VG Dresden, Urteil vom 25.08.2010 - 6 K 2433/06
Fundstelle
openJur 2011, 13501
  • Rkr:

Auch beim Vorliegen einer besondere Gefahrenlage i.S.d. § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO darf die Anordnung einer Radwegebenutzungspflicht nur dann erfolgen, wenn die Straßenverehrsbehörde in der Lage ist, die Radfahrer auf einen sicheren Radweg zu verweisen.

Eine Radwegebnutzungpflicht muß nicht nur erforderlich sondern die Benutzung des Radwegs auch zumutbar sein.

(Leitsätze: Frank Bokelmann)

Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet, die beidseitige Radwegebenutzungspflicht entlang der Kesseldorfer Straße zwischen Tharandter Straße und Koblenzer Straße zurückzunehmen und die entsprechenden Verkehrszeichen zu entfernen.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Aufhebung der Radwegebenutzungspflicht in der Kesselsdorfer Straße in Dresden zwischen Koblenzer Straße und Tharandter Straße. Aus unterschiedlichen Gründen befährt der Kläger diese Strecke immer wieder mit dem Fahrrad. Gegen die bestehende Anordnung der Radwegebenutzungspflicht legte der Kläger mit Schreiben vom 18.05.2006 Widerspruch ein, mit dem er unter Auflistung der Mängel des Radweges in beide Fahrtrichtungen entlang der Kesseldorfer Straße sich gegen den Fortbestand der Radwegebenutzungspflicht wandte.

Nachdem eine Bescheidung seines Widerspruchs nicht erfolgt war, hat der Kläger am 04.12.2006 Klage erhoben, zu deren Begründung er sich auf seinen ausführlichen Widerspruch bezieht.

Mit Schreiben vom 29.01.2007 hat die Beklagte dem Kläger mitgeteilt, dass ihre Untersuchungen ergeben hätten, dass eine Änderung der Beschilderung und Aufhebung der Radwegebenutzungspflicht nicht in Betracht komme. Es werde ihm mit diesem Schreiben Gelegenheit gegeben, vor einer endgültigen Ablehnung seines Widerspruchs diesen zurückzunehmen. Der Kläger hat seine Klage aufrecht erhalten.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, die beidseitige Radwegebenutzungspflicht auf der Kesselsdorfer Straße Abschnitt Koblenzer – Tharandter Straße aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie habe das ihr eingeräumte Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt. Die Anordnung der Radwegebenutzungspflicht sei aus Gründen der Verkehrsicherheit erfolgt. Die Verkehrsbelastung in der Kesseldorfer Straße sei mit bis zu 23.000 Fahrzeugen täglich sehr hoch. Dazu werde die Straße von mehreren Straßenbahnen- und Buslinien des öffentlichen Nachverkehrs benutzt. Eine gemeinsame Fahrbahnbenutzung von Straßenbahnen und Radfahrern bringe eine große Unfallgefahr vor allem wegen des langen Bremsweges der Straßenbahnen mit sich. Deshalb habe sie die streitgegenständliche Anordnung erlassen, da Radwege vorhanden seien. Diese entsprächen im wesentlichen den Anforderungen der StVO. Wo dies nicht der Fall sei, sei der Straßenbaulastträger bereits zur Abhilfe aufgefordert worden.

Durch die Berichterstatterin wurden die Radwege am 6.08.2010 in Augenschein genommen. Insoweit wird auf die Niederschrift vom 06.08.2010 verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs verwiesen.

