SG Lüneburg, Urteil vom 29.10.2012 - S 2 U 90/10
Fundstelle
openJur 2013, 3251
  • Rkr:
Tenor

1. Der Bescheid vom 02.03.2010 und der Widerspruchsbescheid vom 05.07.2010 werden aufgehoben.

2. Es wird festgestellt, dass es sich bei dem Ereignis vom 17.10.2009 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat.

3. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Arbeitsunfalls.

Die im Jahr 1946 geborene Klägerin ist gelernte Weberin. Im Jahr 1989 absolvierte sie die Meisterprüfung. Seit 1994 betreibt sie eine Handweberei. Nach dem Mitgliedsschein vom 22.11.1994 ist sie seit dem 01.07.1994 als Unternehmerin mit dem Gewerbezweig "Handweberei" Mitglied der Beklagten und satzungsmäßig pflichtversichert (vgl. § 543 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung <= RVO>/§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch <= SGB> VII i. V. m. § 52 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 17 der Satzung der Beklagten i. d. F. vom 01.04.2009).

Außerdem war die Klägerin von 1970 bis 1990 als Lehrerin in der Orientierungsstufe in H. und später für den I. in J. (hier: Werkhof) als Dozentin tätig. Nach ihren Angaben im Schreiben vom 08.02.2010 handelt es sich hierbei um eine der wenigen Institutionen in Deutschland, in denen es überbetrieblich möglich sei, sich auf die Gesellenprüfung im Weberhandwerk vorzubereiten. Sie würde dort als Webermeisterin Praxis und Theorie sowie in ihrer Eigenschaft als Unternehmerin Wirtschafts- und Sozialkunde unterrichten. Im Fach Materialkunde sei es ihr außerdem möglich, Materialien aus ihrem Betrieb zu benutzen und zu verkaufen. Nach den übereinstimmenden Angaben der Klägerin und des Werkhofs übt sie ihre Tätigkeit als Dozentin als freie Mitarbeiterin aus und stellt dem Werkhof ihre Leistungen jeweils einzeln in Rechnung. Innerhalb ihres Fachgebietes arbeitet sie jeweils weisungsfrei (Bl. 36, 50 UA).

Am 07.10.2009 erlitt die Klägerin auf dem Weg zum Unterricht in dem Werkhof einen Unfall, als sie beim Tragen einer Bücherkiste auf dem Kopfsteinpflaster der Hofeinfahrt stolperte, stürzte und mit dem rechten Knie auf einen spitzen Stein aufschlug. Im Durchgangsarztbericht der Dres. K. und L. vom 19.10.2009 wurden als Diagnosen eine "Patellafraktur rechts und der Verdacht auf eine hereditäre Thrombophilie“ angegeben (Bl. 1 UA).

Am 19.10.2009 erstattete die Klägerin die Unfallanzeige (Bl. 5 UA). Am 05.11.2009 gab die Beklagte gegenüber dem Sanitätshaus M. im Hinblick auf eine Knielagerungsschiene ein Kostenanerkenntnis ab (Bl. 17 UA). Mit den Schreiben vom 11.11.2009 und vom 08.12. 2009 recherchierte die Beklagte bei der Klägerin und dem Werkhof die genaueren Umstände der Dozententätigkeit. Nach Eingang der Antworten erfolgte am 17.12.2009 bei der Beklagten eine interne Vorlage dahingehend, dass ein Wegeunfall nicht anerkannt werden könne, da sich das Ereignis nicht im Zusammenhang mit der satzungsmäßig versicherten Tätigkeit ereignet habe (Bl. 44 UA). Der Vorlage wurde jedoch zunächst nicht zugestimmt, sondern bei der Grundsatzabteilung angefragt, ob der Nebenerwerb der Klägerin von der Versicherungskraftsatzung erfasst sei.

