OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 24.02.2016 - 7 A 19/14
Fundstelle
openJur 2016, 3636
  • Rkr:
Tenor

Das angefochtene Urteil wird geändert.

Die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 20.8.2012 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die erstattungsfähig sind.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht zuvor die jeweilige Gläubigerin Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Ordnungsverfügung, mit welcher der Klägerin die Beseitigung eines Wohnhauses mit Nebenanlagen auf dem Grundstück C. Weg 60 in L. aufgegeben worden ist.

Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstückes Gemarkung L. , Flur 40, Flurstück 27 (ehemals Gemarkung C1. , Flur 2, Flurstück 975/111, bzw. 111/2). Sie erwarb dieses Grundstück mit notariellem Kaufvertrag vom 12.7.2005. Errichtet wurde das ursprüngliche Gebäude von Frau J. N. . Dem notariellen Kaufvertrag vom 15.2.1950 zwischen dieser als Käuferin und Frau N1. als Verkäuferin ist u. a. zu entnehmen, dass "die Käuferin auf ihre Kosten ein Wohnhaus errichtet" hat "und zwar im Einverständnis mit der Verkäuferin, die ihr das Kaufgrundstück pachtweise überlassen hat". Das Grundstück ist mit einem Wohnhaus sowie Nebengebäuden, einem Carport und einem Gartenhäuschen bebaut. In den Verwaltungsvorgängen befindet sich keine Baugenehmigung für das streitgegenständliche Grundstück. Das Grundstück lag im Geltungsbereich des im Dezember 1992 von der Gemeinde L. aufgehobenen Bebauungsplans Nr. 20 "Wochenendhausgebiet C1. ", aber außerhalb des dort festgesetzten Wochenendhausgebietes. Im Flächennutzungsplan ist das Grundstück als Fläche für Landwirtschaft ausgewiesen. Zurzeit bewohnt die Beigeladene, die Mutter der Klägerin, als Inhaberin eines Nießbrauchrechts das streitgegenständliche Gebäude.

Anlässlich eines ein anderes Grundstück am C. Weg betreffenden Klageverfahrens erfolgte seitens des Beklagten die Prüfung der Legalität der Bebauung des streitgegenständlichen Grundstücks. Mit Schreiben vom 5.9.2011 hörte der Beklagte die Klägerin zum beabsichtigten Erlass einer Beseitigungsverfügung an. Die Beigeladene trug daraufhin mit Schreiben vom 6.10.2011 unter anderem vor, sie sei die vierte Besitzerin des Hauses. Dieses sei noch vor dem Krieg von einer Familie N. aus L1. gebaut worden. Die Klägerin führte mit Schreiben vom 6.6.2012 aus, es handele sich um einen historischen Baukörper, der schon vor 1951 vorhanden gewesen sei. Frau N. , verheiratet mit Q. N. , der Bankier und jüdischer Abstammung gewesen sei, sei in den vierziger Jahren von L1. nach L. geflohen und habe dort Zuflucht genommen. Das Gebäude sei zwischen 1936 und 1944 errichtet worden. Es stehe außer Zweifel, dass die Ehefrau eines prominenten jüdischen Bankiers nicht unter den damaligen Augen der nationalsozialistischen Behörden ein Wohnhaus ohne Genehmigung hätte errichten können. Unterstützt werde diese Einschätzung dadurch, dass bezogen auf das Landgut C1. keine Bauakten mehr verfügbar seien.

