besonderen Vollziehungsinteresses im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO kommt es auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an.

Tenor

Der angegriffene Beschluss wird geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage 7 K 277/09 des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 21. Januar 2009 wird im Hinblick auf die nachträgliche Verkürzung der Geltungsdauer der Aufenthalterlaubnis wiederhergestellt und im Übrigen angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,-- Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde hat Erfolg. Die Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO fällt zu Lasten des Antragsgegners aus. Das Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung der angefochtenen Verfügung vorerst verschont zu bleiben, überwiegt gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung.

Zwar spricht aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses Überwiegendes dafür, dass sich die angefochtene Verfügung im Hauptsacheverfahren 7 K 277/09 als rechtmäßig erweisen wird.

Die Beschwerde hat jedoch Erfolg, weil es für die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Verkürzung der Frist der dem Antragsteller erteilten Aufenthaltserlaubnis am erforderlichen besonderen Vollzugsinteresse fehlt; dies ist mit der Beschwerde auch hinreichend gerügt worden (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO). Der Senat stellt insoweit seit seinem Beschluss vom 19. Mai 2009 - 18 B 421/09 - auf Folgendes ab:

Für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis, die als schwerwiegende Maßnahme nicht selten tief in das Schicksal des Betroffenen eingreift und deren Gewicht durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung zusätzlich verschärft wird, ist ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt.

Vgl. speziell zur nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis: BVerfG, Beschlüsse vom 25. Januar 1996 - 2 BVR 2718/95 -, AuAS 1996, 62 -, und vom 29. März 2007 - 2 BvR 1977/06 -, NVwZ 2007, 948 (Ausweisung).

Der Rechtsschutzanspruch des betroffenen Ausländers ist dabei um so stärker und darf um so weniger zurückstehen, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt. Das für den Zeitraum bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens festzustellende öffentliche Interesse muss deshalb von einem solchem Gewicht sein, dass es das schutzwürdige Interesse des Ausländers an der Erhaltung des Suspensiveffektes überwiegt. Davon kann nicht schon allein deshalb ausgegangen werden, weil ein Ausländer, der die Voraussetzungen eines Aufenthaltstitels nicht mehr erfüllt, alsbald zur Ausreise verpflichtet ist. Zwar beeinträchtigt die Unrechtmäßigkeit des Aufenthalts nach Ablauf der verkürzten Aufenthaltserlaubnis das öffentliche Interesse an der Einhaltung aufenthaltsrechtlicher Vorschriften. Diese Beeinträchtigung ist jedoch nicht von solchem Gewicht, dass sie für sich genommen die unverzügliche Entfernung des Ausländers aus dem Bundesgebiet rechtfertigt. Einer solchen Annahme steht bereits entgegen, dass der Gesetzgeber durch die Regelung des § 84 Abs. 1 AufenthG zu erkennen gegeben hat, im Falle des § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG im Regelfall keinen das Abwarten des Hauptsacheverfahrens entgegenstehenden unverzüglichen Handlungsbedarf zu sehen, es vielmehr beim Grundsatz des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO bleiben sollte, wonach dem Widerspruch/der Klage aufschiebende Wirkung zukommt. Die infolge dessen bestehende aufschiebende Wirkung einer Klage gegen einen auf § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gestützten Bescheid und die hieran anknüpfende Möglichkeit, während des Rechtsmittelverfahrens im Bundesgebiet zu bleiben, ist daher Folge des gesetzlichen, durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Rechtsschutzsystems.

Da die nachträgliche Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis nicht dazu dient, konkrete Gefahren, die mit dem weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet verbunden sein können, unmittelbar auszuräumen, lässt sich die Anordnung der sofortigen Vollziehung weiter nicht damit begründen, die nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu treffende Entscheidung über die nachträgliche Verkürzung der Frist der Aufenthaltserlaubnis indiziere die Notwendigkeit der sofortigen Vollziehung. Die nachträgliche Verkürzung der Frist dient regelmäßig allein dem Zweck, den durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis legitimierten Aufenthalt des Ausländers vorzeitig beenden zu können, weil eine für die Erteilung, die Verlängerung oder die Bestimmung der Geltungsdauer der Aufenthaltsgenehmigung wesentliche Voraussetzung entfallen ist.

