VG Düsseldorf, Beschluss vom 11.07.2011 - 8 L 924/11
Fundstelle
openJur 2012, 81079
  • Rkr:

Ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis in Gestalt einer krankheitsbedingten Reisefähigkeit (hier psychische Erkrankung) liegt auch dann vor, wenn zwar während des Abschiebungsvorgangs drohenden Gesundheitsgefahren oder Suizidversuchen durch ärztliche Begleitung und weitere geeignete Maßnahmen Rechnung getragen, nicht aber dafür gesorgt wird, dass auch bei einer Ankunft im Zielstaat der Abschiebung eine sich unmittelbar anschließende psychologische Betreuung sichergestellt ist. Dies fällt in den Verantwortungsbereich der Ausländerbehörde, die eine entsprechende Versorgung mit dem Zielstaat, auch wenn dieser als EU-Staat- wie hier Bulgarien - an die Richtlinie 2003/9/EG zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten gebunden ist.

Tenor

Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung un-tersagt, den Antragsteller vor dem 12. August 2011 abzuschieben. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens tragen der Antragsteller zu 1/3 und die Antragsgegnerin zu 2/3.

Der Streitwert wird auf 1.250,00 Euro festgesetzt.

Gründe

Der wörtlich gestellte Antrag,

der Antragsgegnerin die Abschiebung des Antragstellers zu untersagen, bis diesem bzw. dessen Prozessbevollmächtigten das Ergebnis einer amtsärztlichen Untersuchung mitgeteilt und eine angemessene Frist zur Stellungnahme eingeräumt wurde,

hat nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Er richtet sich zunächst gegen die richtige Antragsgegnerin, da - hier geltend gemachte - inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse grundsätzlich von der Ausländerbehörde zu prüfen sind. Ob sich etwas anderes, nämlich die Zuständigkeit des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), dann ergibt, wenn dieses eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG erlassen hat,

vgl. dazu OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, juris, m.w.N.,

braucht vorliegend nicht entschieden zu werden, weil eine solche bislang jedenfalls offenbar nur als Entwurf vorliegt und dem Antragsteller noch nicht bekannt gegeben wurde.

Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm der geltend gemachte Anspruch zusteht (Anordnungsanspruch) und dieser Anspruch in einer Weise gefährdet ist, dass er durch eine gerichtliche Eilentscheidung gesichert werden muss (Anordnungsgrund), vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO.

Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Der Anordnungsgrund folgt aus der zwar noch nicht terminierten, aber für alsbald beabsichtigten Abschiebung des Antragstellers.

Ein Anordnungsanspruch ist ebenfalls glaubhaft gemacht. Es ist davon auszugehen, dass er derzeit reiseunfähig ist.

Ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 a Abs. 2 AufenthG in Gestalt einer krankheitsbedingten Reiseunfähigkeit kann gegeben sein, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers unmittelbar durch die Abschiebung bzw. als unmittelbare Folge davon voraussichtlich wesentlich verschlechtern wird.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 3. März 2005 - 18 B 339/05 -, vom 24. März 2005 - 18 B 1660/04 -, vom 11. Oktober 2005 - 18 A 3204/05 - und vom 24. Februar 2006 - 18 A 916/05 -, alle in juris.

Dabei bestimmen sich die Anforderungen an die staatliche Schutzpflicht nach den Besonderheiten des Einzelfalls. Der Ausländerbehörde obliegt es, gegebenenfalls durch eine entsprechende Gestaltung der Abschiebung, die notwendigen Vorkehrungen - etwa durch ärztliche Hilfe bis hin zur Flugbegleitung - zu treffen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. April 2002 - 2 BvR 553/02 -, InfAuslR 2002, 415.