Mit Bescheid vom 20.8.2012 forderte der Beklagte die Klägerin unter Androhung eines Zwangsgeldes auf, die auf dem streitgegenständlichen Grundstück befindlichen baulichen Anlagen binnen zwölf Monaten nach Bestandskraft der Verfügung vollständig zu beseitigen. Zur Begründung führte er unter anderem aus, eine Baugenehmigung sei bisher weder erteilt noch beantragt worden. Die baulichen Anlagen seien auch nicht genehmigungsfähig. Das Grundstück sei dem Außenbereich zuzuordnen. Es liege in einem ausgewiesenen Landschaftsschutzgebiet. Die Gebäude beeinträchtigten die natürliche Eigenart der Landschaft und ließen die Entstehung einer Splittersiedlung befürchten. Das öffentliche Interesse an der Beseitigung sei höher zu bewerten, als das private Interesse der Klägerin am Bestand der Gebäude. Würde er die baurechtswidrige Bebauung dulden, würde dies eine Missachtung der im Flächennutzungsplan zum Ausdruck gekommenen Planvorstellungen der Gemeinde darstellen und zu einem Eingriff in deren Planungshoheit führen. Außerdem könne er dann gegen gleichartige Nutzungswünsche im Nachbarbereich nicht mehr einschreiten. Zweck des Baugesetzbuches und der Landesbauordnung sei es unter anderem, dass sich die Errichtung und Nutzung baulicher Anlagen im Rahmen der bestehenden planungsrechtlichen Grundlagen und unter Beachtung der allgemeinen bauordnungsrechtlichen Vorschriften vollziehe. Er würde diese Absicht missachten, wenn er die Errichtung und die Benutzung solcher illegalen Anlagen zulassen oder dulden würde. Es könne auch nicht angehen, dass die Klägerin einen Vorteil gegenüber dem gesetzestreuen Bürger erlange. Es liege kein Nachweis dafür vor, dass das Gebäude jemals baurechtlich genehmigt worden sei.

Die Klägerin hat am 10.9.2012 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen vorgetragen: Das Gebäude sei baurechtlich genehmigt. Das streitgegenständliche Grundstück sei ursprünglich Bestandteil des umfangreichen Grundbesitzes der Frau N1. gewesen. Das Problem des Falles liege darin, dass die Hauptakten des N1. -Grundbesitzes nicht mehr vorhanden seien. In diesen Hauptakten seien die Baugenehmigungen für sämtliche Bebauungen längs des C. Wegs enthalten. Dies ergebe sich aus der Tatsache, dass auch weitere Genehmigungen fehlten.

Nachdem der Beklagte im Ortstermin des Verwaltungsgerichts am 19.9.2013 die in dem angefochtenen Bescheid enthaltene Zwangsgeldandrohung aufgehoben hat und die Beteiligten das Verfahren insoweit übereinstimmend für erledigt erklärt haben, hat die Klägerin beantragt,