Gründe

Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig. Sie ist gerichtet auf Rücknahme der zu einem nicht aufklärbaren Zeitpunkt erlassenen Anordnungen einer Radwegebenutzungspflicht für die beidseitigen Radwege entlang der Kesselsdorfer Straße im Abschnitt zwischen Koblenzer Straße und Tharandter Straße. Zwar hatte der Kläger hier Widerspruch gegen die von ihm vorgefundenen Anordnungen eingereicht und in Ermangelung eines Widerspruchsbescheides eine Untätigkeitsklage mit dem formulierten Ziel der Aufhebung der Anordnungen eingereicht. Da diese Anordnungen nach der unbestrittenen Darstellung der Beklagten im Ortstermin seit Jahren bestehen, ist ein Widerspruch des Klägers mit sich anschließender Anfechtung der Anordnungen nicht mehr zulässig. Das Begehren des Klägers kann allerdings als Antrag auf Rücknahme der Anordnungen ausgelegt werden und hat insoweit Erfolg. Ihm ist wegen Art. 19 Abs. 4 GG unter erleichterten Bedingungen (vgl. U. Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., § 41 Rn. 140 m.w.N.) ein Wiederaufgreifensanspruch i.w.S. (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 14.12.1977 - VIII C 79.76 -, Buchholz 316 § 36 VwVfG Nr. 1, so auch VGH Bad-Württ. a.a.O) zu gewähren.

Der Kläger ist insbesondere klagebefugt im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO. Die nach § 42 Abs. 2 VwGO erforderliche Klagebefugnis fehlt, wenn unter Zugrundelegung des Vorbringens des Klägers offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise subjektive Rechte des Klägers verletzt sein können (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.08.2003, Az. 3 C 15.03; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., 2007, § 42 Rdnr. 65, m.w.N.). Die vom Kläger dargelegte Art und Weise der Nutzung der Radwege aufgrund seiner persönlichen Lebensumstände unterstreicht seinen Vortrag, dass er diese regelmäßig nutzt, und die daraus folgende Möglichkeit einer Verletzung in eigenen Rechten durch die getroffenen Anordnungen.

Möglicherweise verletzte Rechte können dem Kläger auch aus § 45 Abs. 9 StVO zustehen, an dem die Anordnungen der Beklagten zu messen sind. Zwar richtet sich die Vorschrift nach ihrer Entstehungsgeschichte und ihrem Wortlaut primär an die Verwaltung und soll im öffentlichen Interesse die Zahl der Verkehrsschilder auf das notwendige Minimum beschränken. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der betroffene Verkehrsteilnehmer durch eine Missachtung dieser Bestimmung nicht in seinen Rechten verletzt werden kann. Denn der Einzelne besitzt einen Anspruch darauf, dass seine grundrechtlich in Art. 2 Abs. 2 GG verbürgte allgemeine Handlungsfreiheit nur nach Maßgabe der Gesetze eingeschränkt wird. Ein Verkehrsteilnehmer kann deshalb als Verletzung seiner Rechte geltend machen, die rechtssatzmäßigen Voraussetzungen für eine auch ihn treffende Verkehrsbeschränkung nach § 45 Abs. 1 StVO seien nicht gegeben (vgl. Bay VGH, Urteil vom 11. August 2009 - 11 B 08.186 - m.w.N., Juris).

Die Klage ist auch begründet. Der Kläger kann verlangen, dass die Beklagte die beanstandete straßenverkehrsrechtliche Anordnung einer Radwegebenutzungspflicht für die Kesselsdorfer Straße zurücknimmt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO) und die entsprechenden Verkehrszeichen 241 entfernt (§ 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO entspr.). Die Unterlassung der der Sache nach begehrten Rücknahmeentscheidung ist insofern rechtswidrig und verletzt den Kläger auch in seinen Rechten.

Die Kammer ist mit dem VGH Baden-Württemberg der Auffassung, dass maßgebliche Rechtsgrundlage für dieses Begehren § 1 Satz SächsVwVfG i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG ist (vgl. wegen der insoweit vertretenen Auffassungen VGH Bad.-Württ., Urt. v. 19.11.2009 – 5 S 575/09 zit. nach Juris). Zu einer Entfernung der angegriffenen Verkehrszeichen ist die Beklagte erst gehalten, wenn sie verpflichtet ist, die mit deren Aufstellung (vgl. §§ 39 Abs. 2, 45 Abs. 4 StVO) öffentlich bekanntgegebene - inzwischen bestandskräftig gewordene (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl v. 05.03.2009 - 5 S 3146/08 – zit nach Juris) - straßenverkehrsrechtliche Anordnung einer Radwegebenutzungspflicht zurückzunehmen. § 45 Abs. 3 Satz 1 StVO, wonach „im Übrigen die Straßenverkehrsbehörden bestimmen, wo und welche Verkehrszeichen anzubringen und zu entfernen sind“, dient lediglich der Abgrenzung der Zuständigkeiten der Straßenverkehrs- und Straßenbaubehörden beim (tatsächlichen) Aufstellen und Entfernen der Verkehrszeichen als Vollzug der diesen zugrundeliegenden verkehrsbehördlichen Anordnungen (auch insoweit VGH Bad.-Württ. a.a.O mit weiteren Nachweisen und Darstellung der Diskussionslage). § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO ermächtigt die Straßenverkehrsbehörde schließlich nur zum Erlass verkehrsrechtlicher Anordnungen und stellt, da sie keine umfassende Entscheidung zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit enthält, ebenfalls - jedenfalls gegenüber § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG - keine Sonderregelung für die Rücknahme rechtswidriger belastender straßenverkehrsbehördlicher Anordnungen dar.