Wenn dem Ausländer unmittelbar nach seiner Ankunft im Zielstaat eine Gesundheitsgefährdung im vorgenannten Sinne droht, endet die Schutzpflicht nicht mit der Ankunft des Ausländers im Zielstaat, sondern dauert bis zum Übergang in eine Versorgung und Betreuung dort fort. Dann ist sicher zu stellen, dass erforderliche Hilfen rechtzeitig nach der Ankunft im Heimatland zur Verfügung stehen, wobei der Ausländer allerdings auch in diesem Zusammenhang auf den allgemein üblichen Standard der Möglichkeiten in seinem Heimatland verwiesen ist. Dies zugrunde gelegt kann bei einer psychischen Erkrankung, wie sie hier in Rede steht, vom Vorliegen eines inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisses im genannten Sinn außer in Fällen einer Flugreise- bzw. Transportuntauglichkeit im engen Sinne nur ausgegangen werden, wenn entweder im Rahmen einer Abschiebung die ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Ausländers droht, der auch nicht durch ärztliche Hilfen oder in sonstiger Weise wirksam begegnet werden kann, oder wenn dem Ausländer unmittelbar durch die Abschiebung bzw. als unmittelbare Folge davon sonst konkret eine erhebliche und nachhaltige Verschlechterung des Gesundheitszustands droht, die allerdings - in Abgrenzung zu zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen - nicht wesentlich (erst) durch die Konfrontation des Betreffenden mit den Gegebenheiten im Zielstaat bewirkt werden darf. Ferner kann ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis aufgrund einer (auch psychischen) Erkrankung vorliegen, wenn dem Ausländer bei seiner Ankunft im Zielstaat eine Gefährdung im Sinne des oben aufgezeigten Maßstabs droht, weil es an einer erforderlichen, unmittelbar nach der Ankunft einsetzenden Versorgung und Betreuung fehlt.

OVG NRW, Beschluss vom 29. November 2010 - 18 B 910/10 -, juris.

Nach diesen Kriterien ist eine für den aus dem Tenor ersichtlichen Zeitraum bestehende Reiseunfähigkeit glaubhaft gemacht. Ausweislich des ärztlichen Berichts der Rheinischen Kliniken Düsseldorf vom 17. Juni 2011, der anknüpft an die vorangegangenen psychotherapeutischen Stellungnahmen der Diplom-Psychologin Anke Schümer vom 27. September 2010, 1. Oktober 2010, 20. Dezember 2011, 11. November 2010 und vom 14. April 2011, leidet der Antragsteller unter anderem an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Unter "Therapie und Verlauf" heißt es im vorletzten Absatz des Berichts, dass eine anhaltende, chronische und schwergradige depressive Störung nach posttraumatischer Belastungsstörung vorliege, welche rezidivierend zu einer krisenhaften Zuspitzung mit akuter Suizidalität führe. Eine Trennung von der hier in Deutschland lebenden Familie werde zu einer erneuten Retraumatisierung des Antragstellers mit krisenhafter Zuspitzung führen bis hin zu erneuten schweren Suizidversuchen. In der zuletzt noch eingereichten ärztlichen Stellungnahme der Rheinischen Kliniken E vom 22. Juni 2011 heißt es, dass sich der Antragsteller (erneut) seit dem 21. Juni 2011 in stationärer Behandlung befinde. Sein Gesundheitszustand sei gegenwärtig sehr instabil. Eine Behandlung sei nur in stationärem Rahmen möglich. Eine Aussage über die Dauer des Aufenthalts sei gegenwärtig noch nicht möglich.

Letztendlich wird das Vorliegen einer (erheblichen) psychischen Erkrankung beim Antragsteller auch durch die Antragsgegnerin nicht in Frage gestellt. Soweit sie darauf hinweist, dass bei psychisch kranken Ausländern, deren auf Asyl- und Abschiebungsschutz gerichtetes Begehren erfolglos geblieben sei, erfahrungsgemäß gerade keine Umsetzung von Suizidabsichten zu befürchten sei, vermag dies nicht die anderslautenden, detaillierten Ausführungen in den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen zu widerlegen.

Die Antragsgegnerin hat mit Schriftsätzen vom 15. Juni 2001 und vom 24. Juni 2011 zu den Modalitäten der beabsichtigten Abschiebung Stellung genommen. Danach werde die Reisefähigkeit zeitnah zur vorgesehenen Abschiebung noch einmal überprüft. Auch solle die Abschiebung unter ärztlicher Begleitung und gegebenenfalls auch mit Beamten der Bundespolizei erfolgen. In Bulgarien werde der Antragsteller den dortigen Behörden übergeben, damit er nicht unbeaufsichtigt sei. Ferner werde durch eine medikamentöse Behandlung (auch) den Suizidgedanken entgegen gewirkt, so dass es zu einer Selbsttötung nicht kommen könne.

Die seitens der Antragsgegnerin beabsichtigten Maßnahmen dürften ausreichend sein, um der Gefahr einer Selbsttötung im Rahmen der Abschiebung selbst wirksam begegnen zu können. Insbesondere durch die ärztliche - und gegebenenfalls polizeiliche - Begleitung dürfte gewährleistet sein, dass der Antragsteller an etwaigen Suizidversuchen effektiv gehindert werden kann.

Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 29. November 2010 - 18 B 910/10 -, a.a.O.

Die Abschiebung ist jedoch vorläufig auszusetzen, weil nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass dem Antragsteller aufgrund seiner Erkrankung bei der Ankunft in Bulgarien erhebliche Gesundheitsgefahren drohen, weil es an der erforderlichen, unmittelbar nach der Ankunft einsetzenden Versorgung und Betreuung fehlt. Von der Schutzpflicht der Ausländerbehörde ist es umfasst, aufgrund des Betreuungsbedarfs drohende Gefahren solange auszuschließen, bis die Versorgungssysteme im Zielstaat der Abschiebung greifen.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. November 2010 - 18 B 910/10 -, a.a.O.

Im Hinblick auf einen beim Antragsteller nach Ankunft in Bulgarien unter Umständen entstehenden Betreuungsbedarf in psychologischer Hinsicht ist derzeit nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin alles Erforderliche veranlasst hat, um ihrer Schutzpflicht zu genügen. Insoweit hat sie bislang lediglich dargetan, dass der Antragsteller den bulgarischen Behörden übergeben werde. Das reicht indes nicht aus. Vielmehr müsste mit den bulgarischen Behörden abgeklärt werden, welche Versorgungs- und Betreuungsmöglichkeiten unmittelbar bei einer Ankunft vor Ort im Hinblick auf die psychische Erkrankung des Antragstellers und vor allem im Hinblick auf etwaige Suizidhandlungen bestehen. Die Antragsgegnerin kann sich auch nicht allein auf den Hinweis zurückziehen, dass es vorliegend nicht um eine Abschiebung in den Heimatstaat (Sri Lanka), sondern in den EU-Staat Bulgarien gehe, welcher an die Richtlinie 2003/9/EG zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten gebunden sei. Dieser Hinweis greift schon deshalb zu kurz, weil die bloße Übergabe des Antragstellers an die bulgarischen Behörden diesen - schon in zeitlicher Hinsicht - keinerlei Möglichkeit lässt, sich auf die spezifische Situation, die mehr als eine bloße medizinische Notversorgung verlangen dürfte, einzustellen. Überdies entbindet die Festlegung der Mitgliedstaaten der EU auf gewisse Mindestnormen bei der Aufnahme von Asylbewerbern die in Deutschland zuständige Ausländerbehörde nicht von ihrer Schutzpflicht gegenüber dem Antragsteller und damit von der Verpflichtung, auch nach Ankunft in Bulgarien für eine unmittelbar einsetzende psychologische Betreuung zu sorgen bzw. sicherzustellen, dass eine solche durch die bulgarischen Behörden gewährleistet wird. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass - anders als möglicherweise im Heimatland - mit keinerlei Hilfestellungen durch Verwandte des Antragstellers oder sonstige Dritte gerechnet werden kann.

Soweit der wörtlich gestellte Antrag über den tenorierten Ausspruch (auch in zeitlicher Hinsicht) hinausgeht, hat er keinen Erfolg. Denn es ist derzeit nicht ersichtlich, dass es der Antragsgegnerin bis zum 12. August 2011 nicht möglich wäre, die Möglichkeiten einer gebotenen psychologischen Versorgung des Antragstellers in Bulgarien abzuklären und sicherzustellen.

Vgl. zur zeitlichen Begrenzung der einstweiligen Anordnung OVG NRW, Beschluss vom 29. November 2010 - 18 B 910/10 -, a.a.O.

Es wird noch darauf hingewiesen, dass eine Abschiebung auch nach dem 12. August 2011 nicht ohne Weiteres eingeleitet werden kann. Vielmehr ist die Antragsgegnerin mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG gehalten, dem Antragsteller rechtzeitig vor einer beabsichtigten Abschiebung zwar nicht unbedingt den Zeitpunkt, aber ihre Modalitäten (bezüglich einer Versorgung in Bulgarien) mitzuteilen, um ihm zu ermöglichen zu überprüfen, ob auch in psychologischer Hinsicht hinreichende Vorkehrungen getroffen wurden, und gegebenenfalls um gerichtlichen Eilrechtsschutz nachzusuchen.

Vgl. auch hierzu OVG NRW, Beschluss vom 29. November 2010 - 18 B 910/10 -, a.a.O.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG, wobei das Abschiebungsschutzbegehren mit der Hälfte des Auffangwertes bewertet wird und der insoweit angenommene Ansatz von 2.500,00 Euro unter Berücksichtigung des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens zu halbieren (=1.250,00 Euro) war.

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