Gleichwohl gewährte die Beklagte der Klägerin mit dem Bescheid vom 05.01.2010 wegen des Unfalls vom 17.10.2009 Verletztengeld für die Zeit vom 21.10.2009 bis zum 11.12. 2009 in Höhe von insgesamt 2496.- €. Es wurde ausgeführt, dass die Klägerin gemäß § 45 SGB VII Anspruch auf Verletztengeld habe, solange sie wegen der Folgen des Versicherungsfalls arbeitsunfähig gewesen sei und Arbeitsentgelt nicht bezogen habe. Ein Vorbehalt der Rückforderung war darin nicht aufgeführt. Der Bescheid enthielt außerdem eine Rechtsbehelfsbelehrung (Bl. 60 UA).

Mit dem Schreiben vom 01.02.2010 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie beabsichtigen würde, das Ereignis vom 17.10.2009 als Arbeitsunfall abzulehnen, da die Dozententätigkeit nicht von dem satzungsmäßigen Versicherungsschutz umfasst sei. Demgegenüber vertrat die Klägerin im Schreiben vom 08.02.2010 die Ansicht, dass sie die Dozententätigkeit in ihrer Eigenschaft als Webermeisterin und Unternehmerin ausüben würde.

Mit dem Bescheid vom 02.03.2010 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 17.10.09 als Arbeitsunfall ab. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 05.07.2010 zurückgewiesen.

Hiergegen hat die Klägerin durch ihre Prozessbevollmächtigten am 04.08.2010 beim Sozialgericht Lüneburg Klage erhoben. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es zur Tätigkeit eines Handwerksmeisters gehören würde, sich an der Förderung des Nachwuchses zu beteiligen. Die von der Beklagten zur Begründung ihrer Entscheidung herangezogene Trennung zwischen der unternehmerischen Tätigkeit der Klägerin einerseits und der Dozententätigkeit andererseits würde in der Praxis nicht existieren.

Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,

1.) den Bescheid der Beklagten vom 02.03.2010 und den Widerspruchsbescheid vom 05.07.2010 aufzuheben,

2.) festzustellen, dass es sich bei dem Ereignis vom 17.10.2009 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.

Gründe

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage gem. § 54 Abs. 1 i.V.m. § 55 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz <= SGG> zulässig (vgl. Bundessozialgericht <= BSG>, Urt. v. 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R). Die Klägerin hat an der beantragten Feststellung auch ein besonderes Interesse, da die Beklagte auch noch in der mündlichen Verhandlung die Auffassung vertreten hat, dass weder in formell-rechtlicher noch in materiell-rechtlicher Hinsicht das angeschuldigte Ereignis als Arbeitsunfall anerkannt werden könne.

Die Klage ist auch begründet. Die angefochtenen Entscheidungen sind rechtswidrig und waren aufzuheben, da die Beklagte hiermit nicht mehr die Anerkennung des Ereignisses vom 17.10.2009 als Arbeitsunfall ablehnen konnte. Vielmehr hatte die Beklagte bereits mit dem Bescheid über die Gewährung von Verletztengeld vom 05.01.2010 inzident und rechtsverbindlich darüber entschieden, dass es sich bei dem Ereignis vom 17.10.2009 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat. Dies ergibt sich aus der Auslegung des genannten Verwaltungsakts (siehe hierzu: LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 28.11.2008 - L 9 U 95/06). Bei der Auslegung behördlichen Handelns ist in Anwendung der für die Auslegung von Willenserklärungen maßgeblichen Grundsätze (§§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch) der objektive Sinngehalt der Erklärung zu ermitteln, d. h. es ist zu klären, wie der Empfänger die Erklärung bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalls objektiv verstehen musste. Dabei ist auf den Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten abzustellen, der in Kenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge den wirklichen Willen der Behörde erkennen kann. Dabei sind auch der Antrag und der Gang des Verwaltungsverfahrens bei der Auslegung des ergangenen Verwaltungsakts einzubeziehen (BSG, Urt. v. 11.11.2003 - B 2 U 32/02 R).