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er – wie hier - unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Aus dem der Behörde eröffneten Rücknahmeermessen folgt, dass ein zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts führender Rechtsverstoß nur notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung für die Rücknahme und einen darauf zielenden Anspruch des Betroffenen bildet. Der Gesetzgeber räumt bei der Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise weder dem Vorrang des Gesetzes noch der Rechtssicherheit als Facetten des Rechtsstaatsprinzips einen generellen Vorrang ein. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen vielmehr grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander, sofern dem anzuwendenden Fachrecht nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.03.2008 - 1 C 33.07 - Buchholz 402.242 § 54 AufenthG Nr. 5). Für die Entscheidung hinsichtlich der Entfernung eines rechtswidrigen Verkehrszeichens können den gesetzlichen Regelungen keine grundsätzlichen Vorgaben entnommen werden.

Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht aber ausnahmsweise dann Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts (sog. Ermessensreduktion auf Null) - und nicht nur auf ermessensfehlerfreie Bescheidung des Rücknahmebegehrens -, wenn dessen Aufrechterhaltung "schlechthin unerträglich" erscheint, was von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt. Allein die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts begründet einen solchen Anspruch allerdings noch nicht, da der Rechtsverstoß lediglich die Voraussetzung einer Ermessensentscheidung der Behörde ist. Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist insbesondere dann "schlechthin unerträglich", wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben erscheinen lassen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.03.2008, a.a.O.). Darüber hinaus vermag die offensichtliche Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts die Annahme zu rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.01.2007, a.a.O.).

Ausgehend von diesen Grundsätzen kann der Kläger beanspruchen, dass die Beklagte die auch ihn belastende Anordnung der Radwegebenutzungspflicht, die seit der zum 01.10.1998 in Kraft getretenen sog. Fahrradnovelle (24. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 07.08.1997, BGBl. I S. 2028) nicht mehr als allgemeine Regelung besteht, sondern der jeweiligen Anordnung im Einzelfall bedarf (§ 2 Abs. 4 Satz 2 StVO), zurücknimmt und die entsprechende Beschilderung mit den Zeichen 241 wieder entfernt (vgl. § 45 Abs. 3 Satz 1 StVO).

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Rücknahme der auch den Kläger belastenden Anordnung einer Radwegebenutzungspflicht liegen ersichtlich vor, da diese (offensichtlich) rechtswidrig ist. Da sich jede andere Entscheidung als die vom Kläger begehrte Rücknahmeentscheidung als ermessensfehlerhaft darstellte, kann dieser auch ausnahmsweise unmittelbar die Rücknahme der ihn belastenden straßenverkehrsrechtlichen Anordnung und damit auch die Entfernung der beanstandeten Beschilderung verlangen.

Ermächtigungsgrundlage für die unstreitig seit langem angeordnete Radwegebenutzungspflicht ist nach der jetzigen Rechtslage § 45 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 i.V.m. Abs. 9 Satz 2 StVO.