Eine eventuell bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu erwartende faktische Integration der Antragstellerin lässt regelmäßig gleichfalls keine, eine sofortige Aufenthaltsbeendigung rechtfertigende Beeinträchtigung oder Gefährdung der Interessen der Bundesrepublik Deutschland erkennen.

Vgl. zu allem Senatsbeschluss vom 19. Mai 2009 18 B 421/09 - mit weiteren Nachweisen, juris.

Von dem Vorstehenden ausgehend sind gegenwärtig Umstände, die zur Begründung des besonderen Vollzugsinteresses geeignet wären, wie etwa Straffälligkeit oder das Angewiesensein auf öffentliche Leistungen zur Sicherstellung des Lebensunterhalts, nicht ersichtlich. Zwar hat der Antragsteller bis einschließlich Juni 2009 (ergänzende) Leistungen zur Sicherung seines Lebensunterhalts nach Maßgabe des SGB II (Grundleistungen) erhalten. Auf solche hat er aber auf Grund einer zwischenzeitlich aufgenommenen Vollzeitbeschäftigung ab 1. Juli 2009 keinen Anspruch mehr.

Für die hier zu treffende Entscheidung ist es ist unerheblich, dass der Antragsteller bis einschließlich Juni 2009 Hilfeleistungen bezogen hat. Der Senat hat im Rahmen der nach § 80 Abs. 5 VwGO selbst vorzunehmenden Interessenabwägung

- vgl. hierzu Senatsbeschlüsse vom 5. Juli 1994 18 B 1171/94 , NWVBl. 1994, 424 = AuAS 1994, 258, und vom 26. März 2008 - 18 B 376/08 -

über die Rechtmäßigkeit der Vollziehungsanordnung mit Blick darauf zu entscheiden, ob bis zum Eintritt der Bestandskraft der angefochtenen Ordnungsverfügung ein überwiegendes öffentliches Interesse die Vollziehungsanordnung rechtfertigt. Für die Frage, ob das erforderliche besondere Vollziehungsinteresse gegeben ist, ist dabei der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich.

Vgl. Puttler in Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Auflage 2006, § 80 Rn. 162 mit weiteren Nachweisen.

Zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung lässt sich ein besonderes Vollziehungsinteresse nicht mit einem Anspruch des Antragstellers auf öffentliche Leistungen zur Sicherstellung des Lebensunterhalts begründen, weil er seit dem 1. Juli 2009 keinen Anspruch auf solche Leistungen hat. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller demnächst wieder auf solche Leistungen angewiesen sein könnte, sind nicht gegeben. Der zurückliegende Leistungsbezug ist unbeachtlich, denn die in der Vergangenheit erbrachten Sozialleistungen lassen sich - ihre Rechtmäßigkeit unterstellt - nicht rückgängig machen und vermögen deshalb regelmäßig kein gegenwärtiges öffentliches Interesse an einer sofortigen Ausreise des Ausländers zu begründen. Sollte der Antragsteller erneut hilfebedürftig werden, so steht es dem Antragsgegner frei, wegen des dann ggf. (erneut) entstandenen öffentlichen Interesses an einem Sofortvollzug nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO eine Änderung dieses Beschlusses zu beantragen.

Da die Abschiebungsandrohung als rechtliche Grundlage dient, die auf Grund der Befristungsverfügung eingetretene Ausreisepflicht (§§ 50, 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) der Antragstellerin vollstrecken zu können, ist im Rahmen der gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu treffenden Interessenabwägung auch insoweit die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 3 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.