die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 20.8.2012 aufzuheben.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat er vorgetragen: Die Recherchen hätten ergeben, dass weder in seinem Archiv noch im Archiv der Gemeinde L. eine Baugenehmigung für das streitgegenständliche Grundstück vorhanden sei. Es sei davon auszugehen, dass das Gebäude zwischen 1936 und 1944 errichtet worden sei. Es handele sich hier um eine typische Splittersiedlung. Die streitgegenständliche bauliche Anlage sei nicht durch eine Baugenehmigung gedeckt und verstoße fortdauernd gegen materielles Baurecht. Aufgrund der Außenbereichslage und der Landschaftsschutzgebietausweisung sei es auch nicht genehmigungsfähig. Im Bauamt existierten keine das streitbefangene Grundstück betreffenden Altakten.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt und sich dem Vorbringen der Klägerin angeschlossen.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 22.11.2013 abgewiesen und das Verfahren eingestellt, soweit es die Beteiligten übereinstimmend für erledigt erklärt haben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Klage sei unbegründet. Die streitgegenständlichen baulichen Anlagen seien formell und materiell illegal. Der Nachweis der Baugenehmigung sei von der Klägerin zu erbringen. Es handele sich auch um keinen Einzelfall. Es sei gerichtsbekannt, dass in den späten dreißiger Jahren, während der Kriegszeit und/oder der so genannten Wirtschaftswunderzeit im Zuständigkeitsbereich der Kammer zahlreiche "Schwarzbauten" errichtet worden seien. Insbesondere in den letzten Kriegsjahren seien die ursprünglich zum Teil als Wochenendhäuser errichteten Gebäude zum Dauerwohnsitz umfunktioniert worden. Die von der Klägerin geschilderte Entstehungsgeschichte des Hauses unterscheide sich in nichts von der Geschichte der zahlreichen dem Gericht bekannten vergleichbaren Vorhaben. Es sei daher nicht geboten, von der zulässigen Errichtung des Hauses auszugehen, von der Forderung des Nachweises einer Baugenehmigung abzusehen und unter Berücksichtigung der Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins von einem formell legalen Baubestand auszugehen. Auch die Spekulation der Klägerin, eine Genehmigung für das Wohnhaus müsse in der Hauptakte des ca. 100 m westlich gelegenen Landgutes C1. zu finden sein, entbehre jeder tatsächlichen Grundlage. Der Vortrag zur unterdrückten Baugenehmigung sei in sich nicht schlüssig. Eine Baugenehmigung, die lediglich zum Schein erteilt worden sei, um sie sodann wieder umgehend verschwinden zu lassen, wäre für Frau N. nutzlos gewesen. Das streitgegenständliche Grundstück sei Bestandteil des Außenbereichs und die baulichen Anlagen seien nicht genehmigungsfähig. Der Beklagte habe auch sein Ermessen erkannt und ohne Ermessensfehler ausgeübt. Das Ermessen sei hier im Sinne des Erlasses einer Beseitigungsanordnung intendiert. Entgegen der Darstellung der Klägerin lägen keine atypischen Umstände oder Besonderheiten des Einzelfalles vor. Es liege auch kein Fall einer aktiven Duldung vor. Der Beklagte sei nach Bekanntwerden des Sachverhalts umgehend bauordnungsrechtlich tätig geworden und habe auch kein Vertrauen der Klägerin begründet, er werde gegen das Vorhaben nicht bauordnungsrechtlich einschreiten.

Die Klägerin trägt zur Begründung der vom Senat zugelassenen Berufung im Wesentlichen vor: Über die gefestigte Rechtsprechung zur Beweislastverteilung bei nicht auffindbarer Baugenehmigung oder zum Bestandsschutz müsse zumindest diskutiert werden. Auch der "vermutete" Bestandsschutz sei Bestandteil der Eigentumsgarantie. Die Besonderheit des Falles liege darin, dass bis zum ersten behördlichen Einschreiten im Jahr 2011 das streitgegenständliche Gebäude rund 70 Jahre lang beanstandungsfrei zu Wohn- und nicht nur zu Wochenendzwecken genutzt worden sei. Daher liege die Beweislast für die fehlende Rechtmäßigkeit der Gebäude bei dem Beklagten. Im Übrigen sei die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts fehlerhaft. Es sei nicht vorstellbar, dass die Ehefrau eines ermordeten jüdischen Bankiers ein Grundstück bebauen könne und ohne polizeiliche Anmeldung dort lebe, ohne dass die Behörden damit einverstanden gewesen wären. Vielmehr sei davon auszugehen, dass die damaligen Behörden und Entscheidungsträger den Bau genehmigt hätten. Auch für das Landgut C1. fehlten Baugenehmigungen. Dies könne nur bedeuten, dass es entweder niemals entsprechende Genehmigungen gegeben habe, oder diese wieder verschwunden seien. Der Beklagte habe nicht geprüft, ob er mit seiner Beseitigungsverfügung aufgrund der besonderen Umstände des Falles eine unangemessene Belastung herbeiführe. Die planlose Vorgehensweise des Beklagten führe zudem zu einem Ermessensfehler. Es gebe im Gebiet des Beklagten zahlreiche bekannte Schwarzbauten, die aber nicht verfolgt würden. Es werde bestritten, dass das Archiv des Beklagten hinsichtlich der Jahrgänge 1930-1950 lückenlos sei. Entgegen dem Vorbringen des Beklagten halte das streitgegenständliche Gebäude die Abstandfläche zum Flurstück 29 ein. Der Grenzabstand in der Mitte des Anbaus betrage 2,96 m.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Köln vom 22.11.2013 die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 20.8.2012 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung verweist er auf seinen bisherigen Vortrag und führt zudem aus, das streitgegenständliche Gebäude verstoße auch gegen § 6 BauO NRW. Der Grenzabstand zum Flurstück 29 (C. Weg 58) betrage unter 3 m. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin verfüge seine Bauverwaltung über ein vollständiges Archiv. Die Ermessensausübung sei nicht zu beanstanden. Die Behauptung, es gäbe zahlreiche bekannte Schwarzbauten, die nicht verfolgt würden, sei unwahr. Sofern die Bauaufsichtsbehörde von nicht genehmigten Gebäuden Kenntnis erlange, gehe sie diesem Verdacht nach und werde gegebenenfalls tätig. Insgesamt habe er eine konkrete Vorgehensweise entwickelt, die er seit Jahren anwende.