Danach können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und diese Regelung durch Verkehrszeichen treffen. Diese allgemeine Befugnis wird durch § 45 Abs. 9 StVO dahingehend eingeschränkt, dass Verkehrszeichen nur dort anzuordnen sind, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend geboten ist. Insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen danach nur angeordnet werden, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen des § 45 StVO genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt (zur Anwendung des § 45 Abs. 9 StVO auch auf die Radwegebenutzungspflicht nach § 2 Abs. 4 StVO vgl. sehr ausführlich Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (Bay VGH), Urteil vom 11. August 2009 - 11 B 08.186 - m.w.N. zit. nach Juris). Für Beschränkungen des fließenden Verkehrs auf Fahrbahnen setzt § 45 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO eine Gefahrenlage voraus, die - erstens - auf besondere örtliche Verhältnisse zurückzuführen ist und - zweitens - das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den voran stehenden Absätzen genannten Rechtsgüter (hier insbesondere: Leben und Gesundheit von Verkehrsteilnehmern sowie öffentliches und privates Sacheigentum) erheblich übersteigt. Dabei stellt das Erfordernis, die Verkehrsflüssigkeit und -leichtigkeit innerhalb innerstädtischer Ballungsgebiete zu erhalten und zu gewährleisten, ebenfalls einen berücksichtungsfähigen und – bedürftigen Gesichtspunkt der zu erhaltenden Ordnung des Verkehrs dar (vgl. König in: Hentschel /König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, § 45 StVO Rdnr. 28, m.w.N.).

Die besonderen örtlichen Verhältnisse an der Kesselsdorfer Straße begründen eine Gefahrenlage, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen des § 45 StVO genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Die Beklagte hat die Verkehrssituation auf der Kesselsdorfer Straße zutreffend als im Vergleich zu anderen innerstädtischen Verkehrslagen hinreichend gefährlich eingeschätzt. Die Kesselsdorfer Straße ist eine der großen Ein- und Ausfallstraßen Dresdens. Als Hauptverkehrsstraße weist sie eine tägliche Kraftfahrzeugbelastung zwischen 12.820 Kfz stadtauswärts nach der Einmündung Saalhauser Straße, 20110 bzw. 21.350 Kfz im Bereich der Rudolf-Renner-Straße und 13.220 Kfz im Bereich der Tharandter Straße auf (die Messungen stammen aus September 2008 bzw. September 2009). Bei derart hohen Belastungszahlen, nämlich Belastungen mit mehr als 10.000 Kfz/24h, ist nach Ziffer 2.2.1 und Ziffer 4.1.3 der Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA 95) in der Regel eine Trennung von Radfahrern und Kraftfahrzeugen vorgesehen. Die genannten Empfehlungen sind gemäß Ziffer I Nr. 5 Abs. 2 zu § 4 Satz 2 der zur Erreichung einer bundesweit einheitlichen Anwendung der StVO erlassenen und zum Inkrafttreten der 46. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 5. August 2009 (BGBl 2009, 2631) geänderten, seit dem 1. September 2009 geltenden Fassung der Verwaltungsvorschrift (VwV-StVO) des Bundesministers für Verkehr zu berücksichtigen. Zwar ist vorgesehen, die ERA anlässlich der zum 1. September 2009 in Kraft getretenen Änderungen der StVO sowie der dazu ergangenen Verwaltungsvorschrift ebenfalls zu ändern. Eine Änderung ist allerdings noch nicht erfolgt. In Bezug zu der ermessenslenkenden StVO-VwV haben die dortigen Angaben zwar keine Verbindlichkeit für das Gericht, bieten jedoch eine Beurteilungshilfe, die die Kammer nicht außer Acht lassen möchte.

Zusätzlich wird die konkrete Verkehrslage bestimmt durch die in der Fahrbahn verlaufenden Schienen der in beide Richtungen fahrenden Straßenbahnen, die zum Teil in recht dichter Abfolge verkehren. Des Weiteren verkehren hier mehrere Buslinien. Auch die Frequentierung durch Radfahrer ist durchaus beachtlich, was auch durch die Verkehrszählungen im August und September 2009 belegt ist. Die Gefährlichkeit der Gesamtsituation wird weiterhin dadurch bestimmt, dass in weiten Teilen der Kesseldorfer Straße am Fahrbahnrand geparkt werden darf und sich dadurch die zur Verfügung stehenden Fahrspuren auf eine Spur verengen, die auch von der Straßenbahn genutzt wird.