Im vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin durch die nur 2 Tage nach dem Unfall gestellte Unfallanzeige dokumentiert hat, dass sie eine Anerkennung des Ereignisses vom 17.10.2009 als Arbeitsunfall anstrebt. Durch die gegenüber dem Sanitätshaus M. erteilte Kostenzusage vom 05.11.2009 bezüglich einer Knielagerungsschiene konnte die Klägerin auch annehmen, dass die Beklagte vom Vorliegen eines Arbeitsunfalls ausgeht. Zwar wurde die Klägerin im Schreiben vom 11.11.2009 sowie der Werkhof im Schreiben vom 08.12.2008 noch nach den genaueren Umständen und den rechtlichen Rahmen der Dozententätigkeit befragt. Der Bescheid vom 05.01.2010 ist jedoch in Kenntnis der gegebenen Antworten ergangen. Bei dessen Auslegung ist wiederum zu beachten, dass die Zahlung von Verletztengeld das Vorliegen eines Arbeitsunfalls zwingend voraussetzt. Auch aus den Formulierungen im Bescheid „…Ihr Unfall vom 17.10.2009" und "…haben Sie Anspruch auf Verletztengeld, solange sie wegen der Folgen des Versicherungsfalls arbeitsunfähig waren…“ kann unter Zugrundelegung des Empfängerhorizonts eines verständigen Beteiligten nur geschlossen werden, dass die Beklagte das Ereignis als Arbeitsunfall anerkannt hat. Darüber hinaus enthielt der Bescheid auch keinerlei Vorbehalte, aus denen man hätte schließen können, dass eine endgültige Entscheidung über die Feststellung des Arbeitsunfalls noch nicht getroffen war. In der gängigen Praxis der Unfallversicherungsträger ist es nämlich nicht unüblich, entsprechende Vorbehalte in Bescheide über die Gewährung von Verletztengeld aufzunehmen (etwa: Sollte sich herausstellen, dass ein Arbeitsunfall nicht vorgelegen hat oder unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit nicht oder nur in geringerem Umfang vorgelegen hat, sind sie verpflichtet, die überzahlten Beträge zurückzuerstatten“). Der förmliche Charakter der Entscheidung kommt schließlich auch aufgrund der darin enthaltenen Rechtsbehelfsbelehrung zum Ausdruck. Dem Umstand, dass sich die Beklagte intern noch nicht sicher war, ob zum Unfallzeitpunkt Versicherungsschutz bestand, kommt hier entsprechend dem Grundsatz des § 116 BGB keine Bedeutung zu. Danach ist eine Willenserklärung nicht deshalb unwirksam, weil sich der Erklärende insgeheim vorbehält, das Erklärte nicht zu wollen.

Da eine Entscheidung der Beklagten über die Rücknahme des Bescheid vom 05.01.2010 nicht ergangen ist (§ 45 SGB X), konnte sie mit dem Bescheid vom 02.03.2010 (i. d. F. des Widerspruchsbescheids vom 05.07.2010) die Anerkennung des Ereignisses vom 17.10. 2009 als Arbeitsunfall nicht mehr ablehnen.

Da hier bereits aus formell-rechtlichen Gründen vom Vorliegen eines Arbeitsunfalls auszugehen ist, kann dahinstehen, ob die Dozententätigkeit tatsächlich von dem satzungsmäßigen Versicherungsschutz, der in der Tat nur die Handweberei betrifft, erfasst war. Zur Vermeidung von Rechtsnachteilen in der Zukunft wird der Klägerin jedoch anheimgestellt, sich mit der Beklagten beziehungsweise mit dem für den Werkhof zuständigen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung hinsichtlich der Möglichkeiten zur Erlangung des Versicherungsschutzes für die Dozententätigkeit in Verbindung zu setzen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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