Die Beigeladene schließt sich dem Antrag der Klägerin an. Sie bezieht sich auf das klägerische Vorbringen und führt weiter aus: Auch wenn der Bebauungsplan Nr. 20 wieder aufgehoben worden sei, sei jedenfalls das streitgegenständliche Grundstück ab Rechtskraft des Bebauungsplans als Wochenendhaus materiell genehmigungsfähig gewesen. Die damalige materielle Legalität als Wochenendhaus vermittle Bestandskraft für die Zukunft. Die angefochtene Beseitigungsverfügung sei damit rechtsfehlerhaft. Der Beklagte gehe in den Ermessenserwägungen nicht darauf ein. Die Ermessensfehlerhaftigkeit der angefochtenen Verfügung ergebe sich auch aus einem Verstoß des Beklagten gegen Art. 3 GG i.V.m. der Selbstbindung der Verwaltung. In gleich gelagerten Fällen hätte der Beklagte für die Nachbargrundstücke Baugenehmigungen für die Nutzung als Freizeitheim, Wochenendhaus bzw. Wohnhaus erteilt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Gründe

Die Berufung hat Erfolg.

Die zulässige Klage ist begründet. Die streitgegenständliche Ordnungsverfügung des Beklagten vom 20.8.2012 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Zwar geht auch der Senat davon aus, dass das Gebäude der Klägerin formell und materiell illegal ist. Der Umstand, dass keine Baugenehmigung auffindbar ist, geht zu Lasten der Klägerin. Anhaltspunkte für einen materiellen Bestandsschutz hat der Senat ebenfalls nicht feststellen können. Dies gilt auch im Hinblick auf den früheren Bebauungsplan Nr. 20 der Gemeinde L. . Das Grundstück der Klägerin liegt nicht im Bereich des seinerzeit ausgewiesenen Wochenendhausgebietes und das Wohnhaus wurde nach dem Vortrag der Klägerin auch zu keinem Zeitpunkt als Wochenendhaus genutzt. Einem materiellen Bestandsschutz steht schließlich auch der zu geringe Grenzabstand des Gebäudes entgegen.

Der Beklagte hat aber das nach § 61 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW eingeräumte Ermessen fehlerhaft i. S. d. § 114 Satz 1 VwGO ausgeübt.

Nach § 61 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW haben die Bauaufsichtsbehörden in Wahrnehmung der Aufgaben nach § 61 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW nach pflichtgemäßem Ermessen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Nach § 61 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW haben die Bauaufsichtsbehörden bei der Errichtung, Änderung, dem Abbruch, der Nutzung, der Nutzungsänderung sowie der Instandhaltung baulicher Anlagen sowie anderer Anlagen und Einrichtungen im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW darüber zu wachen, dass die öffentlichrechtlichen Vorschriften und die aufgrund dieser Vorschriften erlassenen Anordnungen eingehalten werden.