Die nach allem vorhandene besondere Gefahrenlage stellt sich als eine Situation dar, in der die Beklagte zur Anordnung einer Radwegebenutzungspflicht im fraglichen Bereich berechtigt wäre, wenn sie in der Lage wäre, die Radfahrer auf einen sicheren Radweg zu verweisen. Bei ihrer Ermessensausübung hat die Straßenverkehrsbehörde die ihr Ermessen lenkende VwV-StVO und die in der Verwaltungsvorschrift in Bezug genommene ERA 95 zu beachten. Nach den genannten ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften, die eine bundesweit einheitliche Anwendung des § 45 StVO sicherstellen sollen, stellen sich die streitgegenständlichen Radwege, auf die Radfahrer durch die angeordnete Radwegebenutzungspflicht zwingend verwiesen werden, als unzumutbar dar.

So unterschreitet die Breite der vorhandenen Radwege in ihren weitaus größeren Teilen deutlich die Mindestbreite von 1,50 m nach Ziffer II Nr. 2 aa) VwVO-StVO. Soweit die Breite des Radwegs im Bereich Koblenzer Straße/Malter Straße mit 1,47 cm an 1,50 m heranreicht, gelingt dies nur, wenn auch die unmittelbar zur Fahrbahn angrenzende 15 cm breite Granitkante ebenfalls als zur sicheren Nutzung zur Verfügung stehende Fläche hinzugerechnet wird. Dies erscheint jedoch bereits deshalb nicht zumutbar, weil ein sicheres Fahren nicht unmittelbar am Kantenrand möglich ist. In anderen Bereichen ist die Breite noch geringer; so beträgt sie ab der Rudolf-Renner-Straße bis Bünaustraße maximal 1,40 m, wenn die Markierungen der Breite hinzu gerechnet werden, ab der Bünaustraße einschließlich der nicht befahrbaren 15 cm breiten Wildgranitkante 1,20 m. In sich wiederholenden Bereichen überwuchern Pflanzen der am Rand des Radwegs aufgestellten Pflanzkübel den Radweg derart, dass lediglich 70 cm Freiraum verbleiben. Die somit im überwiegenden Teil des Radweges festgestellte zu geringe Breite ist in ähnlicher Weise auch bei dem stadtauswärts führenden Radweg festzustellen. Hier gilt dies für den Bereich zwischen Gröbelstraße und Reisewitzer Straße und dem Reisewitzer Straße bis Rudolf-Renner-Straße. Weitere Gefährdungen werden durch den häufigen Wechsel des Belags und seine Schadhaftigkeit verursacht: neben dem überwiegend glatten Granitkantenstein ist der übrige Radweg streckenweise in Betonpflaster gehalten und beide Flächen sind sehr häufig durch eine merkliche Rille von einander abgesetzt, so dass ein gefahrloser Wechsel des Fahrbereichs nicht zu erwarten ist. Hinzu kommt in großen Teilen des Radweges als weitere beachtliche Gefährdung der den Weg benutzenden Radfahrer hinzu, dass diese sich im Türöffnungsbereich der auf der Fahrbahn parkenden Fahrzeuge bewegen müssen und wegen der auf der anderen Seite des Radweges befindlichen Hindernisse (Bäume, Waschbetonkübel) einer sich öffnenden Tür nicht ausweichen können. Die wegen dieser Situation drohenden Unfälle haben sich ausweislich der vorgelegten Unfallstatistik auch bereits realisiert. Die sichere Nutzung des Radweges wird zudem durch den mehrfach wechselnden und in Teilbereichen sehr schadhaften oder nicht ebenen Belag erschwert. Weitere Umstände, die einer sicheren Nutzung der beiden Radwege entgegenstehen, ist in der mangelnden Trennung des Radverkehrs vom zum Teil ganz erheblichen Fußgängerverkehr zu sehen. So führt der Radweg an mehreren Stellen unmittelbar hinter Straßenbahnhaltestellen vorbei, ohne dass durch irgend eine Sicherungsmaßnahme hier mögliche Zusammenstöße verhindert werden. Auch an viel begangenen Zugängen zu Läden führen die Radwege in gemeinsamer Führung mit dem Fußweg entlang. Als mögliche Einsatzbereiche einer solchen Führung sind nach Ziffer 2.2.1.2 ERA 95 weitgehend anbaufreie Straßen mit nur geringer Randbenutzung durch Fußgänger sowie ggf. ländliche Ortsdurchfahrten vorgesehen. Eine derartige Situation liegt nicht im Ansatz auf der Kesselsdorfer Straße vor. Die Gefährlichkeit der dort anzutreffenden Situation schlägt sich auch bei den registrierten Unfällen nieder.