Vorliegend hat der Beklagte das ihm eingeräumte Ermessen erkannt, es aber nicht in dem erforderlichen Umfang ausgeübt.

Die Ermessensentscheidung, eine Beseitigungs- oder Rückbauverfügung zu erlassen, kann die Bauaufsichtsbehörde im Regelfall ordnungsgemäß damit begründen, dass die zu beseitigende Anlage formell und materiell illegal ist und dass ein öffentliches Interesse daran besteht, keinen Präzedenzfall- oder Berufungsfall zu schaffen.

Vgl. Maske, in: Schönenbroicher/Kamp, Bauordnung Nordrhein-Westfalen, § 61 Rn. 30 m. w. N.

Eine weitergehende Abwägung des "Für und Wider" einer Beseitigungsanordnung ist nur dann geboten, wenn konkrete Anhaltspunkte ausnahmsweise für die Angemessenheit einer vorübergehenden oder dauerhaften Duldung eines rechtswidrigen oder ordnungswidrigen Zustands sprechen.

Vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 28.8.1980 - 4 B 67.80 - , BRS 36 Nr. 93.

Letzteres ist hier mit Blick auf den Umstand der Fall, dass das streitige Gebäude auch nach Einschätzung des Beklagten bereits zwischen 1936 und 1944 errichtet und seitdem - soweit ersichtlich - durchweg als Wohnhaus genutzt worden ist. Die Bauaufsichtsbehörden sind - anders als der Beklagte offenbar angenommen hat - keineswegs ausnahmslos verpflichtet, die Beseitigung von formell und materiell illegalen baulichen Anlagen ungeachtet der Frage zu betreiben, wann und unter welchen Umständen diese Anlagen errichtet und wie lange sie beanstandungsfrei genutzt worden sind. Es ist in der Rechtsprechung vielmehr anerkannt, dass die Bauaufsichtsbehörden bei der Bekämpfung von Schwarzbauten im Rahmen ihrer Ermessensbetätigung so genannte "Stichtagsregelungen" zugrundelegen dürfen. Bei der Ermessensausübung ist den zu beachtenden Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 GG auch dann genügt, wenn die Behörde nur gegen Schwarzbauten vorgeht, die nach einem bestimmten Zeitpunkt errichtet oder verändert worden sind, um so die Verschlechterung einer vorgefundenen Situation zu verhindern. Nach Art. 3 Abs. 1 GG ist die Festlegung eines Zeitpunkts als Stichtag für das zukünftige Einschreiten jedenfalls dann zulässig, wenn er nach sachlichen Kriterien bestimmt ist.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 24.7.2014 - 4 B 34.14 -, BRS 82 Nr. 195 = BauR 2014. 1923, m. w. N.; BVerfG, Kammerbeschluss vom 2.9.2004 - 1 BvR 1860/02 -, BRS 69 Nr. 190 = BauR 2006, 97.

Die Frage, ob das Vorgehen durch eine solche Regelung begrenzt werden soll, stellt sich der Bauaufsichtsbehörde nach Überzeugung des Senats mit besonderem Gewicht im Hinblick auf solche Schwarzbauten, die vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges errichtet worden sind. Denn für solche baulichen Anlagen ist in der heutigen Zeit nicht nur in Rechnung zu stellen, dass sie inzwischen seit vielen Jahrzehnten existieren und die Bauaufsichtsbehörde in diesem langen Zeitraum nicht gegen sie eingeschritten ist. Es ist auch zu berücksichtigen, dass vielfach Aktenbestände - sei es bei den Behörden, sei es in der Hand der hinsichtlich einer Baugenehmigung beweisbelasteten privaten Eigentümer oder ihrer Rechtsvorgänger - durch die Kriegsverhältnisse unvollständig geworden oder ganz verloren gegangen sind und es die bis heute verstrichene Zeit regelmäßig ausschließt, sich durch die Vernehmung von Zeugen Gewissheit über die Umstände der Errichtung eines Gebäudes zu verschaffen. Diese Gesichtspunkte muss die Bauaufsichtsbehörde im Rahmen ihrer Ermessensbetätigung prüfen und in ihre Entscheidung mit angemessenem Gewicht einstellen.