Wegen der überwiegend zu geringen Breite der Radwege, die zum Teil sehr deutlich von der Mindestbreite abweicht, ist ein Überholen langsamerer Radfahrer vielfach nicht möglich. Auch insoweit handelt es sich bei dem beschriebenen Mangel nicht um eine im Rahmen der konkreten Abwägung hinzunehmende geringfügige Beeinträchtigung. Zwar ergibt sich weder aus der StVO noch aus anderen Bestimmungen ein Anspruch der Verkehrsteilnehmer auf ein optimales Fortkommen mit der maximal zulässigen Geschwindigkeit. Allerdings bezieht sich die auf diese Art beeinträchtigte Nutzbarkeit nahezu auf die gesamte Länge der in beide Richtungen führenden Radwege von etwa 1,5 km und ist in Anbetracht der starken Nutzung dieses Verkehrsweges durch Radfahrer, die in unterschiedlichen Geschwindigkeiten über diese lange Strecke unterwegs sind, ein maßgebliches Kriterium für die Sicherheit und Leichtigkeit des Radverkehrs.

Erweisen sich in einer Situation, in der wegen der besonderen Verkehrssituation eine Radwegebenutzungspflicht in Betracht zu ziehen ist, die vorhandenen Radwege als nicht den Verwaltungsvorschriften entsprechend und als die Verkehrsteilnehmer gefährdend, so ist eine Abwägung geboten, ob der beabsichtigte Vorteil die zu erwartenden Nachteile bei Befolgung der Radwegebenutzungspflicht überwiegen. Diese Abwägung ergibt im vorliegenden Falle insbesondere wegen der fast durchgängig zu geringen Breite der Radwege bei vielfach schlechter Oberfläche, der häufigen Führung im Türöffnungsbereich der parkenden Wagen und der mangelnden Trennung vom Fußgängerverkehr, dass der Vorteil der verpflichtenden Radwegebenutzung nicht überwiegt. In den Wintermonaten verschlechtert sich die Nutzungssituation noch dadurch, dass die Beklagte offenbar ihren Winterdienst nicht auf die Radwege erstreckt, wie dies vom Kläger vorgelegte Bilder aus dem vergangenen Winder belegen. Bei dieser Abwägung fällt auch ins Gewicht, dass auch bei Aufhebung der Radwegebenutzungspflicht die bestehenden Radwege weiterhin zur freiwilligen Benutzung zu Verfügung stehen. Vor diesem Hintergrund kann daher nicht von einer Rechtmäßigkeit der Radwegebenutzungspflicht ausgegangen werden.

Erweist sich mithin die beanstandete verkehrsrechtliche Anordnung jedenfalls wegen der derzeitigen Ausgestaltung der Radwege als offensichtlich rechtswidrig, rechtfertigt dies auch die Annahme, dass ihre weitere Aufrechterhaltung schlechthin unerträglich wäre, so dass eine Verpflichtung zur Rücknahme der Anordnung besteht. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die verbindliche Nutzungsanordnung hinsichtlich der Radwege im vorliegenden Fall nicht nur die grundsätzliche freie Entscheidung des Verkehrsteilnehmers beeinflusst, sondern vorliegend auf der Hand liegende eigenständige Gefährdungen für den Radfahrer schafft.

Die Beklagte ist daher zur Aufhebung der Anordnung und Beseitigung der entsprechenden Beschilderung zu verpflichten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Berufung war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 124 a Abs. 1 S. 1 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO nicht vorliegen.