Diesen Anforderungen genügt die streitige Beseitigungsanordnung nicht. Der Beklagte hat sich in der Begründung des angefochtenen Bescheides nicht mit der Entscheidungsoption "Stichtagsregelung" auseinandergesetzt, obgleich dies bei den gegebenen Umständen geboten gewesen wäre. Das Wohnhaus der Klägerin ist - wie dargetan - auch nach den Erkenntnissen des Beklagten vor dem Ende des zweiten Weltkrieges errichtet worden und es wird nach dem übereinstimmenden Vorbringen der Beteiligten und der Aktenlage seit über 70 Jahren als Wohngebäude zu Dauerwohnzwecken genutzt. Die Frage der Legalität des Gebäudebestandes wurde erstmalig im Jahr 2011 von dem Beklagten aufgeworfen. In dem angefochtenen Bescheid führte der Beklagte im Rahmen seiner Ermessensbetätigung lediglich aus, eine Duldung des baurechtswidrigen Zustandes stelle eine Missachtung der im Flächennutzungsplan zum Ausdruck gekommenen Planungsvorstellungen der Gemeinde und dadurch einen Eingriff in deren Planungshoheit dar. Außerdem könne er in gleich gelagerten Fällen nach Art. 3 GG nicht mehr einschreiten; es widerspreche dem Zweck der Landesbauordnung, die Errichtung und die Benutzung solcher illegalen baulichen Anlagen zuzulassen oder zu dulden. Diesen Erwägungen ist zu entnehmen, dass der Beklagte die Möglichkeit des Nichteinschreitens aufgrund einer "Stichtagsregelung" nicht erwogen hat. Der zuständige Mitarbeiter des Beklagten hat dementsprechend auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausdrücklich eingeräumt, dass die Möglichkeit einer solchen Regelung nicht bedacht worden sei.

Der Beklagte hat seine Ermessenserwägungen auch nicht im Sinne des § 114 Satz 2 VwGO nachträglich ergänzt. Nach § 114 Satz 2 VwGO kann die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. Dies ist in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich auch noch im Berufungsverfahren möglich.

Vgl. Redeker/von Oertzen, VwGO, 16. Auflage,§ 114 Rn. 22.

Ein derartiger ergänzender Vortrag ist nicht erfolgt. Ein Nachschieben der vom Senat vermissten Ermessenserwägungen wäre im Übrigen nach § 114 Satz 2 VwGO unzulässig gewesen, weil es sich dabei nicht lediglich um eine Ergänzung der angestellten Ermessenserwägungen, sondern um wesentlich neue Erwägungen gehandelt hätte.

Zur Vermeidung von Missverständnissen weist der Senat darauf hin, dass aus den vorstehenden Überlegungen, die die Anforderungen an die Ermessensbetätigung betreffen, nicht folgt, dass der Erlass einer rechtmäßigen Beseitigungsanordnung vorliegend ausgeschlossen ist. Ferner sei darauf hingewiesen, dass eine "Stichtagsregelung" im vorgenannten Sinne nicht zur Folge hat, dass das Einschreiten gegen vor dem gewählten Stichtag errichtete "Schwarzbauten" stets ausgeschlossen ist; auch eine solche "Ermessensrichtschnur" ist Ausnahmen zugänglich, die allerdings - gemessen am Gleichheitssatz - hinreichend sachlich begründet sein müssen, etwa im Hinblick auf eine qualifizierte Beeinträchtigung öffentlicher Belange.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dem Beklagten auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Entscheidung, die Revision nicht zuzulassen, beruht auf § 132 Abs. 2 VwGO. Gründe für eine Revisionszulassung sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.